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Es ist Zeit

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17.08.2005
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Es ist Zeit

ES IST ZEIT.doc​

Die Sonne eines späten Sommernachmittages senkte sich langsam immer tiefer zwischen die Hochhausschluchten von New York und tauchte langsam alle Wohnungen und Büros mit Blick zum Osten in ein malerisches Licht. Es war ein wirklich heißer Augusttag, am blauen Himmel war keine Wolke zu sehen und alle Klimaanlagen der Stadt liefen auf Hochbetrieb.
Auch die in Johnny Winters‘ Büro. Johnny Winter war sein Künstlername, er organisierte Musikevents in der ganzen Stadt und war der Meinung, dass der Name, den seine Eltern einst in seine Geburtsurkunde hatten eintragen lassen, nicht griffig genug, nicht zack, Johnny Winter – mäßig genug klang.
Er muss dir im Kopf bleiben, verstehst du?! Der Name muss sich sofort in deinem Kopf ein Zimmer mieten und darf nie mehr ausziehen, hatte Johnny oft am Anfang seiner Karriere gesagt, wenn man ihn nach dem Grund seiner Namensänderung gefragt hatte.
Er hatte jedoch nicht wirklich seinen Namen geändert; er war immer noch der alte Julius Arthur Winter, aber mit der Zeit waren die Leute dazu über gegangen, ihn einfach Johnny oder John oder Joe zu nennen, weil er sich selbst bei jeder Gelegenheit so nannte. Und das gefiel ihm. Johnny Winter, das blieb haften. Der Name ist die halbe Miete. Mundpropaganda, Lenny, Mundpropaganda ist in meinem Geschäft das A und O. Dein Name als Eventmanager muss sich rumsprechen, er muss dir im Kopf bleiben. Lenny war ein guter Freund von ihm, den er schon aus Kindertagen kannte und heute noch mehrmals in der Woche traf. Er war der einzige (neben seinen Eltern), der ihn noch bei seinem richtigen Namen nannte.
Die drei und Mrs. March, seine alte Klavierlehrerin. Er wusste zwar nicht, ob sie überhaupt noch lebte, aber er war überzeugt davon, dass sie ihn auch heute noch mit Julius Arthur ansprechen würde. Er hatte den Klavierunterricht bei Mrs. March geliebt und seine Eltern hatten ihn sich vom Munde abgespart. Fünf Jahre lang war er jeden Mittwoch allein hin- und wieder zurückgelaufen. Unterwegs spielte er im Kopf seine Stücke immer wieder durch und er hatte zu Hause sogar verschwiegen, dass er um ein Haar mal auf dem Rückweg überfahren worden war (ein Mann hatte ihn damals in letzter Sekunde von der Straße gerissen und er hatte sich vor Schreck die Hosen nass gemacht), aus Angst, seine Eltern würden ihn nicht mehr zu ihr gehen lassen. Sein Vater war sehr konsequent in solchen Dingen (besorgt hätte es seine Mutter genannt) und er konnte sich daran erinnern, dass er trotzdem nicht ins Bett gekommen war, ohne die starke (besorgte) Hand seines Vaters gespürt zu haben. Er hätte den Grund nicht mehr beschwören können, hätte es aber auf die nasse Hose zurückgeführt, die er nicht hatte vor ihm verstecken können. Er war davon überzeugt, dass der Klavierunterricht bei Mrs. March den Grundstein dafür gelegt hatte, dass er heute als Eventmanager für Musikveranstaltungen arbeitete.
Eigentlich waren Lenny und er heute zum Abendessen verabredet gewesen – Ich hab Feierabend, er hat Feierabend und wir haben beide keine Frau, warum sollen wir da nicht zusammen essen? rechtfertigte er sich manchmal, wenn er das Gefühl hatte, Gerüchte aus der Welt schaffen zu müssen; einfach zack, Johnny Winter – mäßig –, aber daraus würde heute wohl nichts werden. Es lag noch ein Haufen Arbeit auf seinem Schreibtisch im 13. Stock des Bürogebäudes.
Es machte -Pling- und die Fahrstuhltür öffnete sich unter der schwarzen Fläche, auf der rote Leuchtdioden die Zahl 13 formten und Johnny Winter trat eilig heraus, lief durch den langen Flur und öffnete dann die Bürotür, deren Türschild seinen eigenen Namen trug. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, schlicht, einprägsam, eben zack, Johnny Winter – mäßig.
Er wischte sich mit der Hand die letzten Krümel des Croissants aus den Mundwinkeln, das er gerade auf die schnelle unten in der Kantine gegessen hatte, und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Zuerst wollte er Lenny anrufen und ihm absagen – zum vierten Mal in zwei Wochen. Er nahm den Hörer in die Hand und drückte den Knopf, unter dem mit Bleistift auf dem kleinen Etikett Lenny-Handy geschrieben stand. Währenddessen bewegte er die Maus seines Computers, um ihn aus dem Tiefschlaf des Stand-by-Modus zu erwecken.
„Hey, Lenny… du, ich mu… erraten, bin ich wirklich so berechenbar?… Hör mal, tut mir echt leid, aber wenn du meinen Schreibtisch seh… was ist das denn?… Bitte? Nein, nicht du, hier ist nur so eine merkwürdige Datei auf meinem Rechner. Du, ich muss Schluss machen, wir sprechen uns morgen.“ Er wartete kaum Lennys Antwort ab, da hatte er schon aufgelegt.
Während er mit Lenny gesprochen hatte, hatte er gedankenverloren mit der Maus herumgespielt und war zufällig im Ordner „Eigene Dateien“ gelandet. Hier waren alle Texte aufgelistet, alle Konzepte, alle Planungen für die Events, die er plante oder bis vor einiger Zeit geplant hatte. Dass etwas in diesem Ordner nicht stimmte, merkte er sofort. Man brauchte nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu entdecken, dass eine Datei dazugekommen war, die nicht von ihm stammte.
Sie war als einzige nur in Großbuchstaben geschrieben und das Datum, das er gewohnheitshalber bei jedem Speichern hinter den Dateinamen schrieb, fehlte.
Er wollte es nicht – Virus! Virus! rief sein Verstand ihm zu –, aber eine unheimliche Macht, eine nahezu kindlich unnachgiebige Neugier ergriff Besitz von ihm und zwang seine Hand und somit auch den Mauszeiger in Richtung dieser fremden Datei. Er war nur noch einen Doppelklick von einer eventuellen Katastrophe entfernt. Die letzte Sicherungskopie seiner Daten lag an die vier Wochen zurück und es würde ihn nervtötende Sonder- und Nachtschichten kosten, um den Schaden wieder auszubügeln, den ein Virus ihm zufügen konnte.
Rechte Maustaste, löschen! Rechte Maustaste, LÖSCHEN!
Er ignorierte den rational arbeitenden Teil seines Verstandes und öffnete die Datei mit dem Namen ES IST ZEIT.doc.
Sofort öffnete sich sein Textverarbeitungsprogramm und der Text, den wer auch immer geschrieben und wer auch immer auf seinen Rechner geschickt hatte, erschien bedrohlich (kalt und ewig, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf) und zugleich anziehend auf seinem Bildschirm.

Dem durchschnittlichen New Yorker wäre er vermutlich nicht aufgefallen. Artie war 12 Jahre alt, für sein Alter relativ klein und ziemlich in Panik, als John über ihn stolperte. Er war auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung und in seinen Gedanken ganz woanders. Außerdem war dies die 3rd-Avenue, auf der sich täglich hunderttausende von Menschen bewegten. Da konnte man einen kleinen Jungen schon mal übersehen, zumal er sich auf allen Vieren befand und offensichtlich etwas suchte.
John hinkte einige Meter auf einem Bein, wedelte mit den Armen (wobei er einer älteren Dame, die ihn daraufhin kurz erschrocken und zugleich argwöhnisch musterte, aber dann wortlos weiterging, beinahe die Handtasche vom Arm gerissen hätte) und fand schließlich sein Gleichgewicht wieder, bevor sein Körper unsanfte Bekanntschaft mit dem grauen, harten Beton der 3rd-Avenue Fußwege hätte machen müssen.
„Tut mir leid, Sir.“ sagte der kleine Junge und blickte zu John auf, der immer noch nicht ganz begriffen hatte, was passiert war.
„Was? Achso, ja. Kein Problem.“ Er wollte schon weiter gehen – er hatte es schließlich eilig -, aber dann überlegte er es sich anders und ging einen Schritt auf den Jungen zu.
„Du solltest hier nicht auf dem Gehweg herumkriechen, Kleiner. Das ist gefährlich. Jemand könnte dich mit seinem Fahrrad oder sonst was rammen.“ Er hörte sich selbst reden und fand, dass er reichlich lächerlich klang.
„Ich habe meine Brille verloren“, sagte Artie. „Ich wollte Sie putzen und dann ist sie mir weggefallen. Jemand hat sie weggetreten und jetzt finde ich sie nicht mehr.“ Der kleine Junge war den Tränen nahe und völlig verzweifelt. John beugte sich zu ihm hinunter und warf einen Blick zwischen das Beingewirr, das nun um seinen Kopf herum wimmelte. Es war offensichtlich hoffnungslos.
„Tja, Kleiner, ich schätze deine Ma wird dir eine neue Brille kaufen müssen“, sagte er und bemühte sich, nicht allzu grob zu klingen. Der Junge sah aus, als hätten seine Eltern nicht gerade im Lotto gewonnen. Trotzdem, er hatte eine wichtige Verabredung und in New York verloren die Leute ständig irgendwelche Dinge. Ein Blick auf seine Armbanduhr gab ihm den Rest. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter, wünschte ihm viel Glück und betonte noch mal, dass es sehr gefährlich sei, auf dem Gehweg herumzukriechen. Dann erhob er sich und ging weiter.


Der Text war noch länger, aber Johnny hatte schlicht keine Zeit für solchen Blödsinn. Was immer es auch war, es war Unsinn und er hatte Wichtigeres zu tun.
Er würde jetzt zuerst den Papierkram auf seinem Schreibtisch aufräumen (System braucht der Mensch, Jules, System, hatte sein Vater ihm als Kind stets eingetrichtert), alles soweit in Ordnung bringen, dass er vernünftig arbeiten konnte, dann
(Dem durchschnittlichen New Yorker wäre er vermutlich gar nicht aufgefallen.)
würde er sich dem Charity - Projekt Joy To The World zuwenden, das in der Vorweihnachtszeit im Madison Square Garden stattfinden sollte. Rechtzeitige Vorbereitung war alles.
(… als John über ihn stolperte.)
Ständig wanderten seine Augen über den Text, der noch immer auf dem Bildschirm seine kalte und ewige Atmosphäre verbreitete. Ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Er griff hektisch nach der Maus und führte den Zeiger auf das orangefarbene X in der rechten oberen Ecke des Bildschirms. Nach nur ein paar Klicks hatte er sich von der fremden Datei befreit:
„Programm schließen“
„Datei löschen“
„Papierkorb leeren“
Problem gelöst.
Einfach zack, Johnny Winter – mäßig.
Beethovens 9te ertönte und er griff intuitiv nach seinem Handy. Die Memofunktion erinnerte ihn an einen wichtigen Termin mit Dave Bowers, dem Besitzer des „Factory 11“. Das Factory 11 hatte vor drei Jahren eröffnet und sich zwar nicht zum Publikumsrenner, aber immerhin zum echten Geheimtipp gemausert. Hin und wieder fanden dort Jazz- und Soulabende statt und Johnny war gerade auf der Suche nach einer passenden Location für ein Newcomer-Event, das eher in kleinem Rahmen ablaufen sollte. Er war schon einmal dort gewesen und fand, dass das Factory 11 (das seinen Namen dem alten Fabrikgelände verdankte, auf dem es stand) die richtige Atmosphäre hatte.
Ohne den guten, alten Ludwig van hätte er den Termin glatt vergessen. Dann musste die Schreibtischarbeit eben warten. Er schaltete den PC ab, warf sich seine Sommerjacke über die Schulter und verließ sein Büro so eilig, wie er es vor weniger als fünf Minuten betreten hatte.
Irgendwie hatte er es gewusst. Oberflächlich hatte er die ganze Sache schon halbwegs vergessen gehabt, aber als er auf dem Rückweg von seinem (sehr Erfolg versprechenden) Gespräch mit Dave Bowers den unerwarteten Widerstand an seinem rechten Fuß spürte, ins Stolpern geriet und nur mit Glück einem unsanften Sturz entging, wusste er, dass es der Junge war.
„Tut mir leid, Sir“, sagte das vielleicht elf- oder zwölfjährige Kind, das auf dem Gehweg der stark befahrenen 3rd -Avenue herumkroch und offensichtlich irgendetwas suchte.
Einen Moment lang sah Johnny den Jungen nur an und war nicht fähig, seine Lippen zu einer Antwort zu überreden. Etwas an ihm war anders, faszinierend und doch befremdlich. Wenn man ihn gefragt hätte,
(Er passt hier nicht rein)
hätte er es nicht beschreiben können. Es war etwas, das mit Worten nicht auszudrücken war.
(Ist da gerade eine Frau durch sein Schienbein gelaufen?)
Er schüttelte kurz und heftig den Kopf, als wäre dieser verquere Gedanke eine Fliege in einem Glas gewesen, die er durch Schütteln betäuben konnte.
„Was? Achso, ja. Kein Problem“, sagte Johnny, ohne zu wissen, dass dies genau der Antwort aus der urheberlosen Geschichte auf seinem Computer entsprach.
„Was machst du da unten überhaupt?! Weißt du nicht, dass das gefährlich ist?“ Er versuchte, ruhig zu wirken und bat innerlich darum, dass der Junge vor seinen Füßen nicht nach seiner Brille suchte.
„Ich habe meine Brille verloren“, sagte der Junge. „Ich wollte sie putzen und dann ist sie mir runtergefallen…“
„… und jemand hat sie weggetreten“, vervollständigte Johnny den Satz für ihn.
„Ja, genau.“
Etwas wie ein Blitz zuckte durch seinen Kopf und ihm wurde schwindelig. Er war wie gelähmt.
(Da! Hast du das nicht gesehen? Der Junge auf dem Skateboard ist durch seine Hand gefahren. Nicht darüber, nein, direkt hindurch!)
Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Er spürte das Pochen bis in den Hals hinein. Schnelle, dumpfe Schläge, die sich wie pulsierende Bässe in einer Disco anhörten, aber so erstickt, wie man sie nur im Waschraum oder direkt vor der Eingangstür wahrnahm.
(Sieh es dir an! Schon wieder!)
(Er passt hier nicht rein)
„Geh nach Hause.“ sagte Johnny plötzlich und war überrascht, wie fest seine Stimme klang. „Geh nach Hause, Junge. Deine Eltern werden dir eine neue Brille kaufen.“
Er ging einen Schritt. Dann noch einen. Er wollte nur weg von diesem Kind. Sein Gang wurde zu einem Laufen und sein Laufen wurde schließlich zu einem Rennen und dieses Rennen hörte erst wieder auf, als er in den Fahrstuhl rauf zu seinem Büro stürzte.
Alles war irgendwie nicht real. Er fühlte sich wie in einem weichen, dicken Traum, aber so wie die Stockwerke auf der Leuchtdiodenanzeige an ihm vorbeiflogen, wich auch langsam die Panik aus ihm und der alte (zack!) Johnny Winter, der an Menschen, die andere Menschen durch sich hindurch laufen lassen konnten, nicht mal im weichsten und dicksten Traum glaubte, wagte sich langsam wieder ans Tageslicht. Er hatte Stress, er hatte wenig geschlafen (seit Wochen, das konnte ja nicht gut enden) und er stand unter starkem beruflichem Druck. Das war es. Das hatte ihn kurz aus der Bahn geworfen, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt, da er auf dem Weg vom zehnten in den elften Stock war, hatte er sich wieder gefangen. Mein Gott, Kinder verloren jeden Tag ihre Sachen. Kein Grund, vor ihnen Reißaus zu nehmen.
Nicht weiter tragisch, Johnny, so was kommt vor.
Es machte -Pling- und die Fahrstuhltür öffnete sich unter der schwarzen Fläche, auf der rote Leuchtdioden die Zahl 13 formten und Johnny Winter trat erleichtert und über sich selbst lächelnd heraus.
Dieses Lächeln erstarb augenblicklich, als er seine Bürotür öffnete.

Der Drucker surrte monoton vor sich hin. Ein Blatt nach dem anderen schoss heraus und segelte auf den Fußboden, auf seinen Schreibtisch und auf die Aktenschränke. Alles war voller Papier. Überall türmten sich willkürlich kleine Haufen auf, Blätter fielen von der Schreibtischkante herunter auf die Berge, die sich auf dem Boden ausbreiteten. Sein ganzes Büro sah aus, als hätte jemand wahllos ganze LKW-Ladungen DIN A4-Blätter darin verteilt. Er stand bis zu den Knöcheln in weißem Papier.
Er wollte rennen. Er war plötzlich davon überzeugt, dass er wahnsinnig geworden war. Die fremde Geschichte, dieser Junge, dieses Büro.
Aber er rannte nicht. Er bahnte sich einen Weg durch die Papierberge zu seinem Drucker und riss mit einem heftigen Ruck die zwei Kabel aus der Rückseite. Augenblicklich hörte das monotone Surren auf
(Problem gelöst)
und das letzte Blatt blieb erst zur Hälfte bedruckt in dem Gerät stecken. Er musste sich beruhigen, aber das war unmöglich, vor allem, da er jetzt feststellte, dass der Computer selbst gar nicht eingeschaltet war.
(Der Drucker war auch nicht eingeschaltet, als du gegangen bist)
Er griff wahllos in den Papierhaufen auf seinem Schreibtisch und sah, dass auf allen Blättern das Gleiche stand. Es war die Geschichte, die
(du vor drei Stunden von deinem Computer gelöscht hast)
er vor drei Stunden auf seinem Computer gefunden hatte. Ein Virus, sagte er sich. Es ist eine ganz neue Art von Virus. Ein Virus, der den Drucker manipuliert
(und tausende Blätter Papier herzaubert, die nie im Leben in die Vorratsschublade gepasst hätten?)
und die angehängte Datei immer wieder ausdruckt.
Er las den Rest der Geschichte mit zitternden Händen und verschwimmendem Blick.

… Dann erhob er sich und ging weiter.
Artie brach in Tränen aus. Wenn er die Brille nicht wieder fand, würde er zu Hause sein blaues Wunder erleben, aber es hatte keinen Sinn. Nach einer Viertelstunde gab er auf. Er sah ohne Brille sehr schlecht und seine Augen brannten vor Anstrengung.
Er stand auf und ging zwischen den vielen unbekannten Menschen, deren Gesichter aussahen wie verschwommene Masken, wie Spiegelbilder in einem See in Richtung Norden. Er war diesen Weg schon viele Male gelaufen, also würde er schon zu Hause ankommen… obwohl er sich überhaupt nicht sicher war, ob er das wollte. Er würde heute sicherlich mit blauen und roten Pobacken ins Bett gehen.
Er bog in eine kleinere Straße ein und war froh, dass hier weitaus weniger Verkehr herrschte. Nach fünf Minuten erreichte Artie die Ampel, an der er sterben sollte.
Er drückte auf den Knopf, aber er konnte durch seine brennenden, kurzsichtigen Augen nicht erkennen, wann das grüne walk auf der anderen Straßenseite aufleuchtete.
Neben ihm hörte er Schritte, jemand ging an ihm vorbei über die Straße. Es musste grün sein.
Artie verließ die Sicherheit des Gehweges und wagte sich in das undeutliche Grau der Straße. Er hatte Angst, sein Herz schlug schneller und jetzt wollte er einfach nur zu Hause sein. Prügel hin oder her. Er würde es schon überleben. Von links hörte er ein Motorengeräusch sehr schnell – viel zu schnell - lauter werden, er hörte quietschende Bremsen, er hörte jemanden „PASS AUF, JUNGE!“ rufen und er hörte eine Frau schreien.
Der UPS-Lastwagen erfasste ihn, riss ihn von den Beinen und beendete sein junges Leben zehn Sekunden, bevor das leuchtend grüne walk auf der anderen Straßenseite aufleuchtete.
Wenn er dich will, dann bekommt er dich auch.

„Nein“, flüsterte Johnny in den jetzt totenstillen Raum hinein. Er begann zu begreifen. Er musste diesen Jungen wieder finden, sein Leben retten. Irgendwer
(Gott?)
hatte ihn, Johnny Winter dazu auserwählt, diesem kleinen Jungen das Leben zu retten. Er sah auf und
(War das gerade schon da?)
bemerkte, wie in riesigen, blutroten und triefenden Buchstaben etwas an die Bürowand geschmiert war. Er hatte Mühe, es zu entziffern, da
(das Blut)
die Farbe schon verlaufen war, aber glaubte die Worte ES IST ZEIT zu erkennen. Er drehte sich um und erschrak, als er die Worte auch an der anderen Wand entdeckte. Überall, immer wieder und in verschiedenen Größen. Auf seinen Aktenschränken, auf der Tür und auch quer über die weißen Papierberge standen in großen, blutigen Buchstaben die drei Worte.
Plötzlich begann der Drucker wieder zu surren, die Kabel lagen auf dem Boden, und auf den Blättern, die er jetzt im hohen Bogen in die Luft schoss waren ebenfalls nur noch drei große Worte zu sehen. ES IST ZEIT.
Hinter ihm an der Glasfront seines Büros hörte er ein leises aber energisches Pochen. Er wirbelte herum und sah Brian, den Fensterputzer. Er stand auf seinem Arbeitsgerüst und hatte in ebenso roter Farbe
(Bitte, lass es Farbe sein!)
ES IST ZEIT an das die Fenster geschrieben. Seine Lippen schienen ebenfalls diese Worte zu formen. Er sah aus, als würde er sie sich aus dem Leib schreien, aber durch die dicken Fenster konnte er nichts hören. Alles, was er hörte, war das Surren des Druckers und die dumpfen Herzschläge in seiner Brust. Er glaubte vollends den Verstand zu verlieren, als er sah, wie Brian, der Fensterputzer, der seit 25 Jahren jeden zweiten Dienstag
(heute ist nicht Dienstag)
die Fenster dieses Bürogebäudes auf Hochglanz brachte, sich auf seinem Gerüst umdrehte und mit Anlauf in die Tiefe sprang. In der Hand hielt er immer noch den dicken Pinsel mit der triefenden roten Farbe.
Diesmal rannte er.

Er stieß mit erschreckenden, verärgerten und verwunderten Passanten zusammen, aber er spürte nichts von alledem. Es waren alles Zeichen gewesen, Zeichen von ganz oben. Er hatte einen Auftrag von Gott (oder wer in dieser fremden Welt auch immer die Entscheidungen traf) höchstpersönlich bekommen. Er musste ein Menschenleben retten.
Irgendwie wusste er, zu welcher Kreuzung er musste.
Erinnerungsfetzen stiegen aus seinem Unterbewusstsein auf wie kleine Seifenblasen, die aber sofort wieder zerplatzten, als würden sie von seinem pochenden Pulsschlag erdrückt.
Er war diesen Weg schon oft gelaufen.
Er war nur noch zwei Blocks von der Ampel entfernt, die über Leben und Tod entscheiden konnte. Er war plötzlich davon überzeugt, dass er zu lange gezögert, dass er viel zu lange gewartet hatte. Es war Zeit, ja, es war höchste Zeit.
Johnny Winter hörte unter seinen Füßen Glas zerbrechen, aber er blieb nicht stehen.
(Das war die Brille. Arties Brille)
Er rannte weiter, bog in die Straße ein, in der weniger Verkehr herrschte als in der 3rd-Ave. und sah von weitem die roten Lichter der Ampel, die gerade auf Grün wechselten. Autos setzten sich in Bewegung, andere hielten an. Von irgendwoher drangen Klaviernoten
(Mrs. March, du kommst gerade von Mrs. March)
an sein Ohr – Mozart – und er war sich nicht sicher, ob sie wirklich real waren, oder ob nur er sie hörte.
Da war der kleine Junge. Er stand Hilfe suchend an der Ampel und hatte die rechte Hand über die zusammengekniffenen Augen gelegt, um besser sehen zu können, ob die Ampel auf rot oder grün stand.
„ARTIE!“ rief er ihm zu, während er beinahe wieder gestolpert wäre. Diesmal hätte eine schief verlegte Betonplatte des Gehweges ihn um ein Haar zu Fall gebracht. Sein Fuß schmerzte, aber auch das ging an ihm vorbei. Sein Blickfeld wurde immer kleiner, war nur noch auf den Jungen gerichtet, während er von verwirrten Blicken gemustert auf die Ampel zu rannte und immer wieder seinen Namen rief.
(Wenn Dad gute Laune hatte, hat er dich auch immer Artie genannt)
Der Junge setzte vorsichtig einen Schritt auf die Straße.
„NEIN! BLEIB STEHEN, ARTIE! BLEIB STEHHEN!“ Johnny war noch gute dreißig Meter von ihm entfernt, aber der Junge schien ihn nicht zu hören, auch wenn er sich die Kehle wund schrie. Er lief weiter auf die Straße und ging nun auf die Mitte der rechten Fahrspur zu.
Die Betonplatten flogen nur so unter Johnnys Füßen hinweg und er hatte die Straße fast erreicht. Von links sah er den UPS-Lastwagen. Was er nicht sah, war, dass der Fahrer gerade auf dem Beifahrersitz eine Karte ausgebreitet hatte und nach einen Straßennamen suchte.
„PASS AUF, JUNGE!“, rief er. Völlig geistesabwesend stürzte Johnny auf die Straße, auf den Jungen zu, den nur er sah.
Der Lieferwagen war erschreckend nahe gekommen, der Fahrer sah plötzlich, durch die Schreie dieses offenbar Verrückten aufgeschreckt, wieder auf die Straße und eine Sekunde später quietschte das Gummi der Reifen auf der Straße.
Johnny Winter wollte sich auf Artie werfen, ihn damit auf den sicheren Mittelstreifen ziehen. Er griff nach seinen Schultern, während der Lieferwagen nur noch knappe fünf Meter von ihm entfernt war, doch er griff ins Leere. Da waren keine Schultern,
(du hast durch ihn hindurch gegriffen)
da war gar nichts mehr. Artie war verschwunden.
(Du bist Artie! Du bist Artie und Artie ist du!)
Der UPS-Lastwagen erfasste ihn frontal und schleifte ihn über die Straße. Wenn er dich will, dann bekommt er dich auch.

 

Hi Underground und erstmal herzlich Willkommen!

Ich verdränge mal die Worte: Frischfleisch .... :D

Erstmal Kleinkram, der mir beim Lesen auffiel:

Du verwendest viel zu viele Formatierungen. Wenn man über den Text scrollt sieht man eigentlich nur Klammern und Fettgedrucktes. Kursiv wirkt mE besser und ist weniger aufdringlich. Und einige Klammern kannst du in Kommata verwandeln.

wenn er das Gefühl hatte, Gerüchte aus der Welt schaffen zu müssen; einfach zack, Johnny Winter – mäßig –,
Johnny-Winter-mäßig
Es lag noch ein Haufen Arbeit auf seinem Schreibtisch im 13. Stock des Bürogebäudes.
Du quetscht einige Details in Nebensätze, die eigentlich unwichtig für den Leser sind. Streichenswert (Vor allem weckt die Zahl »13« an sich in diesem Genre keine positiven Assoziationen ;) )

Ich wollte Sie putzen und dann ist sie mir weggefallen.
runter gefallen

Du scheinst gerne Stephen King zu lesen, hab ich recht? :D
Das merkt man vor allem an Szenen wie:

Etwas an ihm war anders, faszinierend und doch befremdlich. Wenn man ihn gefragt hätte,
(Er passt hier nicht rein)
hätte er es nicht beschreiben können. Es war etwas, das mit Worten nicht auszudrücken war.
(Ist da gerade eine Frau durch sein Schienbein gelaufen?)
Er schüttelte kurz und heftig den Kopf, als wäre dieser verquere Gedanke eine Fliege in einem Glas gewesen, die er durch Schütteln betäuben konnte.
Diese Einschübe sind sehr King-mäßig. ;)

„Geh nach Hause.“ sagte Johnny plötzlich und war überrascht, wie fest seine Stimme klang.
Kleine Anmerkungen: Bei einer wörtlichen Rede, die mit einem Punkt enden würde, danach jedoch mit einem ...", sagte, fragte, meinte ergäntzt wird, gehört kein Punkt, dafür nach den "" ein Komma.
Ergo: "Geh nach Hause", sagte Johnny...
Jedoch bleiben Ausrufe- oder Fragezeichen: "Gehst du nach Hause?", fragte Johnny.

Er rannte weiter, bog in die Straße ein, in der weniger Verkehr herrschte als in der 3rd-Ave. und sah von weitem die roten Lichter der Ampel,
ausschreiben

Alles in allem hat mir deine Geschichte gefallen. Du schreibst sehr routiniert (trotz der Ähnlichkeit zu einem gewissen *räusper* :D ), ich denke mal, das ist nicht eine deiner ersten Geschichten. Du schaffst eine recht gute Atmosphäre, wirfst allerdings teilweise mit zuvielen Einzelheiten um dich, die der Leser nicht zu wissen braucht.

Der Plot an sich ist jedoch nichts besonders. Man erwartet dieses Ende, dass der Tod sich seine Seelen holt, obwohl er schon einmal daran gehindert wurde. Dass du den Jungen Artie titelst trägt einiges dazu bei.

Ich würde sagen, du streichst dieses Artie. Lass den Jungen halt einfach nur Jungen heißen, der Leser wüsste zwar wahrscheinlich trotzdem recht früh, worums ging, alledings wäre es nicht so offensichtlich. Nur ein Vorschlag.

Nunja, vielleicht konnte ich dir ein wenig helfen und noch viel Spaß in diesem Forum!


Liebe Grüße,
Tama

 

Tag, Tamira ...

Erstmal riesiges Dankeschön für den Willkommensgruß,
mal sehen, wie ich mich hier als "Frischfleisch" zurechtfinde. Grade im Horrorgenre kann das Frischfleisch-Sein mitunter ja recht gefährlich werden.

Zweiter Dank geht an die ausführliche Kritik.
Und noch ein Kompliment oben drauf, weil du sofort erkannt hast, vom wem ich meinen Schreibstil geklaut hab :)

Ich werd noch den ein oder anderen Satz zu meiner Rechtfertigung ablassen, aber es sei vorweggenommen, dass deine Kritik mir doch sehr geholfen hat... und noch hilft :)
Mal sehen, ob ich das mit dem Zitiren auch hinkrieg...

Es lag noch ein Haufen Arbeit auf seinem Schreibtisch im 13. Stock des Bürogebäudes.

Ja, geht! Das mit dem zitieren, mein ich.
Gut, das mit der 13 ist vielleicht ein bisschen... albern oder so. Ich dachte an meinen Johnny Winter und was für ein Pech er im Laufe der Geschichte haben würde, und na ja, Pech = 13... Aber du hast Recht, wenn ich auch generell nix sinnloses darin sehe, die Geschosszahl seines Büros reinzuschreiben, weil später ja noch darauf zurück gekommen wird (das sagt man bestimmt nicht so...), in der 2. Aufzugszene. Und ich dachte, der Leser hat ein besseres Bild vom Büro und der Aussicht über New York... von der "Gesamtsituation" halt. Aber darüber lässt sich streiten... will ich aber nich... ;)

Du verwendest viel zu viele Formatierungen

Okay, zu meiner Rechtfertigung: Das Fett sieht hier im Forum sehr fett aus. Die originale Version ist weitaus weniger aufdringlich.
Fett ist sie, weil sie sich von dem restlichen Krams abheben soll. Ich hatte sie aus kursiv ausprobiert, aber ich dachte, dann ist der Unterschied zu den kursiv gedruckten "Gedanken" nicht mehr da und der arme Leser ist verwirrt... Rechtfertigung ende.

Das mit dem "bla bla", sagte er ist sehr hilfreich. Ich habe das vor Kurzem mal irgendwo bemerkt und war seither zu faul alle Geschichten zu verbessern. Ich schäme mich...

Tja, nun, es freut mich, dass dir die Geschichte trotz der Durchschaubarkeit gefallen hat...
Hast auch recht, das ist nicht meine erste Geschichte. Demnächst kommt mehr... stay tuned :-)

Gruß, Underground

 

Die Sonne eines späten Sommernachmittages
Sommernachmittags
aber mit der Zeit waren die Leute dazu über gegangen
übergegangen
Johnny Winter - mäßig
Leerstellen weg
um ihn aus dem Tiefschlaf des Stand-by-Modus
Stand-by-modus'
tut mir echt leid
Leid groß
gewohnheitshalber
Word empfiehlt gewohnheitsfalber :dozey: wored ist für mich gestorben
Er wollte es nicht - Virus! Virus! rief sein Verstand ihm zu -
da fehlt ein "öffnen". entweder nach nicht oder nach dem zweiten -
auf der sich täglich hunderttausende von Menschen bewegten
Hunderttausende
Da konnte man einen kleinen Jungen schon mal übersehen, zumal er sich auf allen Vieren befand und offensichtlich etwas suchte.
hm, ich glaube, dann würde er erst recht auffallen
"Tut mir leid, Sir." sagte
Leid, Sir", sagte
Achso, ja.
Ach so
Er wollte schon weiter gehen
weitergehen
"Ich wollte Sie putzen
Artie wollte John püutzen? ;) sie klein
Beethovens 9te ertönte
neunte
"Factory 11". Das Factory 11
ent oder weder
Ohne den guten, alten Ludwig van hätte er den Termin glatt vergessen.
Komma weg. und änder das. beethoven war ein huansohn, der alles nur von mozart geklaut hat
und tausende Blätter Papier herzaubert
Tausende groß
an sein Ohr - Mozart - und er war sich nicht sicher
geht doch! :)
Hi Underground, Meister der Horror/Grusel-kategorie.
Deine Geschichte wirkt, als hätte Stephen King von dir geklaut, mit den kursiven Klammern.
Auch die Stelle mit der Ampel - sie findet sich in - ich glaube - "Wolfsmond"; oder jedenfalls in einer der kingbücher der schwarezn turm saga.
:heilig: Bruder Tserk

 

Hey tserk!
Mensch, da hab ich ja gar nicht mehr mit gerechnet, dass nach so langer Zeit noch jemand diese Geschichte liest. Juhu!
Danke für deine Rechtschreibverbesserungen... ich hab grad nich so viel Zeit, weil ich zur Uni radeln muss, aber ich werd den Text bald dank der Hilfe deiner wachen Augen wieder ins rechte Licht rücken (ich hoffe, dass ich dran denke)...

Ja, Stephen King... ich muss zugeben, mein Lieblingsautor...
absichtlich geklaut oder sagen wir "als gut befunden und übernommen" hab ich das mit den kursiven Klammern.

Die Stelle mit der Ampel allerdings mit ehrlich neu, da ich weger Wolfsmond noch eines der dunklen Turm - Werke gelesen hat.
Das ist aber ein dolles ding, das der Meister eine ähnliche Szene beschreibt, das macht mut :)

Also, Bruder Tserk, danke fürs lesen und noch mehr dank fürs kritisieren.
Gruß, Underground

 

ich hab grad nich so viel Zeit, weil ich zur Uni radeln muss
hasch n Laptop mit wireless-lan? :D
absichtlich geklaut oder sagen wir "als gut befunden und übernommen" hab ich das mit den kursiven Klammern.
da stehste net alleine mit da :) Golio und ich haben das auch schon des öfteren benutzt und weißt du was? *werbung* ich hab sogar zwei variationen draus gemacht ...
:heilig: Bruder Tserk

 

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