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Es gibt halt immer was zu tun
Es gibt halt immer etwas zu tun
Ich weiß nicht, wie es ist, einen Krieg zu erleben. Im Fernseher sehe ich Bilder davon. Fotos von halbverbrannten Menschen, deren Haut in grauen Fetzen vom Körper hängt und in Farbe. Soldaten, die in ihrer schweren tarnfarbenen Uniformen durch zerbombte Straßenläufe patrouillieren. Mit ihren teuren Waffen bewachen sie die karge Ruinenstadt und schützen Zivilisten, die ihre zerstörten Häuser aufbauen. Auf irgendeinem Markt, in einer Stadt, deren Name ich nicht einmal aussprechen kann, sprengt sich ein Terrorist in die Luft, ohne Bekennervideo. Dreiundvierzig Tote und sieben Verletzte, meldet der Nachrichtensprecher.
Draußen fallen erste große Regentropfen zu Boden, ich lege mir die weiche Wolldecke von der Sofakante um und wickele mich bis zum Kopf in ihr ein. Mir ist plötzlich so kalt.
Zwischen den Marktständen sehe ich eingetrocknete Blutlachen, verzweifelt Weinende und einen Krankenwagen. Nicht weit entfernt kurvt hektisch ein Militärjeep herum, olivgrün und dick bereift. Ein Gefährt für alle Fälle, nur für den einen Fall gebaut. In einer riesigen Fabrik hergestellt, von einer Industrie, die Waffen am Fließband produziert und ein Teil unseres Wirtschaftssystems ist.
Der anfängliche Schauer steigert sich zu einem grausigen Unwetter und in meinem Vorgarten biegt der Wind die schmale Birke zu allen Seiten, er peitscht die Regentropfen gegen die Fensterscheiben und das trommelnde Geräusch erinnert mich an die kleinen Maschinengewehrsalven aus den Lautsprechern. Orkan Wilhelm ist im Anmarsch, der Wetterfrosch empfiehlt, heute Abend das Haus nicht mehr zu verlassen. Ich habe nichts dagegen, sitze ich doch jeden Abend vor der Flimmerkiste und schlürfe meinen Tee. Etwas besorgt betrachte ich die brachiale Naturgewalt und den Baum nahe des Hauses, dessen Äste wild geschüttelt werden. Gleich beginnt der Abendfilm, ich stelle die Lautstärke höher, um nichts zu versäumen und übertöne den lärmenden Sturm mit Leichtigkeit. In letzter Zeit stürmt es immer öfter, nach Naturkatastrophen sprechen Klimaforscher in Sondersendungen immer von der Klimaerwärmung. Was sollen sie auch anderes tun, als Klimaforscher? Alles liegt am Klima, sogar Kriege resultieren aus dem schlechten Betriebsklima in der Politik.
Dienstag, zwei Tage später, entdecke ich meine jammernde Nachbarin in einer ordinären Boulevardsendung. Ihr Ehemann ist von einem herabfallenden Ast erschlagen worden, ein weiteres Opfer von Orkan Wilhelm. Geschockt und ein wenig stolz über die ihr zuteil werdende Aufmerksamkeit berichtet sie von dem Unglück, das ihr widerfuhr. Auf die Frage des Reporters, wie sie sich nun fühle, antwortet sie, in wechselnden Bildern zurechtgeschnitten: Ich bin sehr traurig, das alles ist für mich nicht zu fassen. Aber die Beerdigung muss organisiert werden, Einladungen geschrieben und der Leichenschmaus hergerichtet werden. Ich muss meine Trauer aufschieben, bis unser geliebter Ehemann und Vater unter der Erde ist. Es gibt halt immer etwas zu tun.
Ich ziehe mir die treue Wolldecke fester um meine Schulter, nippe an dem heißen, süßen Tee und sehe die blaue Weltkarte der Tagesschau aufziehen. Heute wird mir nicht wärmer.