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Erstes Mal
Wehe denen, die uns zum Kampf zwingen! Paris liegt keine vierzehn Tage von Mainz entfernt. Eine schnelle Sache. Ein Monat hin und zurück, plus zwei oder drei Wochen, um die Pariserinnen kennenzulernen: Zur Lesezeit wären wir wieder da.
Hatte ich gedacht! Außerdem … ein Handgeld von sechs Gulden!
Am 31. August zogen wir unter dem Jubel des Volkes und dem Geläute der Kirchenglocken ins Feld. In der Stadt kursierten Gerüchte, der König von Preußen hätte Logen in der Opéra reserviert. „Uns erwartet der Ruhm!“, brüllte mein Kamerad Zollner beim Verlassen des Gautors.
Während des Marsches änderte sich bald der Ton. Es war die Rede von einer Armee fünfmal so stark wie die unsere. Sie besäße viermal so viele Kanonen wie wir. In den Augen unseres Obersts sollte dies nicht weiter schlimm sein. Es rumorte, er hätte sich sogar über die Anzahl ihrer Kanonen gefreut, da er damit rechnete, wir würden sie erbeuten.
Unsere Route folgte dem Rhein, der über die Ufer trat und wie ein Spiegel glänzte. Nach vier Tage waren wir in Speyer.
Die Proviantwagen waren zurückgegangen, die Munitionswagen waren vorgerückt, um halb zwölf ging es richtig los. Die Franzen fingen an, von der etwa hundert Ruten vor unseren Linien gelegenen Batterien heftig zu feuern. Unser Hauptmann verließ seinen Platz hinter der Kompanie, um sie besser zu beobachten. Er richtete sich in den Steigbügeln auf … Der Schuss eines Vierpfünders riss den Knauf seines Sattels weg, an dem seinen Rosenkranz hing, ohne ihn oder sein Pferd zu berühren. Sein Wallach bäumte sich auf und warf ihn fast um.
Während ich auf die feindlichen Kanonen blickte, feuerten sie eine Salve ab. Für eine halbe Sekunde war mir, als sähe ich einen dunklen Punkt, der sich in der weißen Wolke abzeichnete. Ich zog instinktiv den Kopf in die Schultern. Das Geschoss flog schrillend vorbei. So nah, dass mir für ein paar Sekunden Hören und Sehen vergingen. Die Vibration des Bodens breitete sich in meinem ganzen Körper aus.
Der heftige Luftstoß hatte mich zu Boden geworfen. Ich war wie betäubt, aber meine Sehkraft kehrte zurück. Nachdem ich mich aufgerafft hatte, tastete ich meinen Kopf ab, kontrollierte meine Arme, meinen Bauch, meine Beine. Alle meine Glieder zitterten. Unversehrt! Nichts! Der Rausch des Überlebens löschte alle anderen Gefühle aus.
Gegen drei Uhr kamen zwei dichtgeschlossene Heersäulen mit wehenden Trikoloren aus dem Wald. Es drohte schlimm zu werden …
Es wurde schlimmer. Die Sansculotten, die zahlreicher als die Fliegen im Schlachter waren, umschwirrten uns von den Flanken her und rückten langsam näher. Ich grübelte darüber, wie viel von uns am Abend noch leben, als das Rückzugsignal gepfiffen wurde.
Endlich eine Pause. Wir hatten seit Beginn des Einsatzes keinen Tropfen getrunken und meine Kehle war von dem beißenden Rauch des Pulvers ausgetrocknet. Kaum hatte ich meine Feldflasche herausgeholt, dass schon der Befehl fiel: „Reinigung der Waffen!“ Ihre Läufe müssen nach etwa fünfzig Schüssen gesäubert werden. Aber wie? Wir hatten nichts, weder Lappen noch Leinöl.
„Zeig es ihnen, Weigand!“, ordnete der Hauptmann.
Weigand, ein altgedienter Soldat, ließ uns einen Halbkreis bilden, stellte sich in die Mitte und knöpfte seinen Hosenlatz auf. Er legte auf diese Weise eine sechs Zoll breite Öffnung an der Vorderseite seiner Hose frei:
„Den Körper leicht nach vorne neigen. Den Kopf in Verlängerung des Oberleib...“
Plötzlich brach er ab: „Achtung!“, schrie er (Zollner hatte gerade Wasser so heftig gelassen, dass die Schuhe des Veteranen Spritzer abbekamen.) „Es kommt nicht auf die Stärke des Strahls an, sondern auf seine Zielgenauigkeit!“
Der Vorgang verlangt Sorgfalt und Umsicht. Trotz einem hohen Maß an Konzentration tropfte die Flüssigkeit um den Lauf meiner Flinte herum, auf den Riemen, auf den Schaft; ich benetzte den Ärmel meines Kommissrockes und meine linke Hand, die das Gewehr hielt …
Gerade war ich dabei, meine Gamaschen zu bepissen, als uns eine heftige Explosion überraschte und uns drängte, unser Instrument wieder in unsere Hose zu packen. Im Nu hatten wir den Latz wieder zugeknöpft.
Es mochte sechs Uhr gewesen sein, als die Batterien verstummten. In diesem Moment stürzte sich ein Zug vom Bataillon Toskana-Dragoner in den Rheinarm und ergriff die Flucht.
„Wir laufen ihnen nach!“, schrie Zollner.
Es gab ein heilloses Durcheinander. Ich watete ein paar Schritte durch das Wasser.
Die süße Hoffnung, in den Morast Zuflucht zu finden, verging sobald Zwölf-Pfund-Kugeln pfeifend über unsere Köpfe hinflogen, die uns zwangen, in die Kniebeuge zu gehen. Sie fielen wenige Ruten vor uns in Fontänen aus stinkendem Schlamm. Ich war durchnässt. Die Sache war zu brenzlig, um meine Empfindungen weiter zu erforschen. Jemand zog mich am Ärmel meines Rockes. Es war Weigand:
„Wir haben den Befehl erhalten, ans Ufer zurückzukehren. Wir haben uns ergeben!“, flüsterte er mit einer von Emotionen verzerrten Stimme.
Bittere Tränen rollten ihm über die Wange; hinter uns schlugen Tamboure die Schamade, die den Waffenstillstand ankündigt.
Wie schlafbenommen warfen die Kadetten unserer Kompanien ihre Fahnen zu Boden. Der Wind hatte sich gelegt und der Abendnebel stieg auf. Der fade Geruch von verrottetem Blut stagnierte und vermischte sich mit dem des Schießpulvers, das noch in der Luft schwebte. Nachdem wir die Hähne unserer Büchsen abgeschraubt hatten, traten wir den Rückweg nach Speyer an, den Blick auf unsere Schuhspitzen geheftet. Hinter uns trommelten die Franzen einen feierlichen Rigaudon auf ihren Ziegenfellen. Ohne es zu wollen, passten wir unseren Tritt dem Takt ihrer Musik an.
„Sie spielen uns den Kehraus!“, sagte Zollner.
Das Regiment Kurmainz hatte kapituliert; wir waren in Gefangenschaft geraten ... Es war acht Uhr abends am 30. September im Jahr des Herrn 1792; unser Feldzug hatte lediglich einen halben Tag gedauert!
An diesem Montag waren wir keine Soldaten mehr. Unser Regiment war nur noch eine Kolonne Gefangener, die sich auf einem von Pfützen durchfeuchteten Weg dahinschleppte. So weit ich sehen konnte, säumten französische Husaren unsere Route und beobachteten, wie wir durch den tief aufgelösten Lehmboden stapften. Fetter, klebriger Lehm, aus dem sich die Füße mit einem saugenden Geräusch herauszogen. An einer Weggabelung ließ man uns warten. Gerüchte liefen, die sich blitzschnell verbreiteten. Zum einen, dass wir nach Straßburg gebracht würden und dort unsere Ruhe hätten. Zum anderen, dass wir in der Festung Landau gehängt würden.
Nach einer Stunde setzte sich unser Tross wieder in Bewegung … gen Landau!
Wir wurden dort wie Freunde empfangen. Mit Kokarden und Erfrischungen!
Zwei Tage später trafen wir vor der Zitadelle Straßburg ein. Die Musik der Regimenter kam uns entgegen. Die berittene Gendarmerie gab uns das Geleit bis zur Rue de la Soupe à l'eau (Wassersuppgasse).
Ein Name; ein Versprechen.
Zelte und Kessel voll mit heißer Reissuppe warteten auf einer Esplanade vor einer Kaserne. Man hieß uns „Vive la Nation“ (es lebe die Nation) als Zeichen der Dankbarkeit rufen. Das taten wir auch gern. Drei Mal sogar! Die Franzen erfreuten sich an unseren Schreien so sehr, dass sie uns mit Schuhen und Tabak gratifizierten.
Über Colmar setzten wir unseren Marsch nach Langres fort. Die Gastfreundschaft der Einwohner dieser Stadt erwies sich weniger enthusiastisch; wir waren nicht mehr auf der Durchreise, sondern sollten bleiben. Unsere Brotration schrumpfte von Tag zu Tag. Ein paar Waffenbrüder erkrankten an Ruhr. Im säkularisierten Priesterseminar zu St. Geosmes wurden sie von einer ehemaligen Nonne gepflegt.
Sie hat sich auch um mich gekümmert...
Hierorts grassiert ein entsetzlicher Müßiggang. Bei unserer Ankunft am 14. Oktober hat der Dolmetscher uns erklärt, dass unser Tagessold nicht in klingender Münze, sondern in Assignaten ausgezahlt wird. Abends bei geschlossenen Toren durften wir uns in der Stadt austoben. Bis dato hatte ich vom höchsten Glück nur eine vage Ahnung; meine Unschuld war intakt. Das wertlose Papiergeld und das schlechte Beispiel von Zollner und Weigand kosteten mich diesen Schatz.
„Komm mit uns, die Französinnen werden dir das Alphabet der Liebe beibringen“, haben sie insistiert.
Das Etablissement auf dem neu umbenannten Place de la Fraternité (Brüderlichkeitsplatz), der von den Einheimischen immer noch Marché aux porcs (Schweinemarkt) genannt wird, erzielt seine Einnahmen während der Sperrstunde. Der Wirt bietet Rausch im Erdgeschoss und seine Frau, die aus dem Elsass stammt, Liebe in den oberen Stockwerken.
Zollner hatte mich am Fuß der Treppe, die in den zweiten Stock führt, Madame überlassen. Sie verlangte vierzig Sous, bevor ich mich eine ihrer Töchter aussuchen dürfte.
Sie hielt mich wohl für verschwenderisch oder sehe ich so naiv aus?
„Du! Ich bin kein Krösus. Zwanzig Sous, kein Heller mehr!“, sagte ich.
Nur ein paar Schritte entfernt, schäkerte Weigand mit zwei Schicksen, die mit hochgeschlagenen Unterröcken auf jedem seiner Beine saßen. Er hatte die Szene beobachtet. Lachend sprach er die Wirtin an:
„Gib ihm die Toinette!“
Als er sah, dass Madame einige Bedenken hegte, räumte er sie aus:
„Er hat noch das Ungestüm der Jugend!“
Er winkte mir mit der Hand zu:
„Geh hoch!“
Oben war ein finsterer Flur. Ich tastete mich langsam hinter der Wirtin vor, bis sie eine Tür öffnete und mich in eine Abstellkammer schob, die vom rötlichen Schein eines Wachslichtes erhellt wurde. Mamsell Toinette ignorierte meinen schüchternen Gruß und verrichtete ihre Waschungen über einer Schüssel, die zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand, ohne sich umzudrehen. Die Luft im Raum war von scharfen Gerüchen erfüllt. Sie besaß eine echte den Geruchssinn verletzende Konsistenz.
Mamsell trocknete sich lautlos im Schutze der Dunkelheit ab und kletterte auf das vergilbte Laken des Bettes. Sie schob ihr von erfüllten Begierden beflecktes Hemd bis zum Kinn hoch, legte sich auf den Rücken und zog ihre schlaksigen Schenkel an den Bauch. Mit gebeugten Knien öffnete sie ihre Beine, wie man ein Buch aufschlägt. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Alphabet zu lernen.
Es war schwierig, mich in den siebten Himmel abzuheben. Toinette, die ihren Kopf unter ihrem Hemd vergraben hatte, war nicht der Sorte, eine Befriedigung vorzutäuschen, die sie nicht empfand. Das Fazit lautet: eine oberflächige Wollust; eine Dreigroschenwonne; der Eindruck, eine Leiche vergewaltigt zu haben; aber zugegeben, eine Ekstase, die dem entsprach, was sie mich gekostet hatte … nicht mal 20 Kreuzer.
Vier oder fünf Tage nach dieser Initiation begann mein Spatz, mir Sorgen zu bereiten. Ein juckendes Gefühl an der Extremität. Vor allem beim Wasserlassen. Das Tunken des betroffenen Gliedes (in Wein, dann in einen Tabakabsud), das ich auf Zollners Anraten hin durchführte, brachte keine Linderung.
Seit den ersten Beschwerden hatte mir Weigand, der bei Madame in ständiger Angst vor der Franzosenkrankheit säbelt, das ultimative Allheilmittel des Militärs gegen den Tripper nahegelegt: gepfefferten Schnaps.
„Wehe! Oh wehe!“ ... Ein wahrhafter verrückter Einfall, Spatzen mit Pfeffer zu füttern! In meiner Not wandte ich mich an unseren Gefreiten um Hilfe. Der Gefreite erkundigte sich nach der Häufigkeit der Verhältnisse („Ein einziges Mal? Da musst du vom Pech gejagt werden!“) und der Farbe des Ausflusses (ursprünglich entengrün, war er mittlerweile kanariengelb) und stellte dann seine Diagnose:
„Das ist ein Fußtritt der Venus, wie Madame sagt. Geh zum Lazarett!“
Was ich auch tat.
Ich wurde in einem Zimmer untergebracht, das für diese besonderen Tritte reserviert ist. Dort beim Aufstehen und Zubettgehen bekam ich über eine Woche lang ein lauwarmes Sitzbad mit einer Tinktur aus Malvenblättern. Nach den morgendlichen Visiten eines Regiment-Chirurgus servierte mir die Schwester sechs Blutegel, als ob es sich um eine Delikatesse handeln würde, die ich nach der Waschung auf die gemarterte Stelle einsetzen sollte. Während fünf Minuten, die sich wie ein Jahrhundert anfühlten, hatte ich das Gefühl, mein Fleisch in Brennnesseln zu wickeln. Am Tag, nachdem ich mit der Behandlung begonnen hatte, beschwerte ich mich bei ihr über die Unannehmlichkeiten, die mir diese Therapie bereitete. Als Antwort zitierte sie – die Situation gnadenlos auskostend – einen Vers vorgeblich aus der Offenbarung des Johannes. Sie schien diese Stelle vor lauter Erwiderungen auf das Gejammer ihrer Patienten auswendig zu kennen:
„Die Könige der Erde, die mit Babylon Unzucht getrieben haben, werden weinen und klagen, nicht weil sie mit ihr gesündigt haben und vom Wein ihrer Hurerei betrunken wurden, sondern weil sie den Zorn Gottes spüren werden.“
Wie sehr habe ich den Zorn des Herrn gespürt! Aber die Entzündung ging zurück. Nach etwa einem Monat verschwand sie. Der Vater im Himmel hatte mir vergeben.
Ich schäme mich, es zu gestehen: Ich möchte es noch einmal ausprobieren … Vierzig Kreuzer reinstecken, um zu sehen ...
Einmal ist keinmal.