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Erinnerungen an meine Mutter
Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir die Hände wusch. Zusammen standen wir im Badezimmer am Waschbecken. Ich auf einem Schemmel, denn nur so konnte ich den Wasserstrahl erreichen. Meine Mutter beugte sich über mich, gab mir einen flüchtigen Kuss aufs Haar und liess das Wasser so lange laufen, bis es eine angenehme Temperatur hatte. Nicht zu heiss, nicht zu kalt. Ich spürte ihren warmen Körper und diese Berührung war mir vertraut. Sie nahm die nach Rosen duftende Seife in die Hand und massierte meine kleinen Hände sanft und gründlich mit dem Schaum der Seife ein. «So, mein Schatz, jetzt spülst du die Hände, bis der Schaum ganz weg ist.», sagte sie lächelnd. Dann drehte sie mir den Rücken zu und nahm ein Frottiertuch aus dem Schrank. Ich fuhr mit der Hand so schnell unter dem Wasserstrahl hin und her, dass Wassertropfen in alle Richtungen spritzten. Innert kürzester Zeit waren nicht nur meine Hände, sondern auch mein Gesicht und der Pullover nass. Ich kicherte und meine Mutter schimpfte, als sie mir den Pullover auszog. Doch dann lachte sie mit mir, verstrubelte mein kurzes Haar und kniff mich liebevoll in die Pausbacken. Zusammen gingen wir aus dem Badezimmer, ich wie immer ununterbrochen plappernd.
Diese Erinnerung ist mir kostbar, denn kurze Zeit später starb meine Mutter. Von einem Moment zum anderen war sie weg und nicht nur sie, sondern auch mein Vater. Ich verstand damals nicht, weshalb so viele Menschen im Haus waren am Tag, als sie starb. Meine Tante nahm mich an der Hand. «Komm, gehen wir in dein Zimmer und spielen zusammen.», sagte sie und ich freute mich, denn sonst hatte sie nie Zeit, mit mir zu spielen. Als wir die Treppe hinaufgingen, sah ich meine Grossmutter, die auf dem Sofa im Wohnzimmer sass und weinte. Ich blieb stehen, denn es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah. Ein Polizist, der mit anderen Polizisten ins Haus gekommen war, brachte ihr ein Glas Wasser. Er blickte zu mir herüber und schüttelte den Kopf. «Armes Kind!», hörte ich ihn murmeln.
An diesem Tag wusste ich nicht, dass ich meine Mutter nie mehr sehen werde, und diese Ahnungslosigkeit war ein Segen. Meinen Vater sah ich nur noch einmal, als meine Grossmutter mich mitnahm, um ihn im Gefängnis zu besuchen. Ich fand den Besuch unangenehm und verstörend, denn dieser für mich fremd gewordene, weinende Mann umarmte und küsste mich und flüsterte mir ins Ohr: «Es tut mir so leid, Kleines.» Viele Jahre später, als ich bereits erwachsen war, suchte er den Kontakt zu mir. Doch ich wollte nichts von ihm wissen. Ich hatte gelernt, ohne Eltern auszukommen.
Wenn ich jetzt an meine Mutter denke, stelle ich mir vor, wie ich ihre alt gewordenen Hände halte, die arthritisch verknorpelt und mit Altersflecken übersät sind. Wie ich für sie da bin, wie sie für mich da war, solange sie konnte. Vielleicht würde ich mit ihr spazieren gehen oder ihr im Haushalt helfen. Und wenn ich solche Gedanken habe, bedaure ich, dass wir die vielen kleinen und grossen Momente, die das Leben ausmachen, nicht haben teilen dürfen.
Ein Gedanke quält mich. Bis heute weiss ich nicht, ob sie einen schnellen Tod hatte oder leiden musste, denn ich habe mich nie getraut, danach zu fragen und jetzt gibt es niemanden mehr, der die Antwort darauf weiss. Also versuche ich, nicht daran zu denken, so wie ich dies bereits mein ganzes Leben gemacht habe.