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Es scheint, als würde sich der Himmel auftun, um die Welt zu verschlucken.
Der Himmel flimmerte gelb vor Hitze.
Ich radelte entlang der Alster aufs Land, um für meinen Bruder die Lebensmittel zu besorgen, die er brauchte, um gesund zu werden. Ich fuhr an einem abgeernteten Kartoffelfeld vorbei. Mein Magen knurrte, weil er schon seit Wochen nur Brotsuppe zu verdauen hatte, die letztendlich mehr aus Wasser als aus Suppe bestand. Die Marken in meiner Tasche waren praktisch wertlos, denn Lebensmittel erhielt man eigentlich nur noch, wenn man etwas beim Bauern dafür eintauschen konnte. Ich hatte nichts zu tauschen und daher beschloss ich, auf dem Kartoffelacker mein Glück zu versuchen. Die Bauern hatten zwar schon eingefahren, aber vielleicht konnte ich so viel Kartoffeln nachstoppeln, dass unsere Mutter uns Kartoffelpuffer mit Apfelmus braten konnte, denn einen Apfelbaum hatte ich auch erspäht. Ebenso wollte ich Kurts Ration an Milchmarken einlösen und ich hoffte, nicht lange anstehen zu müssen. Meist war mehr Molke als Milch in der Kanne. Aus der Ferne hörte ich den Luftalarm und kurz darauf die Flak und Bomber. Der Hafen wurde bombardiert. Der Luftangriff war viel zu weit von meinem Standort entfernt, als dass er mir gefährlich werden konnte. Dennoch war ich besorgt, ein Angriff bei Tage war ungewöhnlich und daher wollte ich meine Familie nicht zu lange alleine lassen. Ich war zwar erst zwölf, aber ich fühlte mich trotzdem zuständig, für meine Mutter und Kurt zu sorgen, weil Mutter immer weniger wurde und der kleine Kurt immer nur greinte.
Mein Vater und mein großer Bruder Helmut waren an der Front. Meine Mutter versuchte uns durchzubringen, so gut sie konnte, doch seit Tagen hatte sie diesen merkwürdigen abgestumpften Blick. Immer wieder las sie den letzten Feldpostbrief meines Vaters. Kurt wimmerte in ihren Armen und zupfte sich das rechte Ohr. Nachdem eine klebrige Flüssigkeit heraus rann, schlief er ein. Das Trommelfell war endlich geplatzt und die Schmerzen ließen nach.
Ich trat kräftig in die Pedale und irgendwie tröstete es mich, dass ich vor Anstrengung keuchte. Ich hatte das Gefühl wirklich zu leben, ich spürte nicht mehr den Hunger, auch glaubte ich, unverwundbar zu sein, weil die drückende heiße Luft an meiner Haut klebte wie Sirup und mich ermutigte, noch kräftiger zu treten, um den süßen Schwindel in meinem Kopf zu verstärken.
„Ich bin zurück!“
Die Milchkanne in der einen Hand, den Sack mit Kartoffeln und grünen unreifen Äpfeln in der anderen, wuchtete ich meine Ausbeute auf den Küchentisch. Mutters Augen glänzten und ich freute mich, dass es ihr anscheinend besser ging.
„Marie, wir haben Nachricht vom Helmut!“
In ihrer Hand befand sich ein grauer Umschlag mit der Feldpostnummer meines großen Bruders.
„Es geht ihm gut, schreibt er, und er bekommt Heimaturlaub, weil er den Feind besiegt hat.“
Ihre Freude versetzte mir einen Stich. Meine Kartoffeln waren klein und Helmut war der Held, in dessen Ruhm meine Mutter aufblühte wie eine Eintagsblume. Nur Kurtchen patschte nach den Knollen, gluckste vor Freude, als sie über den Boden kullerten.
Selbst später im Luftschutzkeller erzählte Mutter den Nachbarn alles von Helmut, dass er bald käme, wie mutig er sei, als Fallschirmjäger für das Vaterland zu kämpfen. Alleine die Vorstellung, aus einem Flugzeug zu springen, während die Flak draußen in den Himmel ballerte, wurde ausgiebig bewundert.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schämte mich meiner Schrunden, die ich mir beim Ausgraben der Früchte zugezogen hatte, weil die Neuhaus von nebenan meiner Mutter zuraunte, dass ich als junges Mädchen doch auf mein Äußeres zu achten hätte. Überhaupt, warum ich denn mein Haar abgeschnitten hätte, fügte sie mit zusammengepressten Lippen hinzu.
Ich verschränkte meine Arme und versuchte, nicht hinzuhören. Es gab kein Wasser, aus den Leitungen tröpfelte es nur. Frau Neuhaus und meine Mutter nahmen es nicht zur Kenntnis, denn dieser Umstand passte nicht zu dem sauberen Reich, das blond und tüchtig und aufrecht war. Ich streichelte meinem kleinen Bruder übers Gesichtchen. Er schlief ruhig in meinen Armen und ich sog seinen Babyduft ein. Ich verstand nicht, warum Mutter so kühl zu ihm war. Er war so süß, seine Haare kringelten sich in feuchten Locken um sein Gesicht.
Nach dem letzten Heimaturlaub meines Vaters, wölbte sich der Bauch meiner Mutter. Doch bevor er sich wölbte, tat sie absonderliche Sachen. In einer Nacht als sie dachte ich schliefe, trank sie Rotwein, den sie wohl irgendwo aufgetrieben hatte und sprang danach immer und immer wieder vom Küchenstuhl. Sie schlug auf ihren mageren Körper ein. Insbesondere den Bauch malträtierte sie mit ihren Fäusten. Sie brach in Tränen aus und ich holte Karin von nebenan, aus Furcht, meine Mutter hätte einen Koller und würde sich töten. Meine Mutter klammerte sich an Karin, jammerte, sie solle es wegmachen, sie sei doch Engelmacherin.
„Sei still!“, herrschte Karin meine Mutter an, „nimm dich zusammen!“
Sie schlug meiner Mutter zweimal ins Gesicht, dass es nur so klatschte.
„Willst du uns ins Gefängnis bringen?“
Meine Mutter starrte sie an, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht. Sie schüttelte den Kopf.
„Ein Kind zu gebären ist ein Geschenk für den Führer, auch wenn man schon die vierzig überschritten hat“, sagte Karin. „du musst dann auch nicht mehr in die Fabrik, Anne.“ Karin fasste Mutter bei den Händen und zog sie an sich.
„Ich kann dir nicht helfen, noch nicht“, flüsterte sie und wiegte meine Mutter, wie ein kleines Kind in den Armen. Sieben Monate später entband sie Kurtchen. Mutter lag erschöpft von den Wehen im Elternbett. Karin nahm ein Kissen und drückte es Kurt aufs Gesichtchen.
„Nein!“, schrie ich. Sirenen heulten und der Blockwart klopfte an unsere Tür. Er hatte Kurt gerettet, ohne es zu wissen.
Es war Sonntag und schwarze Rauchwolken verdunkelten im Westen der Stadt den Himmel. Mutter hatte sich fein angezogen. Kurt krähte vor Vergnügen, denn die Morgensonne kitzelte ihn. Ich holte eine Handkarre vom Dachboden und verstaute darin unsere Habseligkeiten.
„Was machst du da?“, fragte mich meine Mutter.
„Wir gehen zu Tante Miezie“, trumpfte ich auf.
Tante Mietzie war Mutters Schulfreundin, die nach ihrem Landjahr den Jungbauern geheiratet hatte. Sie hatte uns nach Kurts Geburt einen Brief geschrieben, uns eingeladen zu kommen, falls die Bombenangriffe Überhand nehmen.
„Das geht nicht Kind. Wie soll uns Helmut finden?“
„Wir können doch eine Nachricht auf der Wand hinterlassen“, schlug ich vor.
„Marie, nein!“, antwortete Mutter.
„Helmut ist doch noch an der Front ..., er hat nicht geschrieben, wann er den Heimaturlaub bekommt. Mietzie hat doch auch reichlich genug zu essen!“, rief ich, fassungslos, weil Mutter die furchtbaren Angriffe und den Hunger weiter in Kauf nahm. So sehr ich auch bettelte, Mutter wollte nicht fortgehen. Sie blieb hart, nahm unsere wenige Habe wieder aus dem Wägelchen und verstaute sie in den Schränken.
Mit dem leeren Handkarren zog ich durch die Straßen. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt hatte zwischenzeitlich wegen der schrecklichen Verluste der gestrigen Bombennacht im Westen Hamburgs Lebensmittel herbeigeschafft. Es gab frisches Wasser und Brot, Obst in Hülle und Fülle. Viele Ausgebombte drängelten sich nach vorne. Es war grauenhaft. Wie wilde Tiere fraßen sie, stopften sich das Brot in den Mund, schluckten ohne zu kauen. Ihre Lumpen, die Haare, sie selbst stanken nach verbranntem Fleisch. Ich würgte meine aufkommende Übelkeit hinunter und sackte ein so viel ich konnte.
Der Hamburger Hafen war schwer getroffen worden. Den ganzen Tag hatte ich Essbares aufgetrieben. Viele Ausgebombte irrten durch die Straßen. Es war immer noch heiß und drückend. Ich hatte Angst. Nachdem ich zurück war, aßen wir etwas Obst und Brot zu Abend. Kurt ging es viel besser. Ich wickelte, kämmte, herzte ihn. Legte ihn ins Bett. Mutter saß mit verkniffenem Mund am Fenster im Schaukelstuhl. Sie schwieg, wie meistens, döste.
Früher war sie nicht so untätig. Immer fanden ihre Hände Arbeit. Doch gegen den Staub aus Schutt und Asche kamen wir ohne Wasser nicht mehr an. Auch zerrte der Schlafmangel an unseren Kräften. Schon seit Wochen hatten wir nachts regelmäßig gegen Mitternacht Fliegeralarm. Die Flieger kamen aus dem Westen über die Elbmündung. Wir stolperten in den Keller und warteten auf Entwarnung, weil die Flugzeuge nach Norden abdrehten und ihre Bomben abwarfen.
Nach der Verdunklung legte ich mich neben Kurt, fiel völlig erschöpft und übermüdet in einen unruhigen Schlaf. Die Alarmsirenen heulten und meine Mutter raffte die Feldpostbriefe und Kurtchen an sich, um in den Keller zu gehen. „Marie komm!“, rief sie mir zu.
Und wieder hatte ich das Gefühl unverwundbar zu sein. Die Wohnung war so heiß und stickig, statt in den Keller zu laufen, schlummerte ich erneut ein, träumte von Wasser und von kleinen Würmern, die sich darin wanden. Plötzlich knallte es ohrenbetäubend und ich spürte einen heftigen Schlag. Mir war, als wollte das Haus kippen. Die Fenster waren samt Rahmen ins Innere der Wohnung gesprengt worden. Noch ein Schlag ließ das Haus wanken. Draußen brannte es, orgelten die Bomben über Hamburg und ich spürte, wie die Luft aus dem Haus gesogen wurde. Ich konnte nur noch flach atmen. Mit allerletzter Kraft sprang ich aus dem Fenster in das zehn Meter tiefe dunkle Fleet unter mir. Das schwarze Wasser schlug über mir zusammen und ich versank in der Tiefe. Ich versuchte, an die Oberfläche zu kommen. Über mir war Feuer. Auch das Wasser brannte. Meine Lungen schmerzten. Mit jedem Atemzug wurde es schlimmer. In meinen Ohren steckte etwas wie Watte, ich war taub und doch hörte ich den Feuersturm, der sich durch die Stadt fraß, wie ein wütender Drache. Brennende Menschen stürzten sich ins Fleet. Ich schloss die Augen, trieb im Wasser und konnte es kaum glauben dort zu sein. Erinnerungsfetzen jagten durch meinen Kopf. Unser Urlaub in Travemünde. Helmut baute eine Sandburg und ich verzierte sie mit Muscheln. Er warf den Mädchen am Strand sonderbare Blicke zu, ließ seine Muskeln spielen, als er die Schaufel zur Hand nahm. Ich bewarf ihn mit Algen und einer Qualle. Wir lachten und sprangen ins Meer.
Wir schwimmen weit hinaus. Das Wasser trägt uns, es ist wunderschön.
Irgendwann wurde es Tag. Trotzdem war es dunkel. Es war, als würde sich der Himmel auftun, um die Welt zu verschlucken. Nur mich spie der Himmel wieder aus. Ich robbte an Land. Ich wusste nicht, wo ich war, denn es gab keine Häuser mehr. Ich glaubte, tot zu sein und ich war verrückt vor Angst. Ein Wehrmachtswagen ratterte an mir vorbei. Alte Männer sprangen von der Ladefläche. Ich sah sie, die verschrumpelten und verkohlten Überreste der Toten bergen und auf die Ladefläche werfen. Einer von ihnen kam näher zu mir und rüttelte an meiner Schulter. „Die Deern lebt noch!", hörte ich ihn rufen. Hände hoben mich auf.
Marie fand Unterschlupf bei Tante Mietzie in Pöppendorf nahe Travemünde. Kurt und Maries Mutter erstickten bei dem Angriff im Keller. Maries Bruder Helmut wurde 1944 im freien Fall abgeschossen. Maries Vater kehrte 1956 als gebrochener Mann aus Sibirien heim. Er starb 1961 an einer Thrombose.