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Ernas Verschwinden

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16.06.2002
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Ernas Verschwinden

Besteck klimperte gegen Teller und Schalen aus feinstem weißem Porzellan. Elegant in schwarz uniformierte Kellner schenkten Wein nach. Erna saß neben ihrem Mann Ulrich, seine Geschäftspartner ihnen gegenüber. „Das Osso bucco ist hier exquisit", versuchte er lächelnd die ihm Gegenübersitzenden auf Englisch mit Wiener Akzent in ein Gespräch zu verwickeln. Die Angesprochenen waren kaum daran interessiert. Ulrich sah seine Möglichkeiten, mit seinen amerikanischen Partnern noch ins Geschäft zu kommen zusehends schwinden. Erna saß gelangweilt bei Tisch und stocherte lustlos in ihrem Kalbsbraten, schnitt einen Streifen vom Fleischstück und führte ihn zum Mund, kaute ihn dann langsam und ohne den leisesten Ausdruck des Genusses. Die Amerikaner blickten ernst und abweisend, schürzten die Oberlippe als ihnen der Hauptgang, Rind in Trüffelsoße serviert wurde. „Die ist eines der besten Lokale hier in Mailand", versuchte Ulrich die Runde ein wenig aufzulockern. Doch seine Gesprächspartner starrten nur missmutig auf die dampfenden Teller, die man mit hurtiger Eleganz vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte. Einer der beiden verlangte nach Pommes frites. Ulrich schluckte, deutete verlegen lächelnd auf den Korb mit frischem, knusprigem Weißbrot. Der Amerikaner rief den Kellner, stammelte aus seinem kleinen Sprachführer „batatine fritte". Der Kellner wurde bleich, konnte nur ein abgehacktes „mi dispiace" hervorstammeln und verneigte sich. „Ach, es tut mir Leid, hier macht man keine Pommes frites, alles noch sehr traditionell hier, Sie verstehen". Ulrich wurde zusehends unbehaglich. Hatte man ihn doch in der Konzernzentrale angewiesen, mit ihnen um jeden Preis das Geschäft abzuschließen, den Termin mit den Amerikanern, die wegen anderer Verpflichtungen in Mailand weilten, vereinbart und nun saßen sie da, übermüdet, angewidert und gelangweilt, hatten die Anweisung, sich die Vorschläge anzuhören und in jedem Fall abzulehnen. „Du liebst doch das Ponte d’Oro, stimmt’s Erna", wandte er sich seiner Frau in seinem unverkennbar gefärbten Englisch zu. Erna nickte. Die Szene war ihr zuwider, alles war ihr zuwider. Das Essen, ihr Mann, seine Geschäftspartner, die ganze Reise, ihr Leben als Ulrich Hermanns Frau. Halblange Ärmel eines dunkelblauen Kleides aus dem Hause eines Modeschöpfers verdeckten die Blutergüsse, die Ulrich ihr zugefügt hatte, als er wieder einmal einen seiner Wutanfälle bekommen hatte. Wenn die Geschäfte nicht gingen, wenn die Konzernzentrale Druck ausübte, bekam er zu Hause Wutanfälle, die er an Erna ausließ. Erna entschuldigte sich, dass sie Kopfschmerzen habe, ins Hotel zurück müsse. Ulrich runzelte die Stirne, Blitze trafen sie aus seinen Augen. „Jetzt bleib doch, siehst du nicht, dass die gelangweilt sind, wie sieht denn das aus!", fauchte er ihr auf Deutsch zu. Sie setzte ein gekünsteltes Lächeln auf, erhob sich vom Tisch und verließ das am frühen Abend beinahe menschenleere Lokal.

Leichter Nieselregen benetzte das Straßenpflaster. Die Neonreklamen und Straßenlaternen schimmerten undeutlich aus dem Abendnebel hervor. Ernas Schuhabsätze klopften gegen das nasse Straßenpflaster. Sie kramte in ihrer Handtasche. Zweihundertausend Lire und noch ein paar Schillingscheine hatte sie bei sich. Sonst hatte sie nur ihre Kleidung, den Pelzmantel und das goldene Armband, das sie immer trug. Ziellos lief sie durch die nasskalte Stadt, an Auslagen, Garageneinfahrten, Bars und Cafés vorbei. Manchmal blickte sie zu den Häusermauern auf, las die Straßenschilder. Ihre Füße schmerzten.

Sie hatte Ulrich einmal geliebt, doch hatte sie sich in ihm arg getäuscht. Er warb um sie. Sie ließ sich umwerben und heiratete ihn, noch bevor sie ihr Romanistikstudium in Italienisch fertig gemacht hatte. Ulrich dachte nur an seine Karriere, auch als er Erna heiratete. Erna war sehr hübsch, gebildet, ein perfektes Aushängeschild. Erna spielte mit, bezahlte mit seiner Kreditkarte. Nach außen hin waren sie das vollkommene Paar. Zu Hause sah es anders aus. Zu Hause war es kalt und eisig, da war kein Platz für Liebe. Ernas Eltern waren auch glücklich, wurden beneidet von den Bekannten und Nachbarn, weil Erna so eine „gute Partie" gemacht hatte, eine hohe gesellschaftliche Stellung erheiratet hatte. Ja, Ernas Eltern waren hochzufrieden. Ulrichs Augen waren eisig blau, berechnend. Ernas Augen waren glanzlos und müde. Ulrich bekam Wutanfälle, ihm gefiel es, wenn seine Untergebenen vor ihm zitterten. Er war schlau, gewieft, konnte andere austricksen. Dadurch ging es hoch hinauf mit seiner Karriere. Erna sah dabei zu und wurde stumpfer. Sie ließ sich Tabletten verschreiben, von einem teuren Privatarzt, zum Einschlafen und wenn sie nervös war.

Erna bog in eine Seitengasse ein. In einem Trödelladen brannte noch Licht. Erna klopfte an die Auslagenscheibe. Missmutig öffnete ein älterer, schäbig gekleideter Mann die Türe. „Wir haben schon geschlossen", pfauchte er. „Ich will etwas verkaufen", stammelte Erna schüchtern. Er winkte sie ins Geschäft. „Und was?" Der Mann ging hinter den Ladentisch und stopfte das Geld der Tageslosung, das er zuvor eifrig gezählt hatte, in die Kasse. „Was ich an habe." Der Mann seufzte, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich bin zu müde für diese Scherze", meinte er und bat Erna, das Geschäft zu verlassen. Sie blickte ihn flehentlich an. „Mein Pelzmantel, ist der vielleicht nichts?"„Ich brauche Geld und etwas bequemeres!" Er maß Erna mit seinen Blicken von oben nach unten. Sie zog ihren Pelzmantel aus. „Sehen Sie doch, der ist echt!" Der Mann nahm den Mantel, betrachtete ihn, blies in die feinen Haare des Fells und pfiff durch die Zähne. „Fünfhunderttausend Lire für den Pelzmantel." „Der Mantel ist ein Nerz!" Erna versuchte etwas mehr herauszuschlagen. „Fünfhundertfünfzigtausend, ein paar alte Sachen dazu." Erna erklärte sich einverstanden, obwohl sie wusste, dass der Kauz sie übers Ohr gehauen hatte. Sie bat ihn, ob sie sich nicht wo zurückziehen könne, um sich umzuziehen. Er wies sie in eine Hinterkammer. Sie verschwand hinter der Türe, zog das Kleid aus, nahm sich das Armband vom Handgelenk und knüllte das Kleid zusammen. Er warf ihr zwei paar Jeans, drei alte T-Shirts, einen Pulli und eine schmierige Daunenjacke in das Hinterzimmer, wobei er, als er die Tür öffnete, es nicht wagte hineinzusehen. Erna zog sich die Sachen an, trat heraus und bat noch um ein paar Schuhe, da sie mit ihren nicht mehr lange gehen könne. Er gab ihr ein paar ausgetretene Tennisschuhe. Erna wollte ihm auch das Armband verkaufen, doch er lehnte, seinen Zeigefinger hin und herschwenkend, ab. „Schmuck nehm ich nicht!" Er zählte das Geld und gab es ihr. Als sie den Laden verließ, schüttelte er den Kopf. „Es gibt bald nur mehr Verrückte", sagte er zu sich selbst und fuhr mit einer Bürste durch den feinen Flaum des Pelzmantels. „Schönes Stück", grummelte er, „ein wahrhaft schönes Stück!"

Erna fuhr zum Hauptbahnhof, das Geld zusammengerollt in ihrer Hosentasche, die zweite Hose, das Kleid, die hochhackigen Schuhe und die T-Shirts in einer Plastiktüte. Sie stellte sich in eine der Warteschlangen vor den Fahrkartenschaltern, ließ ihre Augen durch die Halle schweifen, die übermächtigen Basreliefs entlang, zu den Rolltreppen und den dicken, groben Säulen. „Bitte", dröhnte die gelangweilte Frauenstimme hinter dem Schalter durch das Mikrofon. „Ahm", Erna wusste nicht recht, was sie nun tun sollte. „Bitte sagen Sie’s schon", die Frau hinter dem Schalter wurde ungeduldig. Erna fummelte mit den Fingern an den Henkeln der Plastiktüte. Sie hielt inne. In der Reihe vor dem Schalter daneben unterhielt sich eine Gruppe Jugendlicher über eine sizilianische Fußballmannschaft. „Catania, einfach zweite Klasse", krächzte Erna schließlich. „Platzreservierung? Liegewagen? Fährenplatz?" „Nein." „Für wann?" „Heute" „Geht in zwei Stunden, umsteigen in Rom, den Fährenplatz ab Villa San Giovanni muss man reservieren." „Reservieren Sie, egal was!" Erna erhielt ein Bündel Fahrkarten und das Wechselgeld durch die kleine Drehscheibe.

Siebzehn Stunden lang wurde Erna in vollgepferchten Zügen durchgerüttelt, bis sie schließlich auf der Fähre saß. Der Wind auf dem Deck des Schiffes war für Ende Februar angenehm warm. Erna fuhr sich durch ihr mittlerweile ein wenig fettig gewordenes Haar, atmete die Meeresluft tief ein, schloss dabei die Augen. Die Überfahrt dauerte nicht lange. In Messina musste sie nochmals einen überfüllten Zug besteigen und nach kurzer Zeit war sie an ihrem Ziel. Erna wusste nicht so recht, was sie nun anfangen sollte, spürte nur die lauwarme Luft an ihrem Körper. Die Jacke und den Pullover hatte sie im Plastiksack verstaut. Die Geldscheine vorsichtig zusammengerollt in ihre Socken gestopft. Nun ging sie durch die sonnige Stadt. Buntes Treiben herrschte überall. Das Brummen der Vespas, der Lärm der Autos. Wie lange würde sie wohl mit dem Rest des Erlöses ihrer verkauften Sachen auskommen? Wohin sollte sie eigentlich gehen? Erna machte sich dann keine Gedanken mehr darüber, lächelte und überließ sich ihrem Schicksal. Nichts war ihr wichtig. Ihr altes Leben schien Jahre zurückzuliegen, obwohl nur eineinhalb Tage vergangen waren. Sie traf auf eine große Straße mit breiten Bürgersteigen. Feinste Waren lagen in den großen Auslagen ausgestellt. In den Straßencafés saßen die Menschen, gestikulierten, rauchten, lachten, tranken. Erna betrachtete die Häuser, mit den weiß und manchmal grün gestrichenen Fensterläden, die Markisen aus Holzverstrebungen, die mit verspielten barocken Figuren verzierten Mauern, die mächtigen Tore, an welchen sich kunstvoll geschmiedete Weinreben, Arabesken und zierliche Blumenranken emporwanden. Die Luft roch nach Benzin und Meer. Die Stimmen klangen weich, sangen unentwegt. Ein fröhlicher, leichtfüßiger Tanz fand rund um sie statt.
Erna ging weiter bis zum Domplatz. Sah auf einem Sockel, den schwarzen Elefanten mit blitzweißen Stoßzähnen, der einen Obelisken auf seinem Rücken trug. Die zierlichen Türmchen, die vom Portal des Domes nach oben ragten. Das Haupttor aus dunklem Gusseisen, die Heiligenfiguren, die Säulen mit Kapitellen aus steinernen, weißen Akanthusblättern, die runden Fenster. Alles war verspielt und leichtlebig, schien schwebend sich im Rhythmus einer heiteren Melodie zu drehen. Erna setzte sich auf den Rand des Bürgersteiges, sah zu, wie sich alles um sie bewegte.

Den ganzen Tag ging sie beschwingt durch enge, schattige Gassen, kam an Plätzen mit Springbrunnen vorbei, an barocken Palästen. Das Licht war angenehm, nicht zu stechend, frühlingshaft. Die Bäume hatten schon ihr erstes, zartes Grün. Stundenlang lief Erna durch die Straßen und Gassen. Vor dem Bellini-Theater setzte sie sich erschöpft auf eine Bank, betrachtete die großen grünen Fächer, die von den Stämmen der Palmen herausragten, die weißen Adler aus Marmor, die mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Dach des Theaters saßen, die Fassade mit den Bogenfenstern, über welchen die Büsten berühmter Komponisten aus kleinen, ovalen Erkern auf die Betrachter herabsahen, die halbrunde Dachfront, der von einer geflügelten Frauenfigur und zwei sitzenden Musen aus weißem Marmor bewacht wurde.

Als es dunkel geworden war, nahm Erna ihre Jacke aus der Plastiktüte, legte sich auf die Bank und breitete die Jacke über sich. Die Tüte mit der Hose und dem Pulli legte sie sich als Kissen unter ihren Kopf. „Schön ist es hier", dachte sie, bevor sie einschlief.

 
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Hallo Echnaton!

Ich finde Deine Geschiche gut geschrieben, sie läßt sich also gut lesen und hat mir im Prinzip auch gefallen. Wenn ich sie mir allerdings durch den Kopf gehen lasse, finde ich sie arg konstruiert, der Inhalt scheint mir eher sehr unglaubwürdig.

Daß ein wiener Geschäftsmann sich mit Amerikanern nicht in Wien sondern in Mailand trifft, geht gerade noch. Daß die aber nicht einmal mit ihm reden wollen, klingt schon mal sehr seltsam.

Das nächste Unglaubwürdige stellt für mich der Trödler dar, zumindest so, wie Du ihn beschrieben hast.
Wenn er schon beim Zusperren ist, macht er nicht noch einmal auf, weil jemand sagt "Ich will etwas verkaufen". Da müßte sie ihn schon gekonnter überreden. Außerdem würde er ihr das Kleid nicht abkaufen, weil er sicher nur gereinigtes Gewand kauft - der holt sich doch nicht die Motten ins Geschäft... ;)

Und schließlich würden sich mit dem Geld vielleicht die Fahrkarten ausgehen, aber so viel, daß sie noch zum Überlegen kommt, wie lange sie mit dem Geld auskommt, glaub ich nicht, daß da noch übrig bleibt...

Ein paar Anmerkungen hab ich noch:

"„Das Osso bucco ist hier exquisit", lächelte er die ihm Gegenübersitzenden auf Englisch mit Wiener Akzent an."
- würd ich gern mal sehen, wie man auf Englisch mit Wiener Akzent lächelt... :lol:

"wandte er sich seiner Frau in seinem unverkennbar gefärbtem Englisch zu."
- in seinem unverkennbar gefärbten Englisch

"ihm gefiel es, wenn seine Untergeben vor ihm zitterten."
- seine Untergebenen

"Ernas Augen waren abgestumpft.
...
Erna sah dabei zu und wurde stumpfer."
- vielleicht bringst Du ein stumpf weg?

"Er Maß Erna mit seinen Blicken"
- Er m

"Basreliefs"
- welche Reliefs? :shy:

"Der Wind auf dem Deck des Schiffes war angenehm warm, obwohl es erst Ende Februar war."
- Was hältst Du von "Der Wind auf dem Deck des Schiffes war für Anfang Februar angenehm warm"?

"Buntes treiben herrschte überall."
- Buntes Treiben

"Dann noch essen.."
- essen..."

"an welchen sich kunstvoll geschmiedete Weinreben, Arabesken, zierliche Blumenränke emporwanden."
- würde nach Arabesken "und" oder "sowie" schreiben
- Mz. von Blumenranke ist Blumenranken

"Die Luft roch nach Benzin und Meer."
- Das hat Rainer auch in seiner Geschichte, daß es nach Benzin duftet... Aber warum sollte es denn nach Benzin richen? Meinst Du vielleicht die Abgase? (Das würde allerdings ja nicht in die schöne Beschreibung passen...)

"Die Tüte"
- Du als patriotischer Wiener schreibst "Tüte"??? :eek:

"dachte sie bevor sie einschlief."
- sie, bevor

Alles liebe,
Susi

 

Servus Häferl,

zunächst mal danke fürs Lesen und die Kritik! Hab jetzt noch eine Passage eingebaut, damit's glaubwürdiger wird. Die Fehler hab ich auch korrigiert.

Ich hab übrigens schon Sachen verkauft, da würd's Dir die Haar aufstellen :) Die Tauchzentrale, z.B. ist sehr heikel, ich glaub die lassen das sogar extra noch putzen, bevor sie's ins Geschäft tun. Bei anderen Second-Hand-Tandlern wird auch ohne Reinigung allerhand angenommen, vor allem Oberbekl. Sachen, die man schlecht waschen kann und putzen lassen muß.

Ich weiß nicht in Italien riechen die Auspuffgase wirklich mehr nach Benzin als hier. Ist echt komisch, aber irgendwie hab ich immer so den Eindruck gehabt.

Danke fürs Lesen

liebe Grüße

Echnaton

 

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