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- 01.01.2015
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- Anmerkungen zum Text
Überarbeitet: Dezember 24
- in Präsens versetzt
- Füllwörter gestrichen
- aktivere Verben verwendetIn meiner zweitliebsten Schreibgruppe gab es das Foto eines älteren Mannes in Weihnachtsmannkostüm mit der Aufforderung: Schreibt, warum der Typ in eurem Haus ist!
Dies ist das Ergebnis.
Es weihnachtet doch
Ich lausche auf den altbekannten Weihnachtssong im Radio und schaue in die Kerzen. Irgendwo müssen doch weihnachtliche Gefühle zu finden sein. Jedes Jahr das Gleiche am Heiligabend: die erwachsenen Kinder treiben sich mit Freunden herum, mein Mann arbeitet und ich bin seit sieben Uhr früh am Einkaufen, putzen, organisieren. Meist eskaliert das Ganze zu einem deftigen Streit. Seit Jahren überlegen wir, über Weihnachten einfach zu verreisen.
Vor Tagen haben die Kinder den deckenhohen Baum geschmückt, erst jetzt nehme ich wahr, dass dieses Jahr rot-gold angesagt ist.
Gerade versuche ich dem Kaffeetisch etwas weihnachtlichen Flair zu verpassen, als es Sturm läutet. Durch die Scheibe sehe ich einen wildfremden Mann. Weißer Bart! Ein wirklich sehr gut sitzendes Weihnachtsmannkostüm. Grinsend öffne ich, grüße mit einem lauten Ho ho ho. Er schiebt mich beiseite, stürmt über den Flur und reißt die Tür der Wäschekammer, dann die Gästetoilette auf – und verschwindet laut polternd. Ich halte immer noch die Haustür auf, definitiv nicht mit dem schlauesten Gesichtsausdruck. Aber die Geräusche aus dem kleinen Raum sind eindeutig und mit leicht verschämtem Blick verdrücke ich mich ins Wohnzimmer.
Nach ziemlich unangenehmen zehn Minuten tritt der Mann schnaufend ins Wohnzimmer - mit stachelig, nackten Beinen. Mühsam reiße ich den Blick von den recht ansehnlichen Männerbeinen los. Da steht ein Weihnachtsmann ohne Hose vor mir. Ich grinse, beginne zu kichern, als er lospoltert.
„Ich brauche Hilfe! Sofort!“ Er zieht eine Taschenuhr von gut fünfzehn Zentimetern Durchmesser aus der Jackentasche und drückte auf einige Metallschrauben und Knöpfen. Die Uhr reagiert mit dröhnenden Glockenklängen und hervorquellenden Papierstreifen. Drei davon reißt er ab und wedelt vor meiner Nase herum. „Hier! Umziehen und los geht’s!“
„Nein! NEIN! Ich spiele keinen Weihnachtsmann!“ Ich weiche zurück und zeige auf den gedeckten Kaffeetisch.
„Hier geht es um Prioritäten! Die Geschenke müssen verteilt werden, der Zeitplan ist eng. Also los! Bitte!“
Irgendwie klingt das eher befehlend, bitten geht anders. Ich überlege ob ich ihn hinausschmeiße.
„Hier! Die nächsten drei Adressen. Einmal an der Haustür klingeln und den Sack abstellen, einmal durch den Kamin und beim Letzten steht was von Leiter an der Hauswand, dass wird doch hinzukriegen sein.“ Er drückt sich die Hand auf den Bauch, ein anschauliches Grummeln ertönt und schon stürzt der halbnackte Mann wieder auf die Toilette. Was soll ich tun? Einen Hilfesuchenden zurückweisen? Ausgerechnet an Weihnachten?
Bevor ich mich versehe, drängt der weißhaarige Mann mich in seine Jacke, stülpt mir die Mütze über und reicht mir einen Stiefel. Kaum bin ich in den zweiten Stiefel geschlüpft, legt er mir das dicke, goldene Buch in die Hand. Ich spüre einen deutlichen Sog Richtung Haustür. Krampfhaft verkeile ich mich in der Tür, doch schon reicht er mir einen mehrteiligen Jutesack und schließt die Haustür. Erst jetzt lässt mich meine Zunge den Satz artikulieren, an dem ich die ganze Zeit würgte. „Es! Gibt! Keinen! Weihnachtsmann!“
Oder?
Ich fühle mich gezogen. Mein Arm wird von dem Buch waagerecht nach vorne gerissen, immer die Straße entlang. Ich stolpere vorwärts, die Säcke schleifen hinterdrein. Schneeflocken schweben in den Lichtkegeln der Straßenlaternen zu Boden, in den Häusern rechts und links leuchten Tannenbäume. Vor der gläsernen Haustür der Müllers stoppen wir. Drei Gören, eines verzogener als das andere, da kriege ich tatsächlich Lust, die Weihnachtsfrau zu spielen. Aber offensichtlich gilt es hier nur zu klingeln und den dazugehörigen Geschenkesack abzustellen. Schon fast im Gehen rupfe ich noch schnell ein paar Tannenzweige aus der Zuckerhutfichte, stopfe sie in den Sack und hoffe, dass irgendwem in der Familie die Bedeutung von Ruten noch bekannt ist.
Die nächste Adresse droht mit der Rutschpartie durch den Kamin. Ich verschränke meine Beine im Gartentor, kralle mich an den Eisengittern fest und zischle dem Buch zu, es solle doch alleine gehen. Als Antwort verpasst es mir einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf, dass ich vor lauter Schreck vergesse, mich festzuhalten. Beim nächsten Mal Luft holen, hustete ich bereits schwere, rußige Brocken ins Wohnzimmer der Lehmanns. Zumindest klingt meine Stimme jetzt weihnachtsmannmäßig. Durch das Buch fährt ein Ruckeln, die Seiten blättern wild durcheinander und bleiben geöffnet in meiner Hand liegen. Erst skeptisch, dann mit zunehmender Begeisterung lese ich vor. Als es um mangelnde Familienzeit und Blicke unter nicht familieninterne Röcke geht, sehe ich den arroganten Herrn Dr. jur. Lehmann zusammenzucken. Der Spruch zum Geschenk der holden Frau Gattin bestätigt meinen Verdacht auf Schönheits-OPs an mehr oder weniger sichtbaren Stellen. Zu meinem Ärger muss ich gestehen, dass die zwei Kinder ausgesprochen wohlerzogen und lieb sind. Die Gedichte kenne ich beide nicht, aber sie sind sehr lang. Ihre Geschenke sehen nach Büchern aus, über die sie sich tatsächlich freuen. Ich schaue mich interessiert um, würde gerne länger verweilen. Aber das Buch zerrt mich, anscheinend von allen unbemerkt, aus der Haustür. Es hätte ja auch durch den Kamin zurückgehen können, also bin ich lieber still.
Ich habe vergessen, was bei der dritten Adresse meiner harrt und stehe somit irritiert vor der langen Leiter, die bis in den zweiten Stock des Plattenbaues ragt. Um dieses Grundstück mache ich normalerweise einen weiten Bogen, kurz gesagt bezeichne ich die Leute hier als ‚sozial weit von mir entfernt‘. Ich durchforstete mein Gehirn nach möglichen Ausreden, da stehen meine Füße schon auf der untersten Sprosse. Die Leiter schwankt, das Holz ist rutschig und mein Herz klopft wild, als ich die Entfernung zum Betonboden realisiere. Zumindest erlaubt das Buch mir die Benutzung beider Hände, denn der vertraute Druck in die richtige Richtung konzentriert sich auf meinen Allerwertesten. Ich sinniere über den Verbleib des Geschenksackes, als ich am Ende der Leiter vor einem festlich geschmückten Fenster ankomme. Auch wenn ich es ungerne zugebe, ich drücke meine Nase an der Scheibe platt und bestaune die Menschen in der Stube.
Zwei Schwarze sitzen auf einem zerschlissenen Sofa und erzählen abwechselnd etwas mit Händen und Füßen. Ihnen hängt eine Horde Kinder an den Lippen, in so verschiedenen Größen und Aussehen, die stammen auf keinen Fall aus einer Familie. Ein rothaariger Mann hält einen Knirps über den mickerigen Weihnachtsbaum und lässt ihn eine dicke rote Kugel aufhängen. Aus der Tür im Hintergrund dampft es aus, ich glaube den Essensduft zu riechen. Erst jetzt höre ich schwungvolle Weihnachtsmusik, die Scheiben vibrieren im Rhythmus, zu meiner Panik auch die Leiter. Das reißt mich aus meiner Beobachtung, ich klopfe hektisch ans Fenster.
Direkt vorm Fenster, bisher von mir ignoriert, kuscheln zwei Männer. Die beiden klatschen sich nach dem Fensteröffnen ab. „Wie bestellt! Der Weihnachtsmann kommt durchs Fenster.“
Mit mauliger Miene schlurft ein Mädchen auf sie zu, reckt jedem fünf Euro entgegen. „Mit Euch wette ich nie wieder.“
Endlich hilft mir jemand ins Zimmer. Und dann kommt das volle Verwöhnprogramm: ein Hocker zum Sitzen, ein Glas Milch, warum auch immer, und leckere Kekse. Ich spüre wie der Jutesack von meinem Rücken krabbelt, da war er also die ganze Zeit. Im Zimmer Weihnachtsklänge, alle schwingen mit den Glockenschlägen von rechts nach links und aus der Küche strömten himmlische Düfte. Das muss der Weihnachtsmannhimmel sein.
Hinter mir ein superlautes Flüstern. „Das ist eine Schwindlerin!“ Ich drehe mich um und entdecke ein vielleicht drei Jahre altes Mädchen. Sie zeigt mit dem Finger auf mich und sagt anklagend: „Der Weihnachtsmann ist eine Frau!“
Skeptisch mustern mich die größeren: „Wie meinst das? Der Typ hat ein Weihnachtsmannkostüm an, also ist das der Weihnachtsmann.“
Die Kleine legt den Kopf schief und beobachtet mich weiter.
Ich merke, wie ich mich zum ersten Mal an diesem Abend entspanne, endlich in Weihnachtslaune komme. Das endete abrupt, als sich die vielen Kinder vor mir aufstellen und mein Blick auf den ziemlich schlanken Jutesack fällt. Hilfesuchend halte ich nach meinem Buch Ausschau. Tiefes Einatmen, Mut fassen und … Bevor ich eine Ausrede stottern kann, erklingt in herrlicher Vielstimmigkeit der Kanon ‚Carol of the Bells‘. Ich bin versucht, meine Ohren zu zuhalten, lächle angestrengt. Oh, das sind einige Stimmenlagen mehr, als vorgesehen. Auch glaube ich, mindestens drei verschiedene Sprachen zu erkennen, aber sie haben eindeutig ihren Spaß. Ich bin sprachlos. In Gedanken sehe ich unsere Bescherung mit alljährliches Stürzen auf die Geschenke vorm laufenden Fernseher. Ich blinzle und hoffe, dass auch Weihnachtsmänner gerührt sein dürfen.
Die letzten schrägen Töne verklingen und ein rothaariger Knirps tritt auf mich zu, zeigt auf den Jutesack: „Hast du uns etwas mitgebracht?“ Mir läuft Schweiß den Rücken hinab, ich tupfe mit der weißen Mützenquaste die Stirn ab und starre hilfesuchend auf das Buch. Endlich blättert es auf und ich beginne beklommen zu lesen.
„Was habt ihr Euch denn gewünscht?“
Viele Stimmen rufen mir die unterschiedlichsten Wünsche zu, mein Blick fällt erneut zu dem schmalen Geschenkesack. Eine weißhaarige Schwarze legt dem Kleinen die Hand auf die Schulter und kniete sich mühsam neben den Jungen.
„Weißt du noch, auf was wir uns nach langen Beratungen für den Wunschzettel geeinigt hatten?“ Seine Augen leuchten auf und mit einem strahlenden Lächeln verkündet er mir. „Ein Spiel für uns alle!“
Immer noch beunruhigt greife ich in den Sack und ziehe zögernd ein viereckiges Päckchen heraus. Der Knirps strahlt, langt beherzt zu und läuft der jubelnden Kindergruppe entgegen. Auf halber Strecke bremst er und ruft mir über die Schulter ein lautes „Dankeschön!“ zu.
Niemand beachtet mich noch. Das Buch zuckelt Richtung Wohnungstür und mit einem sehnsüchtigen Blick auf all die begeisterten Gesichter, die sich jetzt auf dem Teppich rund um das Spiel verteilen, raffe ich meine Sachen zusammen und gehe. An der Wohnungstür legt sich eine Hand auf meine Schulter.
„Sorry, Weihnachtsmann! Meine Tochter hatte da eine Idee und ließ sich nicht davon abbringen.“ Irritiert schaue ich den Hausherrn an, hinter dessen Hüfte ein wohl achtjähriges Mädchen hervorlugte.
Zwei Jugendliche bringen einen etwas verbeulten Karton, nicht eingewickelt, sondern über und über mit Zeichnungen, Handabdrücken und Bildern beklebt.
Bittend zeigt er auf den Jutesack, der jetzt schlaff an meiner Hand baumelte. „Gegenüber wohnt Frau Zischke, eine ziemlich herrische und bissige Dame.“
Irgendwo aus dem Hintergrund höre ich gemurmelt: „Dame? Alte Hexe!“, „und sie hält Schwule für krank.“
„Ja, auch das!“ Der Mann lächelt und weist auf das große Paket. „Aber vor allem ist sie arm, einsam und verbittert.“
Ich schaue zwischen dem Paket und den jetzt aufmerksamen Gesichtern hin und her.
Das Mädchen legt seine Hand auf einen pinken Handabdruck. „Wir haben im Advent jeder ein Geschenk in den Karton gelegt und du sollst es ihr zu Weihnachten bringen. Ich habe Topflappen gehäkelt.“
Aus allen Ecken des Zimmers tönt es jetzt: „Kuchen gebacken“, „eines meiner Modellautos“ und „Briefpapier gebastelt, aber sie ist trotzdem eine Zicke“, verstehe ich. Was für ein liebevolles Geschenk!
Das mutige Mädchen von der Bescherung schaut mit großen Augen zu mir auf. „Wenn der Weihnachtsmann das Geschenk bringt, muss sie sich doch darüber freuen, oder? Auch wenn du nicht der richtige Weihnachtsmann bist.“
Ich nicke nur und hebe mühsam das Paket auf. Mit Schulterklopfen und viel Lachen werde ich aus der Wohnung geführt, die sich leise hinter mir schließt. Die ellenlange Parade unterschiedlichster Schuhpaare im Flur lässt mich noch einmal Lächeln.
Gegenüber starrt mich ein Spion aus der blitzblanken Tür an. Ich schluckte. Der riesige Karton in meinen Armen lässt weder Klopfen noch Klingeln zu, daher stellte ich ihn ab. Hilfesuchend schaue ich auf das Buch in meiner Hand – keine Reaktion!
Achselzuckend klopfe ich energisch an, suche nach den richtigen Worten. Hinter der Tür klirrt eine Kette, die Tür öffnet sich einen Spalt. Eine Frau mit tiefer Falte zwischen den Augenbraunen und verkniffenem Mund schaut mich an. „Ja bitte!“
Im normalen Leben hätte ich vielleicht einen dummen Spruch gemacht, aber hier und jetzt bin ich der Weihnachtsmann! „Ho ho ho! Ich habe hier ein Geschenk von Herzen, mit Liebe für Sie gemacht. Frohe Weih …!“
Das Buch reißt meine Hand empor, beginnt mich zu drehen, hinter sich herzuziehen. In meinen Ohren klingen dröhnend Glocken. Entsetzt schaute ich auf den vorbei wirbelnden Flur, sehe nur noch Schlieren und verliere das Gleichgewicht. Meine Beine knicken ein und ich ergebe mich dem Sog.
Mit einem Schnaufen schlage ich vor unserer Haustür auf, schwanke und ziehe mich am Türkranz empor.
Während ich mir noch die Augen reibe, öffnet sich die Tür. Der Weihnachtsmann droht mit erhobenem Zeigefinger. „He he, keine Schwarzarbeit.“ Grinsend setzte er „Gut gemacht!“, hinzu.
Mit der großen Taschenuhr in einer Hand, zieht er mich ins Haus und nimmt mir Buch und Jutesack ab. Ich setze mich mit wackeligen Beinen, lasse den Blick durch den weihnachtlich geschmückten, aber menschenleeren Raum schweifen. Dann bleiben meine Augen an den perfekt gebügelten und strahlend sauberen Hosen des Weihnachtsmannes hängen. Er zuckt mit Achseln. „Jahrhundertlange Übung im Job. Ich kann wieder übernehmen.“
Ja, das glaube ich ihm tatsächlich. Eine Sache beschäftigte mich noch.
„Ich bin eine Frau!“
Er grinst und schüttelt den Kopf. „Das ist so was von egal, der Weihnachtsmann ist nur durch Zufall optisch ein Mann. Es geht um das, was du tust, das hat nichts mit Geschlecht oder gar Bezeichnungen zu tun.“
Ich nicke, werfe aber dennoch ein: „Zwei Knirpse …“
„Ja, die ganz Lütten sehen die Wahrheit, der Rest nimmt nur die Tat wahr.“
Aus der Taschenuhr dröhnen erneut Glockenschläge und Adresszettel sprudeln hervor. Der Sack füllt sich und das Buch beginnt zu zucken. Mit einem Schwenk in Richtung unseres Baumes nickt der Weihnachtsmann mir zu und ruft: „Frohe Weihnachten und ein dickes Dankeschön!“. Dann verschwindet er genauso plötzlich, wie er erschienen ist.
Grübelnd trete ich ins Wohnzimmer, aus dem mir Kerzenschein, Tannenduft und einfach ein warmes Gefühl entgegen kommen. Unterm Weihnachtsbaum finde ich ein kleines Buch, dunkelgrüner Samt mit goldenen Letter: ‚Es weihnachtet‘.
Hoffentlich kommt meine Familie bald …