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Erwin

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13.08.2004
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Erwin

Erwin drückte den Lappen erneut aus, Wasser tropfte schmutzig in den Eimer zurück. Ein kleiner, glücklicher Seufzer verliess seinen Mund, als er sachte die goldenen Bilderrahmen abstaubte. Es war gar nicht so einfach, den Dreck aus den barocken Verschnörkelungen zu
vertreiben, doch er gab sich nicht geschlagen. Er legte einen solchen Tatendrang an den Tag, als wäre es sein Lebensziel gewesen, ein einziges von den vielen Bildern, die im Korridor hingen, sauber zu kriegen. Ab und zu schweifte sein Blick zur Tür hinüber. Seine schwarzen Locken klebten im Gesicht, die Augen leuchteten, der Mund war zu einem Lächeln gebogen.
Ans Treppengeländer angelehnt stand eine Frau, die eingehend beobachtete, wie der hagere, junge Mann mit grösster Sorgfalt ihr Hab und Gut pflegte und im nächsten Moment wieder unaufmerksam zur Tür blickte.
„Lieber Erwin, nimm nicht zuviel Wasser, sonst ist von dem Blattgold bald nichts mehr übrig“, mahnte sie ihn just in dem Moment, wo er eben nicht seiner Arbeit nachging.
Ruckartig drehte Erwin sich um, starrte die Frau an und erwiderte kein Wort.
Sie grinste. Ihre treuen Augen zeigten einen gütigen Schimmer. „Bist du noch immer nicht fertig mit deiner Arbeit?“
„Nein, tut mir Leid, gnädige Frau.“ Dabei regte er sich nicht.
„Dann beeil dich ein wenig, du wirst mit jeder Woche langsamer“, befahl sie mit einem leichten Anflug von Verärgerung.
Als sie schon fast hinter der Küchentür verschwunden war, drehte sie sich noch einmal nach dem Jungen um, der wieder eifrig die schon lange blanken Bilderrahmen putzte und murmelte Gedanken verloren: „Und meine Tochter kommt auch mit jeder Woche später nach Hause.“
Das Wasser im Eimer war schon ganz braun-gold vom zu vielen Abstauben. Erwin setzte sich auf den Eimer und faltete seine Hände. Wo war sie bloss? Den ganzen Tag schon wartete er auf das Wiederkehren der Tochter des Hauses, auf deren liebliches Antlitz, in das er fast nicht zu blicken wagte. Er wartete auf deren Stimme, die so hell klang, wenn sie ein paar Worte mit ihm wechselte. Wo war sie bloss, wo war sie bloss …

Ein paar Stunden und ein paar Bilder später kam sie endlich. Der Türgriff wurde runtergedrückt, die schwere Holztür ging knarrend auf. Erwin schreckte augenblicklich hoch. Der Eimer schwankte und für einen Moment schien es, als wolle er seinen gesamten Inhalt auf dem Boden verteilen. Da war sie und ihr Lachen, welches voller Wärme strahlte. Rosig rot waren ihre Wangen und ganz blau die zarten Hände. Schnell trat Erwin an ihre Seite und bot seine Dienste an.
„Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen, gnädiges Fräulein?“
„Ich bitte darum.“ Sie öffnete die Fibel und reichte ihm den Mantel mit einem dankenden Kopfnicken. Dabei berührte seine Hand die ihre und er wagte es, sie für einen kurzen Moment festzuhalten.
„Ihre Hände sind ganz kalt, gnädiges Fräulein.“ Sein Herz klopfte und klopfte, sodass er dachte, im nächsten Moment springe es aus seiner Brust und liege vor ihr auf dem Boden. Vor ihr, deren Hand er gerade hielt und wärmte.
„Es ist Winter, Erwin, da sind kalte Hände kein Grund zur Beunruhigung.“ Sie lächelte wieder und entzog ihm ihre Hand, um sie auf das Treppengeländer zu legen und nach oben zu gehen. Erwin blickte ihr nach, wie sie, ohne sich ihrer Reize bewusst zu sein, hinauf schritt und ihren Rüschchenrock ein wenig hoch hob, damit er den Boden nicht berührte. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, grub er seinen Kopf ganz tief in ihren Umhang und atmete den süssen Duft nach Zitrone ein, der ihn umgab. Tiefer und tiefer. Ein kleiner Seufzer der Sehnsucht verliess kehlig seinen Mund und liess ihn seine Augen schliessen. Wie sehr er sich nach ihrer weichen Hand sehnte, nach dem Klang ihrer Stimme und ihrem ganzen lieblichen, zerbrechlichen Wesen.
Urplötzlich liess er davon ab, als hätte er sich selbst ertappt und bevor ihn jemand sehen konnte, verstaute er den Mantel in der Garderobe, versorgte die Putzsachen und ging in die Küche, wo er Wasser aufsetzte und Tee kochte. Alles mit einer unglaublichen Schnelligkeit, die man dem hageren Erwin gar nicht zutrauen würde. Er wollte ihr Früchtetee kochen, ein paar Kekse dazulegen und sie in ihrem Zimmer besuchen. Dann würde er ihr endlich seine Gefühle gestehen, die schon so lange in seiner Brust tobten. Doch es war immer dasselbe mit ihm. Jeden Tag stand er am Abend mit einer Kanne Tee vor ihrer Tür und war fest entschlossen, anzuklopfen und einzutreten. Doch kaum erhob er die Hand, legte sich eine eisige Faust um sein Herz und nahm ihm die Luft zum Atmen. Seine Stirn legte sich in Falten und er stellte die Teekanne auf den Boden und lehnte seinen Kopf und beide Hände flach an die Tür und verharrte so eine Weile. Die Lampe über seinem Kopf glimmte und warf seltsame Schatten an die Wand. Wenn er jemanden kommen hörte, nahm er geschwind die Teekanne und versteckte sich in seinem Kämmerchen, wo er sich auf den Boden setzte und seinen Kummer und die Sehnsucht still und leise in sich hineinweinte. Es sollte nicht sein, es sollte einfach nicht sein …

Am nächsten Morgen putzte Erwin jeweils die getrockneten Tränen der Nacht weg und starrte auf den Teekessel, dessen Inhalt inzwischen kalt geworden war, in seinem ungeheizten Kämmerlein. Es war neun Uhr morgens, die Sonne schien schon durch das vergitterte Fenster auf die kahlen Steinwände und warf ein wenig Wärme auf Erwins Gemüt. Mit grösster Sorgfalt faltete er seine Nachtdecke zusammen und legte sie zurück auf die Matratze. Während er mit der Hand darüber fuhr, dachte er an das gnädige Fräulein. Sie ging schon früh aus dem Haus, sie hatte viel zu tun, nur Gott wusste was. Und er wird hier warten, ihr am Abend den Mantel abnehmen und dabei ein paar Worte mit ihr wechseln, ja das wird er tun. Er beeilte sich, mit Putzeimer und Besen in die Küche zu kommen und seiner Arbeit nachzugehen. Er drückte das Wasser aus dem Lappen, legte ihn auf den Besen und schrubbte den Boden. Im Erdgeschoss, im ersten und im zweiten Stock, am Schluss im Korridor. Dabei dachte er durchwegs an sie. Sie war so weit weg von ihm, so weit weg, dieses liebliche Wesen. Eine bittere Traurigkeit ergriff ihn, dabei wollte er sich doch auf ihre Wiederkehr freuen, sowie an anderen Tagen auch.
„Ihr Diener bist du, du wirst immer ihr Diener bleiben“, flüsterte eine innere Stimme.
„Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr!“, schrie er in die gähnende Leere des riesigen Hauses und schlug mit der Faust gegen die Wand, sodass die Bilder wackelten. Tränen füllten seine Augen, liessen sie glasig erscheinen. Seine dünnen Lippen bebten, die Faust zitterte, während er den Kopf an die Wand lehnte und sich nicht mehr regte. Wie ein Krüppel, der verzweifelt ums Überleben kämpfte, sah er in dem Moment aus. In sich zusammengesackt und traurig, immerzu wartend. Ein paar Minuten später fasste er sich wieder, putzte sich die Tränen weg. Bald schon käme sie nach Hause, schon bald, und so wollte er ihr nicht unter die Augen treten. Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment knarrte die Tür und das gnädige Fräulein stand im Raum.
„Hallo Erwin.“ Ihr Begrüssungslachen fiel dieses Mal besonders fröhlich aus, verblasste aber gleich wieder. Erwin schaute sie an und sagte nichts. Kein Wort, keine Geste, nichts. Sie runzelte die Stirn. „Alles in Ordnung, Erwin?“
Als hätte er einen Eimer kaltes Wasser verpasst bekommen, schüttelte er den Kopf. „Alles in bester Ordnung, gnädiges Fräulein, kann ich Ihnen den Mantel abnehmen?“
Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, dessen Augen von tiefen Ringen umrandet waren. Sie öffnete wiederum die Fibel ihres Mantels und reichte ihn Erwin. Als dieser sie berührte und diesen Zitronenduft einatmete, verlor er sich. Mit einem lauten Seufzer fiel er vor ihr auf den Boden und ergriff ihre kalten Hände.
„Gnädiges Fräulein, ich kann nicht mehr. Sie wissen es doch … Sie wissen doch, dass ich Sie liebe, ach, so sehr liebe und mich sehne“, keuchte er voller Inbrunst und blickte zu Boden. Ihm wurde schrecklich schwindlig, er hielt sich an der Hand fest, als wäre sie sein Rettungsanker, der ihn davor bewahren würde, vollends im Meer der Sehnsucht zu ertrinken.
Sie erwiderte kein Wort, blickte regungslos auf den bemitleidenswerten jungen Mann unter sich, der zitterte und so laut und schwer atmete, dass man ihn auch aus weiter Entfernung hören konnte.
„Sagen Sie doch etwas, bitte sagen Sie etwas.“
Doch sie blieb stumm, für eine unendlich lange Zeit.

„Schatz, ich habe keinen …“ Ein fremder Herr in Anzug trat ein und wirkte sehr erstaunt, als er die beiden sah. „Oh, störe ich?“
„Du störst nie.“ Sie lächelte und schüttelte Erwins Hände wie Dreck auf ihrem Kleid weg und blickte ihn von oben herab mit stummen Augen an. „Du störst nie.“
Den Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst griff sie nach der Hand des Herren und führte ihn, ohne Erwin noch einmal zu beachten, nach oben in ihr Zimmer.
Erwin blieb auf dem Marmorboden liegen, schwach und entmutigt. Wie er sich fühlte in diesem Moment; gedemütigt und so unglaublich nackt. Tränen tropften auf den Boden und zersprangen dort in tausend Stücke. Es roch nach Zitrone, so unglaublich stark nach Zitrone. Er war der Diener, er war nur der Diener ohne Gesicht.

 

Hello Schwarze Seele,

eine old-fashioned Geschichte, mit einer deutlichen Spur Kitsch, gut zu lesen.


Dies fiel mir auf:

'... in den Eimer zurück. Ein kleiner, glücklicher Seufzer verliess seinen Mund...' Den Mund des Eimers? ;-)

'...deren liebliches Antlitz, in das er fast nicht zu blicken wagte. Er wartete auf deren Stimme..' - deren finde ich unglücklich, warum nicht 'ihr' und 'ihre'?

'...ihr Lachen, welches voller Wärme strahlte....' Kann Lachen 'strahlen'?

'...atmete den süssen Duft nach Zitrone ein...' - Zitronen duften süß??? Mir fiele da eher 'säuerlich-fruchtig' ein...

'...Ein kleiner Seufzer der Sehnsucht verliess kehlig seinen Mund und liess ihn seine Augen schliessen....' - Kann ein Seufzer 'kehlig' sein? Und weshalb bewirkt ein Seufzer das Schließen der Augen? Ursache ist doch wohl eher Sehnsucht.

Viele Grüße vom gox

 

Hallo Schwarze Seele,

deine Geschichte lässt mich etwas zwiegespalten zurück.

Zum Einen ist es eine bloße Geschmackssache - ich mag Geschichten, die in dieser Zeit spielen nicht so gerne.
Andererseits erscheint es mir auch unwahrscheinlich, dass Erwin nichts vom Liebhaber/Verlobten des Fräuleins weiß. Zu jener Zeit war es ja nicht so, dass man als Frau einfach mal einen Mann nach Hause gebracht hat.

Manchmal fand ich Erwins Wortwahl eine Spur zu kitschig. Ich weiß nicht, ob die Leute damals wirklich so gesprochen haben, aber heute kann ich so etwas kaum lesen ohne sofort an "Sissi" oder derartiges zu denken. :D

Gut dargestellt hast du Erwin. Er wirkt sehr lebendig und mMn auch authentisch. Beim Lesen ist ein Bild von ihm vor meinen Augen erstanden und das fand ich sehr gut.

LG
Bella

 

Hi Schwarze Seele

Ich bin nun wirklich kein Fan solch mittelalterlicher Stories, aber die Geschichte ist nicht schlecht geschrieben.
Allerdings sind mir zwei Dinge etwas aufgestoßen:

1. Ich kann nicht erkennen, warum Erwin wochen-, ja vielleicht monate- oder jahrelang sein Schicksal getragen hat und so ganz plötzlich von einem Tag auf den Anderen ausrastet und es nicht mehr aushält. Das wirkt irgendwie, wie wenn er sich jetzt durchringen würde, seine Liebe zu gestehen, weil sonst die Geschichte keinen Höhepunkt hätte, und das stört mich.
Natürlich kann es den einfachen Grund haben, dass sich das jetzt einfach zu lange aufgestaut hat, aber dann muss das deutlicher raus kommen. So kann ich nicht wirklich nachvollziehen, warum er plötzlich so reagiert.

2. Meines Erachtens trieft der Schluss geradezu vor Kitsch. Natürlich enthält eine derartige Geschichte Kitsch und der gehört auch dazu, aber bei den letzten Sätzen muss man den Monitor waagrecht halten, damit die Tränen nicht das ganze Zimmer versauen :D
Mein Vorschlag wäre, die Geschichte damit enden zu lassen, dass sie mit ihrem Liebhaber verschwindet und den Zusammenbruch von Erwin komplett raus zu lassen - dass er zusammenbricht dürfte ohnehin jedem klar sein, der die Story gelesen hat und mAn zerstörst du dadurch den Schluss der Story.


Gruß Pesse

 

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