- Beitritt
- 18.04.2002
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Es gibt keine experimentellen Geschichten …
… oder sind alle Geschichten experimentell?
Um diese Frage zu entscheiden, ist es angebracht festzulegen, was eine experimentelle Geschichte *) ist bzw. worin der experimentelle Aspekt einer Geschichte besteht.
Geht man von dem Begriff ‚Experiment’ (‚Versuch’; ‚In Erfahrung bringen’) aus, kann man zwei Arten von Experimenten **) unterscheiden:
1) Das Bestätigungsexperiment
Man arrangiert die Versuchsbedingungen so, dass eine Hypothese möglichst bestätigt wird (geschieht dies nicht, ist dies auch ein Erkenntnisgewinn, nach Popper sind nur Falzifizierungen aussagekräftig).
2) Das Offene Experiment
Man überprüft, was unter bestimmten Bedingungen passiert, leitet gegebenenfalls daraus Hypothesen ab. ***)
Diese Ansätze kann man auf das Schreiben von Geschichten anwenden. Die Versuchshypothese lautet dann z.B.
- Ich kann einen Text schreiben, in dem alle Wörter mit ‚E’ beginnen (Fall 1. Die Literaturgruppe Oulipo bzw. Ou-X-Po nennt solch ein Vorgehen ‚contrainte’, eine kreative Beschränkung).
- Oder: Ich probiere aus was passiert, wenn ich alle Satzaussagen in einem gegebenen Text wegstreiche (in diesem Fall - der Nr. 2 entspricht - ergibt sich ein starker Zufallseffekt).
Sind nicht alle Geschichten (nicht nur die, die ein Experiment sein sollen) ‚Versuche’? Ein Autor macht gewisse inhaltliche oder stilistische Annahmen, man versucht dann einen (mehr oder weniger) passablen Text zu schreiben. Wenn jegliches Schreiben einen ‚Versuch’ darstellt, was rechtfertigt dann die Klassifizierung ‚Experimentelle Geschichte’? Positiv ausgedrückt bedeutet dies: Wie vollzieht ein Autor den Sprung von der ‚normalen’ Geschichte zur experimentellen?
Außerdem: Leider beziehen sich die meisten Experimente hier in der Rubrik auf die Form, nur selten findet man inhaltliche Experimente. Wenn man eine Geschichte schreiben will, deren Wörter nur mit ‚E’ beginnen, hat dies sicherlich Einfluss auf den Inhalt des Textes (das ist ein Beispiel für eine Mischform eines Experiments). Doch es ist auch möglich inhaltliche Experimente durchzuführen, die von der Form unabhängig sind (z.B. wenn ein Text aus Bruchstücken verschiedener Werke besteht). Vielleicht können wir weitere Möglichkeiten inhaltlicher Experimente diskutieren?
*) Die Vorgabe ‚experimentelle Geschichte’ schränkt einerseits die schriftstellerischen Möglichkeiten ein, andererseits bewahrt sie vor einem zu schnellen Abdriften ins Unsinnige.
**) Natürlich ist dies nur eine grobe Einteilung. Induktion, Deduktion, logisches Schließen, spielen hier auch eine Rolle.
***)Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Experiment zieht man aus literarischen keine Schlussfolgerungen, allgemein gültige Aussagen werden nicht abgeleitet (obwohl dies im Einzelfall eines Experimenttyps denkbar ist).