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Erzwungener Genuss von unwahrem Glück
Sie war lange genug allein, aber mit der Masche ihrer Freundinnen einen abbekommen?
Besser als nichts.
Besser als nichts!!!
Wie oft ihr dieser Satz heute im Kopf bereits herumspukte, unzählbar.
Mut machen soll er, sie aufmuntern.
Besser als nichts.
Schicht für Schicht beginnt Eva die Schminke aufzulegen, Schicht für Schicht verliert sie sich selber aus den Augen. „Ich habe es nötig!“, schreit sie dieses neue verwirrte Gesicht an.
Nötig!
Endlich die Erfahrungen machen, von denen alle schwärmen. Endlich erzählen zu können wie dies und das mit ihm war. Das Glück durch jemand anderen.
Mit ihm…
Je länger sie nun vor diesem abscheulich ehrlichen Spiegel steht, umso mehr bekommt sie den Eindruck, sich hinter dieser Schminke zu verstecken, und sie ist froh darüber, direkt erleichtert.
Der Mascara wischt die Zweifel hinweg, der Lipgloss und der Lippenstift halten sie endgültig verschlossen. Und das ist nur der Anfang.
Mitten in dieser vermeintlich Glück bringenden, tatsächlich aber traurigen Arbeit, hört Eva das Telefon klingeln.
Etwas entnervt, weil im höchsten Maß bemüht ihre Selbstzweifel im Zaum zu halten, nimmt sie ab und wie erwartet, freut sich am anderen Ende der Leitung, Antje, eine gute Freundin:
„Na wie sieht’s aus? Soll ich gleich mal vorbeikommen und dein Outfit mit dir durchchecken?“
Wie gewohnt drauflos plappernd, blubbert sie gleich weiter ohne zu merken, dass Eva mit ihren Gedanken weit weg von ihr, ihrem Freund und der lustigen Autofahrt zu diesem echt überschätzten Konzert ist.
„Komm ruhig vorbei, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.“
Dankbar für die fragliche Unterstützung legt Eva auf. Natürlich sind schon jede Menge Klamotten für diesen besonderen Abend bereitgelegt, aber mehr zur Ablenkung als aus Vorfreude.
Wenn sie schon herkommt, kann Antje ihr eigentlich auch beim Schminken helfen. Sollte man sich nicht sowieso davor anziehen? Sie wird’s schon wissen, schließlich hat sie weitaus mehr Erfahrung bei so etwas, ein zweifelhafter Ruhm zwar, aber besser als keiner.
Als es an der Tür läutet, wäscht sich Eva gerade den letzten Rest Make-up aus dem Gesicht. Beschwingte Schritte kommen die Treppe herauf und kurz darauf steht Antje schon bei ihr, redselig wie immer, irgendwie liebenswert eben.
Antje hat das mit den Jungs schon seit ich sie kenne, seltsamerweise liegt dieses Selbstvertrauen in der Familie.
„Grüß dich Eva,
(„Hi Antje!“)
bist du arg nervös? Brauchst du nicht. Ich bin ja da. Hast ja noch viel vor dir!? Nur die Ruhe, des klappt heut Abend mit dir, du wirst schon sehen. Zeig mir mal dein Gesicht. Komm wir rubbeln des erstmal trocken…
Eine knappe Dreiviertelstunde später sitzen Eva, Antje und ihr Freund Pappe im Auto und diskutieren, wer weswegen wohl mit wem wann kommt.
Müßig zwar, aber geistlos genug, dass Eva während dieser Unterhaltung wieder in eigene Gedanken verfällt. Das dieser Abend bisher ziemlich klischeehaft verlief ist ihr klar, aber auf ein klischeehaftes Ende darf sie doch trotzdem hoffen?
Sie hat vielleicht keinen zuvor ausgesuchten „Schwarm“ oder dergleichen aber die Maxime des Abends lautet schließlich:
Besser als nichts.
Oder etwas reifer formuliert:
Schluss mit der Einsamkeit…
Doch um jeden Preis? Ist Antje mit ihrem geistlosen Pappe etwa ein erstrebenswerter Zustand? Sie weiß es nicht, aber sie weiß, dass es so nicht weitergehen kann.
Sie sitzt zwischen zwei unbequemen Stühlen, einzig aufzustehen erlaubt man ihr nicht.
Plötzlich wird ihr heiß, sie schwitzt, schaut aus dem Fenster, versucht sich von all dem abzulenken.
Warum soll bei ihr fehlschlagen, was sonst überall klappt? Zweisamkeit macht glücklich!?? Jeden Tag sieht sie hundert Beispiele dafür, 99 davon im Fernsehen und eins sitzt gerade vor ihr und versucht plötzlich ihr Mut zuzureden.
„Warum bist du denn so still?“, fragt Antje aufmunternd, „mach dir keine Gedanken, es gibt immer ein erstes Mal, ich weiß wie unromantisch das klingt, aber das ist doch nur im Fernsehen so perfekt. Vielleicht ist bei dir heute das „das“ wichtiger als das „wie“…“
Eva weiß, dass sie ihren ersten Freund nicht durch Willkür und Alkohol haben will, doch genau so sehr ist sie immer fester davon überzeugt, dass es wohl langsam an der Zeit wäre. An der Zeit für den ersten Kuss. An der Zeit dieses von überallher prophezeite Glücksgefühl zu durchleben, zu genießen. An der Zeit an diesem Gefühl teilzuhaben.
Überschwemmt von diesen Gedanken macht sich, nachdem sie aus dem Auto ausgestiegen sind eine Art Vorfreude in ihr breit. Eine Spannung auf das, was sie erwartet. Die Zweifel sind in weite Ferne gerückt. Was sie im Auto noch aus der Fassung brachte, ist nun zu einem leisen schüchternen Flüstern verkommen, bald gänzlich im Alkohol ertrunken.
„Eva komm mit, schließlich hat’s bei uns genau gleich angefangen,“ ermutigt sie Pappe und mit teils gespielter und teils empfundener Euphorie antwortet Eva: „Ihr habt recht, was einmal klappt kann ja auch zweimal klappen.“
Hätte sie sich heute morgen so reden gehört… Eine eigenartige Stimmung hat sich ihrer bemächtigt, bereit zu tun was die vollkommene Antje ihr rät.
Den Eintritt bezahlt, stehen die drei planlos im viel zu großen Zelt, wippen ein wenig zur Musik mit und stellen zur selben Zeit fest, dass etwas zu trinken angebracht wäre.
Nach viel gutem Zureden ist die ehemalige Eva, die unzufriedene, über das Niveau der Jungs grübelnde, in Selbstzweifeln ertrinkende, verschwunden, versteckt vielleicht, auf jeden Fall aber weg.
Der Weg frei für die herbeigesehnte zum Glück bereite Eva, fern jeder Konsequenz.
Sie hat schon lange aufgegeben zu fragen, warum sie bislang ohne Freund durchs Leben ging. Vielerlei Antworten hat sie erhalten, doch keine war in der Lage sie zu befriedigen, das zu ersetzen, was ihr von überall als fehlend bescheinigt wird.
Diese Eva beginnt allerdings den Abend etwas relativ und unwirklich zu erleben, als sie mit Antjes tatkräftiger Unterstützung ein paar Mutmacher zu viel trinkt.
Der Typ, der die Getränke verkauft, ist zwei Stufen über ihr und hat etwas erwachsenes an sich, ein Selbstvertrauen, das ihn attraktiv und unerreichbar macht. Als er sie jedoch fragt, ob sie ihn in seine jetzt beginnende Pause begleiten will, steht Eva kurz davor zu erfahren, was alle mit diesem Glück meinen. Wovon alle reden, wenn sie über ihren ersten Kuss berichten. Von diesem Glück, das der Zweisamkeit vorbehalten ist.
Sie stehen nahe der dunklen Rückseite des Zeltes und nachdem sie ihr letztes Glas des Abends ausgetrunken hat, hört sie Aldo plötzlich fragen:
„Sag mal Eva geht’s dir eigentlich auch so mit mir,“, er stockt kurz, „wie es mir mit dir geht?“, es klingt zwar auswendig gelernt, verwirrt jedoch durch seine scheinbare Inhaltslosigkeit.
„Wie meinst du mit dir?“, übernervös und durcheinander dauert es ein wenig bis sie glaubt, ihn wirklich verstanden zu haben.
Etwas unsicher fügt sie noch hinzu:
„Ich glaube schon…“
Ein erster Kuss, im unkontrollierten halbwachen Zustand, von jemandem der das Entjungfern auf diese Weise gleichermaßen genießt wie perfektioniert.
Nüchtern wäre ihr die Absprache hinter ihrem Rücken aufgefallen, nüchtern wäre es dazu wohl nicht gekommen, da hätte ihr etwas Einhalt geboten, was sie diesen Abend bezichtigte ihr das Glück zu verbieten, mit jeder Faser hätte das, was wir Vernunft oder schlechtes Gewissen nennen, aufgeschrieen, ihr gesagt, dass sie sich nur unglücklich macht.
Aber betrunken und verwirrt hört man nicht mehr auf sich selbst. Und was bringt es uns?
Besser als nichts?
…
Am nächsten Morgen ist Antjes Stolz auf sie kaum zu überhören: „Mensch Eva, das gestern kann nicht jeder von sich behaupten, wie war’s denn? Seht ihr euch wieder? Erzähl doch!“, sie sprudelt vor Selbstverliebtheit, angesichts des am Abend zuvor hervorragend funktionierten Planes.
„Es war toll, genauso wie man es sich vorstellt“, antwortet Eva nicht ganz wahrheitsgemäß, um das Weltbild Antjes nicht völlig aus den Fugen zu reißen. Plötzlich kocht eine unglaubliche Wut in ihr hoch und lässt sie gehässig fragen:
„Sag mal Antje, kann es sein, das du nur so viel mit Pappe prahlst, um zu verbergen, wie scheiße es dir mit ihm geht?“
Das sinnlose Tuten des Telefons, stellt einerseits die Reaktion Antjes und andererseits das Ende einer lang währenden, aber im nachhinein unglaublich oberflächlichen Freundschaft dar.
Ratschläge wie ihre machen nicht glücklich, sie verwirren und lenken davon ab, was wirklich zählt.
Mit sich selbst auch mal zufrieden sein, auch wenn es nicht den hohen Maßstäben des Fernsehens oder „guten“ Freunden genügt.
Die alte Eva ist wieder zurück, mit dem Entschluss sich nie wieder zu belügen, um etwas zu bekommen, dessen Fehlen ihr nur eingeredet wird.
Besser als nichts?
Viel besser!
Unzufrieden vielleicht, aber nur oberflächlich und nicht auf ewig.
Schließlich ist es ihr eigener Entschluss.