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Ertränkte Zukunft

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12.09.2009
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Ertränkte Zukunft

Ertränkte Zukunft

Der Mann sieht älter aus als er ist. Wieder einmal hebt er das Glas zu den Lippen hoch nur um zu bemerken, dass es bereits leer ist. Er winkt die Bedienung zu sich: „Noch ein ein Schnaps!“.
Seit sein Sohn gestorben ist, kommt er öfter hierher. Früher war er manchmal zusammen mit seinen Freunden da, sie haben sich über den Tag unterhalten, die Arbeit, die Frauen…
Freunde! Gross reden sie, dann schwätzen sie sich davon, nach Hause zu Frau und Söhnen. Wäre mein Sohn noch am Leben, er hätte es ihnen allen gezeigt! Diesen studierten Schnösel. Studierte – und diese Schule von Juliet, so eine Frechheit, Geld, Geld, Geld, an nichts anderes denken sie, sollen sich mal um ihren Unterricht scheren! Dieser Direktor, der geht sicher nicht mit leerem Portemonnaie nach Hause!

Ein College ausserhalb Kampalas. Es ist bereits neun Uhr Nachts. Die Sonne ist schon seit zwei Stunden mit rotem Leuchten am Horizont verschwunden. Im Schlafsaal tönt monoton eifriges Gemurmel. Nur Juliet bindet gerade mit wässrigen Augen ihre Bücher zusammen und bündelt ihre Kleider. Sie muss die Schule verlassen. Noch heute Nacht. Ihr Vater habe das Schulgeld nicht bezahlt. Ganze 50‘000 Shillings würden fehlen von den vorschriftmässigen 300‘000 Shillings. Nicht eine Nacht mehr darf sie auf dem Campus verbringen. Ihr Vater, sie hatte ihn letzte Woche angerufen, angefleht. Er hat es mir doch versprochen… Meine Eltern wären so stolz auf mich, wenn ich als eine der Besten die Schule abschliesse. Ich könnte ein Stipendium gewinnen für die Uni. Und Jus studieren, Anwältin werden. Dann würde ich die Anliegen der kleinen Leute vor Gericht vertreten, damit auch sie eine faire Chance haben. Ich weiss ich kann es schaffen. - Und nun schicken sie mich nach Hause. - Mein Vater, warum hat er nicht bezahlt! Er hat es doch versprochen… Wie es wohl Mama geht, ich muss so schnell wie möglich zu ihr! Bestimmt hat er wieder zu viel getrunken, sie sucht ihn sicher schon vor Sorge.

Bald darauf steht Juliet an der unbeleuchteten Strasse und wartet auf einen Minibus oder einen Boda Boda um sie nach Hause zu bringen. Sie schaut die holprige Strasse hoch. Weit und breit kein Scheinwerfer zu sehen und kein Motorengeräusch zu hören. Nur das Surren und Zirpen der Zikaden. Geräusche der Nacht. Mit einem Minibus dauert es mindestend drei Stunden bis nach Mbale. Was, wenn keiner mehr kommt? Es ist doch schon viel zu spät für diese Strecke! Unruhig tritt sie von einem Fuss auf den andern, verscheucht Moskitos von ihren nackten Armen und schüttelt den Kopf wenn es ihr in den Ohren summt. Moskitos?
Da, endlich ein Motorengeräusch. Juliet stellt sich auf den Strassenbord und hebt ihren rechten Arm um auf sich aufmerksam zu machen. Sie feilscht mit dem Boda-Fahrer kurz um den Preis, dann setzt sie sich im Damensitz, die Beine elegant auf der rechten Seite übereinandergeschlagen, hinter dem Fahrer aufs Motorrad. Mit einer Hand hält sie ihre Siebensachen zusammen, mit der andern klammert sie sich hinten am Sitz fest. Zum Glück kennt sich der Fahrer gut aus auf der Strecke. Trotz dem kaputten Scheinwerfer gelingt es ihm geschickt die meisten Schlaglöcher auf der nachtdunklen Strasse zu umfahren.
Bald nähern sie sich der nächsten Stadt. Da ein Licht! Ein Knall! Quitschende Reifen brausen davon.

Frühmorgens, der schrille Klingelton seines Mobiltelefons sticht dem alten Mafabi wie Nägel durch seinen Schädel. Schon wieder diese Schule! Was wollen die jetzt wieder! „Die Polizei… angerufen zur Identifizierung… die Schuluniform… ihre Tochter, ein Lastwagen…“
Wenige Stunden später trifft der Alte mit einem hilfsbereiten Nachbarn am Ort des Unglücks ein.
Ein Boda Boda muss in der Dunkelheit mit einem schweren Fahrzeug zusammen gestossen sein. Eingetrocknetes Blut am Strassenrand. Zwei Körper. Die Glieder unnatürlich verrenkt, die Köpfe zur Unkenntlichkeit zermalmt. Heftseiten flattern in der Morgenbise.
Das ist nicht mein Kind, das kann nicht meine Tochter sein! Meine Tochter ist schön, sie ist ein gutes Kind, tut immer was ein Älterer ihr aufträgt und knickt höflich vor ihnen, sie tut nie etwas Schlechtes, arbeitet so fleissig, in der Küche, im Haus, lernt für die Schule,…
Der Nachbar geht zu ihm hin. Gibt ihm eine Heftseite: „Ist das die Handschrift von Juliet?“. Selbst liest er auf einem Umschlag; ‚Juliet Mafabi, Mathematik‘. Er hält den Atem an und blickt zum Alten, dieser geht langsam auf den leblosen Körper zu. Wortlos packen sie zusammen Juliets Leib in den Wagen. Dann beginnt der Alte sorgfältig die kleineren Fetzen vom Boden zu klauben, Gehirnresten und Knochensplitter. Er will seine Tochter ganz mitnehmen. Ich kann sie nicht hier lassen. Nichts von ihr. Nicht hier wo Leute auf ihr rumtrampeln würden, und Ameisen und anderes Getier sie auf offener Strasse zerlegten. Sie ist meine Tochter, sie gehört zu mir. Nach Hause.

Zuhause werden sie von schrillen Schreien der Frauen empfangen. Von allen Seiten tönt das lautstarke Trauergeheul. Später vermischt sich das lautstarke Weinen mit Gebetsrufen und stillem Gedenken. Im Restaurant nebenan wird der Fernseher leiser geschaltet. Die Nachbarn helfen mit Holz zu sammeln und zu zerkleinern. In der kommenden Nacht sollen sich die Trauergäste am Totenfeuer wärmen können. Stühle und ein Zelt werden im Garten aufgestellt. Als der gewaschene und sauber verbundene Leib im Wohnzimmer aufgebahrt worden ist, treffen einer nach dem andern, die Trauergäste ein. Sie setzen sich und sprechen den Mafabis ihren Kummer und ihren Trost aus. "Es tut uns so Leid was passiert ist. Ich verstehe nicht wie das geschehen konnte? Wie konnte Gott das zulassen? Sie war so ein gutes Mädchen, immer freundlich und sie hatte so grosse Ziele." Hohl tönen die Worte, verglichen mit der Trauer die auf der Familie und ihren nächsten Freunde lastet. Fotos von der Unfallstelle werden herumgezeigt, das verlorene Mädchen gerühmt. Ab und zu deckt ein Gast das Tuch über dem Sarg auf um Juliet zum letzten Mal anzusehen und Abschied zu nehmen. Ihr lebloser Körper liegt da schlaff und nackt, ein grosser weisser Verband wo man den Kopf, die leuchtenden Augen der jungen Frau erwarten würde. Ihre Träume, ihre Zukunft, ein liebes Menschenleben verloren, ihre Arbeit, für nichts.
Empörung breitet sich unter den Gästen aus: „Wenn du einen guten Anwalt finden könntest Mafabi, ich an deiner Stelle würde diese Schule verklagen! Wegen 50'000 Shilling! Sie können das Mädchen doch nicht mitten in der Nacht hinauswerfen!“
Viel reden die Leute, schmeichelhaft, tröstend und empört. Der alte Mafabi schaut teilnahmslos vor sich hin und wiederholt nur immer wieder kopfschüttelnd einen Satz: „Wegen 50'000 Shillings“.

Am Tag darauf, abends nach der Beerdigung sucht Frau Masabi wieder einmal besorgt ihren Mann. Vornübergesunken findet sie ihn allein an einem Tisch sitzend. Sie sieht wie er das Glas zu den Lippen hochhebt. Er bemerkt nicht, dass es schon leer ist.

 

Hallo Maria

Ich glaub ich muss mich noch dran gewöhnen dass ich hier bei den Geschichten nicht bei den Reiseberichten bin... Andererseits ist es auch meine Art Dinge lieber nüchtern als allzu gefühlsduselig zu beschreiben. Ich höre aber, dass ich da definitiv noch eine bessere Lösung finden muss.
Zunächst werde ich mich auf die andere Geschichte konzentrieren, du findest in jenem Thread noch eine Antwort.

Siiba Bulunji
(übrigens, mein Name bedeutet das selbe wie Merhaba)

 

Hallo Siiba!

Frostig, ja, da muss ich Maria zustimmen. Um das zu ändern, brauchst du nicht von "nüchtern" auf "gefühlsduselig" umschalten, sondern deinen Erzähler das Geschehen nicht nur durch seine Augen (von oben) schildern lassen. Ab und zu sollte der Erzähler die Dinge durch die Augen der beiden Hauptfiguren, Juliet und ihrem Vater, betrachten.
Ein paar Beispiele:

Juliettes Vater trifft zusammen mit seinem hilfsbereiten Nachbarn am Ort des Unglücks ein. Zusammen packen sie den leblosen Leib ein, klauben mühsam Fetzen vom Boden, Gehirnresten, Knochensplitter, in lähmender Sprachlosigkeit. Ihre Tochter.
Warum tut sich der Vater (ich würd ihm auch einen Namen geben) das an? Ist er per Gesetz dazu verpflichtet, die Straße (rückstandslos) zu säubern? Oder will er nichts von seiner geliebten Tochter an diesem schrecklichen Ort zurücklassen? Das könnte der Erzähler eindrucksvoll aus Sicht des Vaters schildern. Sammelt er die Teile eher mit Ekel und Zorn (Pflicht) auf, oder sieht er in jedem Knochensplitter ein Stück seiner Tochter, das er einfach nicht zurücklassen kann und will?
+++
Ein Gymnasium außerhalb Kampalas. Es ist bereits neun Uhr Nachts. Die Sonne ist schon seit zwei Stunden mit rotem Leuchten am Horizont verschwunden. Im Schlafsaal hört man von allen Seiten eifriges Gemurmel. Die Schülerinnen lernen. Nur ein Mädchen bindet gerade mit wäßrigen Augen ihre Bücher zusammen und bündelt ihre Kleider. Sie wird die Schule verlassen. Noch heute Nacht.
"man" klingt zu distanziert.
Im Schlafsaal ertönt von allen Seiten ... oder so ähnlich.
Nur Juliet bindet gerade ... Gib dem Mädchen gleich einen Namen.
Diese simplen Handgriffe machen den Text gleich ein wenig wärmer, der Leser fühlt sich näher am Geschehen.
+++
Sie wird die Schule verlassen.
Sie muss die Schule verlassen. Das deutet auf eine Zwangslage hin, und sofort interessiert sich der Leser für Juliet und entschließt sich, auch den nächsten Satz zu lesen! (Von dem fehlenden Geld weiß der Leser an der Textstelle noch nichts!)
+++
Nicht eine Nacht mehr darf sie auf dem Campus verbringen.

Zehn Uhr Nachts. Juliet steht an der unbeleuchteten Straße und wartet auf einen Minibus

"darf", wäre interessant zu erfahren, warum sie so spät noch auf die Straße gesetzt wird. Oder ist es ihr eigenes Verschulden, das sie nicht bereits ein paar Stunden früher gegangen ist? Diese Frage taucht bei mir nicht sofort, sondern erst nach dem Unfall auf. =Schuldfrage, Verletzung der Fürsorgepflicht? (Ist vielleicht eher die typische Frage eines Westeuropäers)
Ganz schlimm, die vorangestellte Uhrzeit. Lass doch Juliet auf ihre Armbanduhr oder auf eine Uhr über dem Eingang des Gymnasiums schauen.
+++
Eigentlich schon zu spät so eine weite Reise anzutreten, es hat kaum mehr Verkehr auf den dunklen, holprigen Straßen.
Sie schaut die holprige Straße entlang und sieht weit und breit kein Auto, Moped usw. Oder so ähnlich. Dann kommt ihr in den Sinn, dass es für solch eine Reise eigentlich viel zu spät ist. Zeig uns ihre Beklemmung.
Während sie wartet (oder irgendwo vorher im Text) könnte sie ihren geplatzten Träumen nachtrauern. Wollte sie studieren? Ärztin werden, um ihrer Dorfgemeinschaft (oder den Menschen im Stadtviertel) zu helfen? Das würde Juliet sympathisch machen und auch der Leser würde dann vielleicht einen Verlust spüren, nicht nur der Vater.
+++
Sechs Uhr früh. An der Unfallstelle sammeln sich Schaulustige. Ein grausiges Bild. Ein Boda Boda muss in der Dunkelheit mit einem andern Fahrzeug zusammen gestoßen sein. Eingetrocknetes Blut am Straßenrand. Zwei Körper. Die Glieder unnatürlich verrenkt, die Köpfe zur Unkenntlichkeit zermalmt. Heftseiten flattern in der Morgenbise. Polizisten schießen Fotos.
Das ist der Mittelteil, bzw. die Wende. Danach umschalten auf den Vater. (Alles mehr durch seine Augen und mit seinen Gedanken schildern)
"Ein grausiges Bild" kann raus. Ergibt sich für den Leser aus dem nachfolgenden Text.
Usw., usw.

Gruß

Asterix

 

Hallo Siiba,
Also vorweggenommen hat mich dein Text berührt, obwohl ihm einige Dinge fehlen, die er haben sollte, obwohl er eigentlich wie ein Fragment wirkt, obwohl nicht aufgeklärt wird, warum ihr Vater zu wenig bezahlt hat. Ein Versehen? Kalkül?
Sprachlich finde ich den Text gelungen, und den Rest hat ohnehin mein Vorredner angesprochen
LG
Bernhard

 

Hi Siiba,
das ist eine sehr reale Geschichte, überall auf der Welt passiert das leider dauernd. Ich interpretier sie so: Eine kleine Entscheidung kann Menschenleben kosten. Ein kleines bisschen Nachsicht kann Menschenleben retten. Man wirft nachts niemanden aus dem Haus. Es darf in dieser Welt nicht immer nur um Geld gehen.

@Bernhard
Warum sollte aufgeklärt werden, das der Vater nicht gezahlt hat? Er wirds halt nicht gehabt haben.

LG
Vagabund

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Asterix

Vielen Dank für deine wervolle Rückmeldung!! Ich konnte sie sehr gut gebrauchen für die Überarbeitung!

Zum Inhalt: ja, es ist eine typische Europäische Frage nach Verletzung der Fürsorgepflicht zu fragen. Es wird dort zwar auch beschuldigt, aber es folgen keine Schritte, Chancen wären sehr klein, Kosten sehr gross.

Liebe Grüsse, Siiba


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Hallo Bernhard

Warum der Vater nicht bezahlt hat, bleibt sein Geheimnis. Gründe könnten sein, dass er es nciht gerade flüssig hatte, (z.B. weil er damit zu viel flüssiges gekauft hatte), weil es ihm in seinem Zustand der Sucht und Selbstmitleid um sein Leben (was er damit begründet dass er früher schon seinen Sohn verloren hat) einfach vergessen ging die Rechnung vollständig zu begleichen...
Ich weiss es nicht. Weiss nur dass mir der Typ alles andere als sympathisch ist. Wie er sich da selbst ersäuft in Selbstmitleid und Alkohol.
Der hilfsbereite Nachbar war übrigens mein Mann. Mir hat sich fast der Magen gedreht, als er mir danach davon erzählt hatte. Die Fotos wollte ich dann lieber nicht anschauen. Es war mir schon unheimlich genug diesen Körper zu sehen. Es sieht so unheimlich anders aus, wenn kein Leben mehr drin ist.

Liebe Grüsse, Siiba

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Hallo Jungspundvagabund

Ja das ist eine Interpretation davon :)

Liebe Grüsse,
Siiba

 

Hi Siiba

So kalt wie die Geschichte geschrieben ist, zeigt sich die Welt oftmals und die Botschaft ist trotzdem vorhanden. meiner Meinung nach MÜSSEN manche Texte gefühlsarm geschrieben sein, damit sie Gefühle auslösen. Aber vielleicht ist das eine subjektive Wirkung auf mich.

Ein paar grausige Details hättest du allerdings weglassen können, weil sie nicht recht in diese Berichterstattung passen.

ImGroßen und Ganzen hat mir der Text sprachlich gut gefallen

Liebe Grüße Herrlolek

 

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