Erinnerung
Es ist Nacht, leichter Nebel.
Menschenleer. Nur eine, in ihren langen, schwarzen Mantel gehüllte Frau, die
eiligen Schrittes, nach unten blickend, durch die Straßen einer Großstadt eilt; eine Zigarette in ihrem Mund, eine große, schwere Tasche in der einen, eine Zeitung in der anderen Hand.
An ihrem schnellen Gang, den hektischen Bewegungen, erkennt man, dass sie gestresst, wütend ist, keine Zeit hat.
Im Hintergrund die Geräusche einer Großstadt: Vorbeifahrende Autos, Hupen, weit entfernte Menschenstimmen, aus den offenen Fenstern dringende Musik, Gelächter.
Es beginnt zu regnen. Die Frau schaut nach oben. Weit entfernte Donnergeräusche, der Regen wird stärker. Er peitscht um ihr Gesicht. Es stürmt, ein dunkelgrauer Himmel. Sie flucht, versucht ihren Körper zu schützen, dem Regen zu entfliehen, sie will ihn nicht spüren, er passt nicht in ihre Welt. Ihr Schritt wird schneller, auf das Kopfsteinpflaster schlagen die Absätze ihrer Stiefel.
Ihre Augen suchen verzweifelt nach einem Ort, der außerhalb des Regens liegt.
Schon bald findet sie das rettende Vordach eines Hauses. Nun steht sie im Trockenen, blickt auf die nasse Straße. Was hinter ihr ist, sieht sie nicht. Sie flucht, wartet nervös auf das Ende des Regens.
Nach einer Weile sinkt sie erschöpft auf der Treppe des Hauses nieder.
Sie senkt ihren Kopf. Als sie wieder aufschaut, ihr Gesicht im Schatten und zur Seite blickend, entdeckt sie neben sich ein Schaufenster. Dahinter lauter Gegenstände einer anderen, längst vergessenen Zeit, leuchtende Lampen im Jugendstil, alte Uhren und Aschenbecher, Porzellanfiguren und nostalgische Werbeschilder; alles verlorene Erinnerungen.
Sie sitzt auf der Treppe zur Eingangstür eines Trödelladens.
Doch nur ein Gegenstand fesselt ihren Blick. Wie gebannt starrt sie ihn an. Alles um sie herum verschwimmt, wird unscharf. Nur sie und diese Murmeln, diese leuchtenden, buntfarbenen Murmeln. Hunderte von ihnen in einer Glasschale.
Sie schließt die Augen, denkt zurück. Ihre Gedanken verlassen diese Welt, diesen Moment, werden zu Bildern ihrer Kindheit.
Sie sieht dieses kleine Mädchen, das lacht, im Regen spielt, frei ist, ein Mädchen voller Liebe, voller Erwartungen und Zuversicht, voller Vertrauen, das ihr heute fremd ist.
In ihren Augen: Tränen.
Das erste Mal erhebt sie ihr Gesicht hinaus aus dem Schatten, das erste Mal erkennt man ihre Züge genau. Auf ihren Lippen fast ein Lächeln.
Sie blickt die Strasse entlang. Kein Mensch. Keine Stimmen. Für einen Moment absolute Stille. Die ein- und ausströmende Luft ihres Atems.
Sie beobachtet die Wassertropfen, die weich fallen, streckt ihre Hand hinaus in den Regen, spürt die angenehme Kälte, die Nässe.
Ihr Blick wandert hinauf in den Himmel, der noch immer grau, fast schwarz ist und voller Wolken, die doch den Mond nicht verdecken, den durch den Regen verschwommenen Mond.
Wie lange hat sie nicht mehr in den Mond geschaut? Wie lange nicht mehr den Regen gespürt? Die Stille genossen?
Sie erinnert sich an Sommerabende, an denen sie als Kind, auf dem Dach des Hauses ihrer Eltern liegend, stundenlang in den Himmel schaute, der hoch über ihr und so weit entfernt langsam dunkel wurde und nachts zu leuchten begann.
Oft schlief sie darunter ein und wurde erst spät in der Nacht ins warme Bett getragen, auf den Armen ihres Vaters, der sie sanft zudeckte, ihr einen Kuss auf die Stirn gab und leise das Zimmer verließ.
Dies und die leuchtend blauen Augen ihrer Mutter sind die letzten Bilder, die sie mit ihrer frühen Kindheit verbindet.
Als sie sieben ist, sterben beide Eltern. Weinend steht sie mit ihrer Großmutter am Grab.
Jede Nacht dieselben Träume, dieselben Ängste. Die letzten Jahre ihrer Kindheit sind geprägt von Trauer, dem Gefühl, verloren zu sein, der Hilflosigkeit.
Sie schirmt sich ab, baut eine Mauer gegen ihren Schmerz, vertieft sich in die Welt des Lernens, lässt keine Nähe mehr zu. Sie studiert, kann oft nicht schlafen, sitzt nächtelang über Lehrbüchern und verliert sich in Formeln, in Daten, in Theorien.
Sie lebt nicht, sie überlebt.
Später widmet sie all ihre Zeit der Arbeit. In den Stunden, die übrig bleiben, versucht sie, die Stille, die Einsamkeit mit Geräuschen und Menschen zu füllen.
Doch nun sitzt sie da. Es gibt nur sie und den Regen und die Stimme des Windes.
Und sie ist wieder Kind, wieder das siebenjährige Mädchen, das wiederfindet, was jahrelang verloren war: Das Gefühl, die Welt und sich als Teil von ihr zu spüren, die Sehnsucht, sich dem Leben hinzugeben, sich hinein fallen zulassen mit der Gewissheit aufgefangen zu werden. Für einen Moment ist sie wieder frei, wieder voller Vertrauen in die Welt, fähig ihre Schönheit zu sehen.
Sie weint, ein stilles Weinen, das sich in den dunklen Straßen der Stadt verliert.