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Es lebe die Tradition...
Es war wieder so ein beschissener Sonntagnachmittag; es fehlte der Kick. Andreas und Philipp wussten wieder mal nicht, was mit all der Zeit anzufangen sei; im Fernsehen liefen nur Kleinkinder-Serien.
„Es lebe die Tradition“, sagte Andreas, der der Boss war.
„OK“, meinte der Philipp. Seine Pizza-gefüllter Bauch lag quer über dem Sofa und lugte unter dem T-Shirt hervor. Seufzend richtete sich Philipp auf.
Sie setzten sich in Marsch, um Marc abzuholen. Marcs Mutter öffnete ihnen; Marc war an seiner Playstation.
„Es lebe die Tradition“, sagte Andreas.
„Keinen Bock“, erwiderte der kleine Marc, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Philipp griff sich die Bravo und warf sich aufs Bett.
„Die Tradition“, wiederholte Andreas und tätschelte den Baseballschläger.
„Schnauze“, antwortete Marc und übertraf seinen eigenen Spielrekord. Trotz Anwesenheit seiner Freunde war er weit weg, in seiner Spielwelt.
„Was läuft im Fernsehen“, sagte Andreas und kannte die Antwort.
„Keine Ahnung“, sagte Marc.
„Also Mami hat gesagt: Zuerst musst du deine Hausaufgaben machen“, imitierte Andreas Marcs Mutter.
Marc sagte nichts. Er wollte nicht dorthin, aber es waren doch seine Kumpels.
„OK, OK, der kleine Marc bleibt zuhause mit Mami und Papi und schaut sich Teletubbies an“, fing Andreas wieder an und nahm den Baseball-Gesichtsschutz vom Haken an der Wand ab.
„Hör auf“, erwiderte Marc genervt.
„Bist du scheisse drauf, Marci-Boy.“
„Und du bist ein dummes Arschloch.“
„Komm, Marci-Boy, ein bisschen Sport“, rief der Dicke vom Bett hinter seiner Bravo.
„Keinen Bock.“
„Hast du Schiss, deinen Titel zu verlieren ?“ provozierte Philipp und liess die Bravo sinken.
„Du bist der Grösste“, spornte Andreas den Sportsmann an und stupste ihn mit dem Baseballschläger.
„Wisst ihr, dass ihr wirklich Arschlöcher seid.“
„Komm schon.“
„Komm, Marc.“
Er erhob sich, ohne zu antworten. Je schneller sie es hinter sich bringen würden, umso eher würden sie ihn in Ruhe lassen. Die zwei folgten ihm. Sie verliessen die Wohnung. Sie durchquerten die Strasse, den Spielplatz, die braune Rasenfläche, den betonnierten Parkplatz, die neuangelegte Hundetoilette, das verschlossene Zeitungskiosk, die winterlich kahlen Bäume. Das Rauschen wurde stärker; sie näherten sich der Autobahn. Sie gingen vor dem Gebäude vorbei, wo sie wohnte. Marc drehte sich um. Der rote Passat, mit dem ihre Mutter sie von der Schule abholte, stand davor. Aber Marion war nirgends zu sehen.
Die drei kamen auf der Autobahnbrücke an. Der kurze Wintertag neigte sich seinem Ende zu; die Dunkelheit eroberte Stück für Stück den grauen Himmel.
Die Autos schossen mit blitzenden Scheinwerfern unter der Brücke durch wie Missiles im Spiel „Destructor“. Die Jungen standen am Geländer. Andreas rotzte auf die unter ihm verschwindenden Autos. Philipp zerriss Eichenblätter, die er auf dem Weg aufgelesen hatte, und liess sie runterflattern. Marc träumte. Andreas bemerkte das und formulierte die Herausforderung.: „Ich wette, der Dicke ist besser als du.“
„Na klar“, sagte Philipp.
„Bor, geht ihr mir auf den Geist“, schrie Marc.
„Also, es geht los“, begann Andreas.
„Es lebe die Tradition“, wiederholte sein dicker Adjudant.
„Bringens wir hinter uns“, ergab sich Marc in sein Schicksal.
Sie trennten sich, damit jeder sein Lieblingsinstrument finden konnte. Marc nahm kleine Kiesel. Auch Philipp. Nur Andreas suchte länger.
Sie nahmen wieder Aufstellung, Über das Geländer gelehnt. Die Wagen fuhren unter ihnen weg.
„Jeder drei Wurf“, erklärte Andreas die Regeln des Wettkampfes.
„OK“, bestätigte Philipp und warf als erster.
„Verfehlt“, kommentierte Andreas.
Marc warf seinen ersten Stein; sie hörten ein metallisches Schlagen, das das Motorrauschen übertönte.
„Bravo“, beglückwünschte Andreas seinen Freund, „eins zu null.“
Der Dicke nahm einen kleineren Stein und warf aufs neue. Ein neuerliches Blechknallen.
„Eins zu eins“, kommentierte Andreas.
Marc sah auf die Autos, alle gleich, die dröhnend unter ihm verschwanden. „So ein bescheuertes Spiel“, dachte er und wünschte sich an seine Playstation zurück.
„Du bist dran, Champion“, motivierte ihn Andreas.
Marc hob den Stein zum Wurf, ein BMW leicht erkennbar an seinen starken Halogenscheinwerfern, näherte sich der Autobahnbrücke. Er musste den genauen Moment abpassen, auf die Millisekunde genau. Timing. Timing war alles. Das Bild von Marion erschien erneut in seinem Kopf. Er warf. Zu spät. Der BMW war schon unter der Brücke verschwunden.
„Bist du schlecht, Marci-Boy, eins eins immer noch“, erklärte Andreas.
„Halts Maul“, erwiderte Marc.
„Ich bin dran“, mischte sich der Dicke ein.
„Kinder, jetzt kommt das grosse Finale. Wir werfen nicht mehr mit euren tuntigen Kieselsteinchen“, erklärte Andreas und drückte Marc einen schweren Stein in den Bauch.
Marc nahm ihn in die Hand; er wog mindestens fünf Kilo.
„Lass mich ran“, drängte der Dicke.
Marc sah an der schwerfälligen Bewegung Philipps, dass er nicht treffen würde; er war einfach grosse Steine nicht gewohnt.
Der Pizza-Bauch nahm einen anderen Brocken hoch, hievte ihn übers Geländer.
Der Stein machte rumps, als er auf den Asphalt knallte.
„Mann, wer hat dich denn aus der Klapsmühle rausgelassen“, sagte Andreas.
„Jetzt reichsts, du kannst ja selbst werfen, Arschloch“, verteidigte sich der Dicke.
Marc wiegte seinen schweren Stein; die Autos unter ihm. Das Lächeln Marions vor seinen Augen.
Ein anderer Wagen fuhr auf die Brücke zu.
„Los“, rief Andreas.
„Der peilt es sowieso nicht“, voraussagte der Dicke.
„So blöd wie du kann ich gar nicht sein“, entgegnete Marc.
„Das werden wir schon sehen“, verteidigte sich der Dicke.
Die Zielscheibe kam näher.
Es war ein Passat, ein roter Passat.
„Los“, rief Andreas.
Marc durchschoss ein Gedanke: „Und wenn es die Eltern von Marion sind ?“
„Los“, gab Andreas das Startsignal.
Andreas stiess seinen Kumpel an; der instinktiv den Stein losschleuderte.
Die drei hörten Glas splittern; sie liefen auf die andere Seite der Brücke. Der Passat kam unter der Brücke hervor wie ein angeschlagener Boxer, der einen K.O.-Haken erhalten hatte. Die Windschutzscheibe zertrümmert, hielt er kaum eine genaue Fahrrichtung ein, sondern pendelte zwischen den beiden Fahrspuren, schrammte die linke Leitplanke, fuhr quer rechts auf den Standstreifen, überfuhr Begrenzungsposten und kam zum Stehen.
„Super, du bist immer noch unser Champion !“, rief Andreas aus.
„Wir müssen abhauen !“, schrie Philipp.
„We are the champions, we are the champions“, stimmte Andreas an.
Sie fingen an zu laufen.
Marc liefen die Tränen übers Gesicht.