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Es war einmal eine Frau

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22.02.2007
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Es war einmal eine Frau

Es war einmal eine Frau, die lebte in einem Wald. Sie war die einzige Frau, die in diesem Wald lebte. Sie war sogar der einzige Mensch, der in diesem Wald lebte.
Eines Tages ging ein junger hübscher Mann in diesem Wald spazieren. Die Frau sah ihn und lud ihn auf einen Kaffee ein.
Er sagte zu und sie tranken drei Stunden lang zusammen Kaffee und redeten viel miteinander. Schliesslich musste der Mann gehen, aber von da an kam er jeden Tag wieder. Und jeden Tag tranken sie drei Stunden lang zusammen Kaffee und redeten. Und wenn sie viel zu reden hatten, tranken sie etwas weniger Kaffee und wenn sie weniger zu reden hatten, tranken sie etwas mehr Kaffee.
So oder so tranken sie eine Menge Kaffee.
Eines Tages machte die Frau dem Mann einen Heiratsantrag. An diesem Tag tranken die beiden sehr wenig Kaffee für ihre Verhältnisse, nur einen einzigen Liter.
Der Mann lehnte den Heiratsantrag ab.
Am nächsten Tag kam der Mann wieder und sie tranken zusammen Kaffee. Als die drei Stunden vorüber waren, sagte der Mann: „Ich kann dich nicht mehr besuchen kommen. Ich kann nachts nicht mehr schlafen von dem vielen Kaffee. Sieh dir doch mal meine Augenringe an!“
„Ja“, sagte die Frau. „Die sind mir schon aufgefallen. Aber ich könnte dir doch auch Tee kochen, anstatt Kaffee!“
Aber der Mann mochte keinen Tee und so ging er weg und kam nicht mehr wieder.
Es war einmal eine Frau, die lebte in einem Wald. Sie war der einzige Mensch, der in diesem Wald lebte, und so blieb es auch.

 
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Warum sollte der arme Mann die leblose Frau (oder lieblos beschriebene) wohl heiraten wollen? Habe ich mich gefragt, Guten Morgen Merettchen!
Dann habe ich nachgedacht... das Märchen spielte bestimmt in einem Wald in der ehemaligen DDR. Da war es mit dem Kaffee nicht weit her. Der war immer so "vermelancht". Das konnte nur so echter Kaffee aus dem Westen ändern, vielleicht hatte sie Verbindungen dahin? Aber da kam dann die Wende und eine engere Bindung an sie war überflüssig! So wird aus dieser Geschichte was brisantes, hoch politisches....
Oder liege ich da falsch? Es ist ja auch schon spät-oder früh...deshalb nicht bös gemeint. Nur halt so ein Gedankenblitz!
Gruß Thomas!

 

Hallo merettschen,
Deine Märchen-Frau hatte es wirklich nicht leicht. Das Kaffeekochen schien ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen zu sein. Der Mann war übersättigt davon und weil sie so einfallslos war, gab es eben Tee. - Erinnert mich ein wenig an die ostfr. Tee-Werbung: ... und wie wär's mit Tee ? ... :)

Erzähl doch mal ...
Liebe Grüße
KaLima

 

Hallo ihr zwei!
Danke für die interessante Interpretation Siggy Thomas, obwohl ich überhaupt nicht an die DDR gedacht habe, dabei. ;)
Also eigentlich soll es eine Art Gleichnis sein für eine ganz alltägliche Beziehung. Zwei lernen sich kennen, verstehen sich gut, sind zusammen, und dann taucht irgendein Problem auf.In diesem Fall etwas absurd: Der Mann will keinen Kaffee mehr trinken.
Die Frau sucht nach einer Lösung, doch er ist nicht zufrieden damit und sucht auch nicht nach anderen Alternativen.
Ich wollte damit sagen, dass es im Alltag oft genauso ist. Ich kenne den Grund dafür nicht, vielleicht ist es die nach und nach schwindende Liebe, aber manche Paare streiten sich eine Viertelstunde darüber ob sie sich im Restaurant an einen Tisch in der Sonne oder an einen im Schatten setzen sollen.
Sie finden dann einfach keine Lösung mehr für ihre von aussen her simpel erscheinenden Probleme.
Liebe Grüsse merettschen

 

Hallo merettschen,

deine eigene Analyse habe ich in deinem Text nicht gefunden. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, es ging nicht um den Kaffee, der oberflächlich die Basis der Beziehung darstellte. Aber dahinter steht ja, wenn sie mehr zu reden haben, trinken sie weniger Kaffee, wenn sie weniger zu reden haben, mehr.
Sie haben zu reden. Jeden Tag drei Stunden. Irgendwann sind die Themen vielleicht ausgeschöpft, aber sie fühlen sich auch schweigend miteinander wohl. Es ist schön so, wie es ist. Und dann möchte die Frau eine Veränderung. Sie macht ihm einen Heiratsantrag. Aus der freiwilligen Verbindung macht sie eine Kette der Sicherheit.
Der Mann fühlt sich nicht mehr wohl, er spürt ahnend eine Verpflichtung zur Veränderung. Aber statt das zu sagen, sagt er, er könne nicht mehr kommen, da er wegen des Kaffees nicht mehr schlafen könne. Er setzt einen Stellvertreter. Das angegebene Problem ist nicht zu lösen, da es nicht das wirkliche Problem ist. Es ist vielleicht nicht mal der Kaffee, durch den er nicht schlafen kann, sondern die Last der befürchteten Verantwortung. Diese Schlaflosigkeit könnte ihm auch der Tee nicht nehmen.
Also verabschiedet sich der Mann und die Frau hat das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen wollte und was sie schon hatte. Die Fesseln haben den Mann aus dem Haus getrieben, was wir halten wollen, entgleitet uns. Probleme lassen sich nicht lösen, weil wir sie nicht benennen (oft nicht einmal benennen können).
Also gleich zwei Wahrheiten, die der Verlauf deiner Geschichte zeigt. Dazu die traurige, dass die Frau zwar verlassen wurde, aber die Einsamkeit auch zu einem Teil selbst produziert hat.

Hat mir gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

@ sim:
Das hast Du sehr weise interpretiert. Mein Kompliment!
Liebe Grüße
KaLima

 

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