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Ertränkte Zukunft
Ertränkte Zukunft
Der Mann sieht älter aus als er ist. Wieder einmal hebt er das Glas zu den Lippen hoch nur um zu bemerken, dass es bereits leer ist. Er winkt die Bedienung zu sich: „Noch ein ein Schnaps!“.
Seit sein Sohn gestorben ist, kommt er öfter hierher. Früher war er manchmal zusammen mit seinen Freunden da, sie haben sich über den Tag unterhalten, die Arbeit, die Frauen…
Freunde! Gross reden sie, dann schwätzen sie sich davon, nach Hause zu Frau und Söhnen. Wäre mein Sohn noch am Leben, er hätte es ihnen allen gezeigt! Diesen studierten Schnösel. Studierte – und diese Schule von Juliet, so eine Frechheit, Geld, Geld, Geld, an nichts anderes denken sie, sollen sich mal um ihren Unterricht scheren! Dieser Direktor, der geht sicher nicht mit leerem Portemonnaie nach Hause!
Ein College ausserhalb Kampalas. Es ist bereits neun Uhr Nachts. Die Sonne ist schon seit zwei Stunden mit rotem Leuchten am Horizont verschwunden. Im Schlafsaal tönt monoton eifriges Gemurmel. Nur Juliet bindet gerade mit wässrigen Augen ihre Bücher zusammen und bündelt ihre Kleider. Sie muss die Schule verlassen. Noch heute Nacht. Ihr Vater habe das Schulgeld nicht bezahlt. Ganze 50‘000 Shillings würden fehlen von den vorschriftmässigen 300‘000 Shillings. Nicht eine Nacht mehr darf sie auf dem Campus verbringen. Ihr Vater, sie hatte ihn letzte Woche angerufen, angefleht. Er hat es mir doch versprochen… Meine Eltern wären so stolz auf mich, wenn ich als eine der Besten die Schule abschliesse. Ich könnte ein Stipendium gewinnen für die Uni. Und Jus studieren, Anwältin werden. Dann würde ich die Anliegen der kleinen Leute vor Gericht vertreten, damit auch sie eine faire Chance haben. Ich weiss ich kann es schaffen. - Und nun schicken sie mich nach Hause. - Mein Vater, warum hat er nicht bezahlt! Er hat es doch versprochen… Wie es wohl Mama geht, ich muss so schnell wie möglich zu ihr! Bestimmt hat er wieder zu viel getrunken, sie sucht ihn sicher schon vor Sorge.
Bald darauf steht Juliet an der unbeleuchteten Strasse und wartet auf einen Minibus oder einen Boda Boda um sie nach Hause zu bringen. Sie schaut die holprige Strasse hoch. Weit und breit kein Scheinwerfer zu sehen und kein Motorengeräusch zu hören. Nur das Surren und Zirpen der Zikaden. Geräusche der Nacht. Mit einem Minibus dauert es mindestend drei Stunden bis nach Mbale. Was, wenn keiner mehr kommt? Es ist doch schon viel zu spät für diese Strecke! Unruhig tritt sie von einem Fuss auf den andern, verscheucht Moskitos von ihren nackten Armen und schüttelt den Kopf wenn es ihr in den Ohren summt. Moskitos?
Da, endlich ein Motorengeräusch. Juliet stellt sich auf den Strassenbord und hebt ihren rechten Arm um auf sich aufmerksam zu machen. Sie feilscht mit dem Boda-Fahrer kurz um den Preis, dann setzt sie sich im Damensitz, die Beine elegant auf der rechten Seite übereinandergeschlagen, hinter dem Fahrer aufs Motorrad. Mit einer Hand hält sie ihre Siebensachen zusammen, mit der andern klammert sie sich hinten am Sitz fest. Zum Glück kennt sich der Fahrer gut aus auf der Strecke. Trotz dem kaputten Scheinwerfer gelingt es ihm geschickt die meisten Schlaglöcher auf der nachtdunklen Strasse zu umfahren.
Bald nähern sie sich der nächsten Stadt. Da ein Licht! Ein Knall! Quitschende Reifen brausen davon.
Frühmorgens, der schrille Klingelton seines Mobiltelefons sticht dem alten Mafabi wie Nägel durch seinen Schädel. Schon wieder diese Schule! Was wollen die jetzt wieder! „Die Polizei… angerufen zur Identifizierung… die Schuluniform… ihre Tochter, ein Lastwagen…“
Wenige Stunden später trifft der Alte mit einem hilfsbereiten Nachbarn am Ort des Unglücks ein.
Ein Boda Boda muss in der Dunkelheit mit einem schweren Fahrzeug zusammen gestossen sein. Eingetrocknetes Blut am Strassenrand. Zwei Körper. Die Glieder unnatürlich verrenkt, die Köpfe zur Unkenntlichkeit zermalmt. Heftseiten flattern in der Morgenbise.
Das ist nicht mein Kind, das kann nicht meine Tochter sein! Meine Tochter ist schön, sie ist ein gutes Kind, tut immer was ein Älterer ihr aufträgt und knickt höflich vor ihnen, sie tut nie etwas Schlechtes, arbeitet so fleissig, in der Küche, im Haus, lernt für die Schule,…
Der Nachbar geht zu ihm hin. Gibt ihm eine Heftseite: „Ist das die Handschrift von Juliet?“. Selbst liest er auf einem Umschlag; ‚Juliet Mafabi, Mathematik‘. Er hält den Atem an und blickt zum Alten, dieser geht langsam auf den leblosen Körper zu. Wortlos packen sie zusammen Juliets Leib in den Wagen. Dann beginnt der Alte sorgfältig die kleineren Fetzen vom Boden zu klauben, Gehirnresten und Knochensplitter. Er will seine Tochter ganz mitnehmen. Ich kann sie nicht hier lassen. Nichts von ihr. Nicht hier wo Leute auf ihr rumtrampeln würden, und Ameisen und anderes Getier sie auf offener Strasse zerlegten. Sie ist meine Tochter, sie gehört zu mir. Nach Hause.
Zuhause werden sie von schrillen Schreien der Frauen empfangen. Von allen Seiten tönt das lautstarke Trauergeheul. Später vermischt sich das lautstarke Weinen mit Gebetsrufen und stillem Gedenken. Im Restaurant nebenan wird der Fernseher leiser geschaltet. Die Nachbarn helfen mit Holz zu sammeln und zu zerkleinern. In der kommenden Nacht sollen sich die Trauergäste am Totenfeuer wärmen können. Stühle und ein Zelt werden im Garten aufgestellt. Als der gewaschene und sauber verbundene Leib im Wohnzimmer aufgebahrt worden ist, treffen einer nach dem andern, die Trauergäste ein. Sie setzen sich und sprechen den Mafabis ihren Kummer und ihren Trost aus. "Es tut uns so Leid was passiert ist. Ich verstehe nicht wie das geschehen konnte? Wie konnte Gott das zulassen? Sie war so ein gutes Mädchen, immer freundlich und sie hatte so grosse Ziele." Hohl tönen die Worte, verglichen mit der Trauer die auf der Familie und ihren nächsten Freunde lastet. Fotos von der Unfallstelle werden herumgezeigt, das verlorene Mädchen gerühmt. Ab und zu deckt ein Gast das Tuch über dem Sarg auf um Juliet zum letzten Mal anzusehen und Abschied zu nehmen. Ihr lebloser Körper liegt da schlaff und nackt, ein grosser weisser Verband wo man den Kopf, die leuchtenden Augen der jungen Frau erwarten würde. Ihre Träume, ihre Zukunft, ein liebes Menschenleben verloren, ihre Arbeit, für nichts.
Empörung breitet sich unter den Gästen aus: „Wenn du einen guten Anwalt finden könntest Mafabi, ich an deiner Stelle würde diese Schule verklagen! Wegen 50'000 Shilling! Sie können das Mädchen doch nicht mitten in der Nacht hinauswerfen!“
Viel reden die Leute, schmeichelhaft, tröstend und empört. Der alte Mafabi schaut teilnahmslos vor sich hin und wiederholt nur immer wieder kopfschüttelnd einen Satz: „Wegen 50'000 Shillings“.
Am Tag darauf, abends nach der Beerdigung sucht Frau Masabi wieder einmal besorgt ihren Mann. Vornübergesunken findet sie ihn allein an einem Tisch sitzend. Sie sieht wie er das Glas zu den Lippen hochhebt. Er bemerkt nicht, dass es schon leer ist.