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Es geschah an einem ganz normalen Morgen
Ein Tag wie jeder andere nahm seinen Anfang.
Okay, es war Freitag der dreizehnte, doch was bedeutete das schon?
Paul hatte noch keine Ahnung das etwas erschreckendes auf ihn zu kommen würde. Er saß am Frühstückstisch und trank den letzten Schluck Kaffee.
Schmunzelnd betrachtete er seine Frau Maria, die sich in die Bildzeitung vertieft hatte. Paul dachte darüber nach, wie angenehm sein Leben mit ihr war. Seit die Kinder das Haus verlassen hatten, gab es keine Aufregung mehr. Keine Höhen, keine Tiefen, keine Katastrophen.
Der Teufel schien den kleinen Ort in dem sie lebten, vergessen zu haben.
"Vielleicht hält Gott aber auch seine große Hand darüber", dachte Paul und schüttelte gleich darauf kaum merklich den Kopf.
"Was habe ich denn nur für merkwürdige Gedanken heute?"
"Schatz du mußt los!" Maria setzte seinem Grübeln ein Ende, noch bevor er sich darin verlieren konnte.
Seine Frau begleitete ihn, so wie jeden Morgen, zur Tür.
"Paß heute besonders gut auf dich auf, du weißt schon, heute ist Freitag der..."
"Ach du abergläubisches Wesen." Paul lachte und drückte Maria einen Kuß auf den Mund.
Als er den Schulbus bestieg, dessen Fahrer er schon seit ewigen Zeiten war, dachte er nicht mehr an die Ermahnung seiner Frau. Gleich würden die ersten Schüler einsteigen und ihn mit einer Art von Leben überfluten, das eben nur von Kindern kommen konnte.
Er setzte die Mütze auf sein dichtes, schon leicht ergrautes Haar und klemmte sich hinter das Steuerrad. Eigentlich hätte er schon losfahren müssen, doch in seinem riesigen Außenspiegel, sah er den kleinen Micha angelaufen kommen. Paul grinste.
"Wie jeden Morgen", dachte er. War nicht alles so wie jeden Morgen?
Wieder rückte er die Mütze zurecht, seine Kopfhaut kribbelte.
Micha hatte den Bus bestiegen.
"Morgen Paul", lächelte er ihm verlegen zu.
Paul erwiderte seinen Gruß.
Ja, so wie jeden Morgen... oder? Merkwürdig, plötzlich hatte Paul das Gefühl das sich etwas veränderte, jetzt, gerade in diesem Moment.
Während er langsam anfuhr, warf er einen Blick in den Rückspiegel.
Lag es an den Kindern? Er sah sie lachen, kleine nicht ernst gemeinte Rangeleien austragen. Nein, er konnte nichts ungewöhnliches entdecken.
Nach einigen Haltestellen hatte der Bus sich gefüllt. Doch auch der nun hohe Lärmpegel, konnte Pauls seltsame Empfindungen nicht vertreiben.
In genau acht Minuten würde er an der Endstation angekommen sein. Die Kinder würden die letzten Meter bis zur Schule zu Fuß weiter gehen und er käme in den Genuß seiner ersten Zigarette. Wie jeden Morgen. Also, was war los mit ihm? Was stellte er heute in Frage? Freitag den dreizehnten? Unsinn! Plötzlich raste sein Herz, ganz kurz nur, dann war es wieder vorbei.
Er erschrak.
"Alles klar?" Fragte Florian aus der zehnten Klasse.
"Aber sicher", Paul zwinkerte ihm zu.
Er hatte die Hauptstraße verlassen. Konzentrierte sich auf die kaum befahrene Straße vor ihm. Das ungute Gefühl wollte nicht weichen. Schlimmer noch. Je mehr er sich seinem Ziel näherte, desto unruhiger wurde er.
"Ich werde doch wohl nicht... kein Gedanke, du warst noch nie wirklich krank und wirst es auch nicht werden", beruhigte er sich. Ein tiefer Atemzug, mit dem er versuchte seine aufkommende Angst zu vertreiben, befreite sich als Pfeifton wieder aus seiner Brust.
"Mann, was ist bloß los mit dir?" überlegte er.
Erneut begann seine Kopfhaut zu kribbeln. Das Blut in seinen Adern pochte.
Er stand an der Ampel, brauchte nur noch rechts in die Seitenstraße, die zur Schule führte, abzubiegen. Es wurde grün. Die Furcht in ihm stieg. Zögernd nahm er die Kurve. Sein Blick fiel auf den ungefähr hundert Meter vor ihm liegenden Bürokomplex, der erst vor wenigen Monaten fertiggestellt worden war, aber noch keine Mieter gefunden hatte. Gegenüber davon befand sich die Haltestelle. Alles sah so friedlich aus, kein Auto, keine Menschenseele war zu sehen. Eine leichte Brise bewegte die Baumwipfel. Sonnenstrahlen brachen sich in den Fenstern des Bürohauses.
Paul merkte nicht das er den Bus mitten in der Kurve angehalten hatte. Er hörte kaum die fragenden Rufe der Kinder. Unfähig nur noch einen Meter weiter zu fahren, starrte er mit vorgebeugtem Oberkörper nach vorne. Wie in Zeitlupe glitten seine Augen über das Gebäude, über die Straße, hin zur Haltestelle.
Auf einmal schien die Welt den Atem anzuhalten. Kein Vogel zwitscherte mehr, keine noch so kleine Bewegung war zu sehen. Kälte kroch an seinen Beinen hoch, verteilte sich über den Körper. Paul hatte Mühe, das klappern seiner Zähne unter Kontrolle zu halten.
Ein plötzlich aufflatterndes Papier, das wohl auf dem Gehweg gelegen hatte, durchbrach den Bann. Paul griff sich an den Hals. Es war als hätte ihm jemand einen Eisenring darum gelegt.
Dann, völlig unerwartet, tobten atemberaubende Bilder der Zerstörung in seinem Kopf. Abrupt wußte er was geschehen würde.
Er sprang von seinem Sitz, drehte sich blitzartig den Kindern zu.
„In Deckung!“ schrie er.
Der ohrenbetäubende Knall kam fast gleichzeitig.
Eine gewaltige Druckwelle erfaßte den Bus. Steine und Metallgegenstände flogen durch die Luft. Die Kinder hatten sich zwischen den Sitzen und auf dem Gang verkrochen. Die Arme schützend über ihre Köpfe gelegt.
Zwei von den Kleineren, saßen noch auf ihren Plätzen und starrten paralysiert und ohne zu begreifen, aus dem Fenster. Paul riß sie an sich und begrub die zarten Körper unter seinem breiten Brustkorb.
Eine zweite Explosion, ließ nur einen Wimpernschlag später, die Fenster des Busses zerbersten. Unmengen von Glasscherben fegten über die Kinder hinweg, durchschlugen die gegenüberliegenden Scheiben und breiteten sich wie ein Teppich auf der Straße aus.
So plötzlich wie das Inferno begonnen hatte, so war es auch beendet.
"Ist jemand verletzt?" Paul erhob sich schwankend aus seiner hockenden Stellung. Voller Sorge betrachtete er die Kinder, die immer noch mit entsetzten und ängstlichen Gesichtern in ihren Positionen verharrten.
Er ging zu jedem einzelnen, Glas knirschte unter seinen Füßen.
Wie durch ein Wunder hatte sich niemand ernsthaft verletzt.
Das Leben kehrte in den Bus zurück. Jemand rief: "Wow, das war ja irre."
Einige lachten, andere zitterten, doch alle standen sie unter Schock.
Während Paul und die Kinder den Bus verließen, hörten sie Sirenengeheul.
Aus den nahe gelegenen Häusern strömten die Menschen um Hilfe anzubieten oder auch nur um ihre Sensationslust zu befriedigen.
Doch Paul und die Schüler starrten fassungslos auf die Stelle, wo einmal ein Bürohaus gestanden hatte. Die Trümmer hatten die Straße und die Bushaltestelle unter sich begraben.
Noch am gleichen Tag berichteten die Medien von einem Bürokomplex, der durch eine undichte Gasleitung explodiert war. Von einer Heerschar Schutzengeln ohne die der Bus und seine Insassen wohl kaum so unbeschadet davon gekommen wären. Von dem Busfahrer, der auf seltsame Weise seinen Fahrplan nicht eingehalten hatte und damit das Leben von fünfzig Kindern und sein eigenes gerettet hatte.
Am späten Nachmittag saß Paul an seinem Schreibtisch und starrte auf ein weißes Blatt Papier. Seine Frau hatte ihn kurz vorher schweigend in den Arm genommen.
Noch konnte er kaum fassen was heute geschehen war.
Hatte sich der Teufel doch noch erinnert und versucht Elend über den Ort und seine Bewohner zu bringen?
Was war in ihm geschehen, dass er die Katastrophe vorausgesehen hatte?
Um es zu ergründen und nie wieder zu vergessen, setzte er seinen Stift an und schrieb.
Es geschah an einem ganz normalen Morgen.