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Es werde Licht
Ich starrte abwechselnd in den Nachbargarten, dann wieder auf des Gesicht des Einen.
Mein Sohn klammerte sich an der Fensterbank fest und blickte auf geschätzte zwei Milliarden Lichter, und es schien ihm ausnehmen gut zu gefallen.
»Der Typ hat sie nicht mehr alle«, murmelte ich, noch immer unter Schock.
Unser Nachbar hatte die Großoffensive gestartet, und diesmal noch früher als im letzen Jahr.
»Heiiiiiiii«, grunzte mein Sohn und drückte seinen Knubbelzeigefinger gegen die Scheibe, »Heiiiiiiiiiiiiiiii!«
»Stimmt. Eine großkotzige Zurschaustellung amerikanischer Zuckerbäckerromantik«, pflichtete ich meinem Sohn bei, »und teuer wie Sau. Und man kriegt kein Auge zu hier.Ich muß was tun.«
Das ältere Ehepaar von nebenan.
Er: Ehemaliger Stadtverwaltungsfuzzi, stets in Strickjacke mit Rautenmuster unterwegs, im Sommer pedantisch gekleidet wie ein japanischer Offizier- mit Bügelfalten in den Shorts, die zum Heckenschneiden geeignet waren; er grillte nach Kochbuch, und das, wenn es warm war, täglich.
Sie: Ein ausgezehrtes Persönchen, daß gern Loden und Blusen mit dubiosen Jagdmotiven trug, morgens um Sechs ein von meinem Schreibzimmer aus gut sichtbar montiertes Unterbauküchenradio in Betrieb nahm und brüllend WDR 4 aufdrehte, weswegen ich mir allmorgendlich um Sechs Uhr eins die Zeigefinger in die Ohren rammte, noch bevor ich die Augen öffnen konnte.
Die beiden waren ein kinderloses Feuerwerk der guten Laune, auch wenn sie sich gerüchteweise gegenseitig »Flurwoche« im Treppenhaus eintrugen, obwohl sie in einem Einfamilienhaus wohnten.
Der Herr des Hauses genoß seinen Ruhestand, der vermutlich genauso erholsam war wie die voran gegangenen dreißig Jahre im Katasteramt von Duisburg, sie lag sommers gern auf der Veranda und las Frauenzeitschriften mit Aufmachern wie »Prinz Harry: Schicksalsschlag am Gründonnerstag- wird er je wieder laufen können?«
Im Sommer machte es Spaß, die beiden zu hassen.
Es war wie der bedrohliche Vortrag des Dschungelmädchens im Schwarzenegger-Vehikel PREDATOR: Jeden Sommer, wenn es besonders heiß ist, kommen sie und jagen. Sie verschonen Frauen und Kinder, aber sie machen alle Männer zu ihrer Beute!
Stimmte schon- weder mein Sohn noch seine Mutter ließen sich von den beknackten Eskapaden unserer Hochglanznachbarn beeindrucken, aber mir gingen sie gehörig auf den Sack- allerdings nicht genug, um aufzumucken.
Heute allerdings war das Maß voll.
Herr Nachbar hatte gegen sechszehn Uhr seinen flugzeugträgergroßen, karamelfarbenen Volvo vor seine Garage gefahren und den Schlund seines schwedischen Riesenkofferraums aufgähnen lassen.
»Was tut er da?«, fragte die Mutter meines Sohnes.
»Er schafft Leichenteile ins Haus. Dann wird er in einem geheimen Raum im Keller seine komplette Behörde mit zusammengenähten Toten wieder aufbauen: Den Schröder von der Buchhaltung, die Kleine, die immer kopiert... und alles riecht nach Verwesung, und dann wird er eine Besprechung anberaumen... «
»Red nicht so einen Müll!«
»Wer hat denn damit angefangen? Hab ich ne Kristallkugel auf dem Nachttisch? Was weiß ich denn?«
Wir beobachteten, wie er das Ende einer Lichterkette hervorzog; wir schauten ihm noch weitere zwanzig Minuten zu, ohne das andere Ende zu Gesicht zu bekommen.
Dann wuchtete er eine unförmige, stählerne Wumme hervor- ein bedrohliches, martialisch anzuschauendes Monster von einem Industrietacker.
Für eine Sekunde sah der Mann aus wie der Robocop einer Welt, die als offizielles Zahlungsmittel Schlecker-Rabattmarken akzeptiert. Er wog den Tacker in der Hand, pfiff dann anerkennend, und der Eindruck verpflog.
»Will wohl nur was reparieren«, murmelte ich.
Der gleiche Tag, zweiundzwanzig Uhr.
»Was sind das für Geräusche?«, fragte jene, die meinen Stammhalter ausgetragen hatte.
Schrung!
Schrung!
Schrung!
Eine kurze Pause trat ein.
»Er wird sicher nur...«
Schrung!
Ich riß den Vorhang beiseite.
Unser Nachbar war ein Ninja in Trevira; katzengleich turnte er auf dem Dach herum, den Reißverschluß seines gutbürgerlichen Versandhaustrainingsanzuges bis zum Hals geschlossen, und feuerte mit dem Robocop-Tacker auf sein eigenes Haus.
»Der hat sicher Ratten«, vermutete ich.
»Auf dem Dach?«
»Die Biester sind flink.«
Der Nachbar kletterte ungelenk herunter, sah ich.
»Trotzdem: Ratten? Oben?«
»Höre«, ereiferte ich mich, »das ist möglich. Im Sommer reißt er beim Grillen immer so den Arm hoch. Zuerst dachte ich, er wäre Altnazi, aber mittlerweile glaube ich eher, daß er immer ungenießbare Stücke Fleisch nach oben warf- aus den Augen, aus dem Sinn. Da sammeln sich verottete Bauchfleischfragmente in der Regenrinne, und irgendwann kriegen das die Ratten spitz. Sie bauen Räuberleitern....«
In diesem Moment wurde es...hell?
Nein.
In diesem Moment flammte unsere Siedlung auf, wurde grell, greller, Supernova-kreischend gleißend-Höllen-hell.
Gegen das, was sich im, am, und ums Nachbarhaus nebst Garten tat, war der Brand der Hindenburg wie eine Adventskerze im Kartoffelkeller.
Ich sprang kreischend vom Fenster zurück und schrie:»ICH HABS DOCH GESAGT! UNSERE NACHBARN SIND DIE ARSCHLÖCHER AUS INDEPENDENCE DAY! ALS NÄCHSTES FLIEGT UNS DAS RATHAUS UM DIE OHREN! RAUS HIER!«
»Hm«, sinnierte die höchste Instanz der Frucht meines Samens,»ist wirklich n bißchen hell für ne Weihnachtsbeleuchtung.«
Ich stand zitternd im Garten; ein dicker Schal schütze mich vor der grimmen Kälte dieser Novembernacht, meine Schweißerbrille vor den Auswirkungen der infernalischen Dekoration des Katasterkaspers, der sich im Innern seines Hauses verschanzt hatte, wo es schön dunkel war.
»Lichtscheues Gesindel«, brüllte ich, legte den Baseballschläger aber trotzdem zur Seite.
Jetzt nur ein Öl ins Feuer gießen, dachte ich mir, gefolgt von dem Gedanken, daß Öl sowieso nicht brennt und dieser Spruch genauso ein Unfug ist wie»auf gute Nachbarschaft«-hohles Gesülze ohne irgend einen geistigen Sättigungswert.
Herr im Himmel:
Ein unendliches, riesiges, dichtes, weitverzweigtes Netz voller kreischend heller Glühbirnen war übers Haus gespannt, als hätte die Travestie einer Riesenkirmesspinne Eier gelegt; ein wahnhaft pulsender Plastik-Santa hing wie Falschgeld am Balkon, und zwar in schrillster Originalgröße; Rentiere aus Metall bevölkerten den Garten, alle durchzogen von schmerzlich gleißenden Lichtspiralen, alle mit einem doofen, zweidimensionalen »Spann mich vor den Schlitten«-Grinsen in ihren bescheuerten Drahtfressen; Die Bäume, die Zäune, der selbstgemauerte Grill: Alles leuchtete, blinkte, glimmte, schwoll irrsinnig weihnachtlich strahlend an und ab, und ich blickte in die Sterne, sah keine Drei Heiligen mit einer abisolierten Kabelzange und übergab mich auf den Rasen. Mir wurde schwindelig-dann sackte ich weg, die Welt waberte, verschwand....
August 1984
Discothek »Zwischenfall«, Bochum
21.48 Uhr.
Nahe der Tanzfläche.
Ich starre auf die Schuhspitzen meiner schnallenbewehrten, spitzen Dark-Wave-also-sauteuer-Stiefeletten, während Anne Clark sich hineinsteigert.
Trockeneis.
Mein Mantel schwingt locker in der Zugluft ankommender Grufties, die mir auf die Schulter klopfen.
»Zuckerwasser, Dracula?«, fragt ein Mädchen mit quarkfarbenem Makeup und Kettenhemd.
»Gel, Cola und Haarlack«, gebe ich mit Grabesstimme zurück, dann, um das Gespräch am Laufen zu halten: »Öfter hier?«
»Selten. Zu grell hier. Habs gern dunkel.«
Der Laden ist zappenduster, aber für manche Mädchen offenbar nicht duster genug.
Sie heißt übrigens Britta, nennt sich aber »Damona«.
»Geiles Outfit«, sagt sie und weist auf meinen schwarzen Rolli, in den ich mit Silbernieten »Zusatzzahl:666« gestanzt habe. Hier drin sind vierzig Grad.
Ich nippe an meiner Cola, die übel schmeckt, aber das einzige Getränk ist, das mir farblich gut steht.
»Wollen wir woanders hingehen? Wo es wirklich dunkel ist?«
Ihre Stimme klingt aufreizend rauh.
»Klar-wart noch einem Moment: Sie spielen gleich die Sisters.«
Ich kürze Sisters of Mercy immer so cool ab.
»Bring mich an einen Ort, der wirklich finster ist«, sagt sie, und ihr Kettenhemd klirrt sexy.
Obwohl sie aussieht wie der Tod auf Socken, ist sie süß. Diese sexy Gruftiesache. Schwer zu erklären.
Aus den Boxen kommt »Black Planet«, und wir hören es uns schweigend an, während sie an schwarzen Fingernägeln kaut.
»Bring mich an einen Ort, der wirklich finster ist«, wiederholt sie, und dann:
»Ich kann nur im Dunkel glücklich sein.«
Ich kann nur im Dunkel glücklich sein
Ich kann nur im Dunkel...
Ich wachte auf. Der Rasen war eiskalt.
Langsam kroch ich zum Haus zurück. Ein Plan hatte sich in meinem Kopf eingenistet.
»Das solltest du nicht tun! Willst du in den Knast?«, fragte jene, aus deren Schoß mein Erstgeborener geschlüpft war.
»Ungewöhnliche Situationen erfordern heftige Maßnahmen«, entgegnete ich, »und jetzt gib mir den UV-Blocker.«
Ein Blick in den Spiegel:
Das alte Outfit, fast zumindest.
Guter alter Mantel, dachte ich, dann streifte ich die Strumpfmaske über und zog den Kajal nach.
Beim nächsten Mal andersrum, sagte ich mir, wischte das Zeug von der Maske und griff mir die Axt.
»Wenn du jetzt gehst, brauchst du überhaupt nicht mehr antanzen«, keifte die Frau, welche meinen Sproß unter dem Herzen getragen hatte.
»Wenn ich zurück kehre, dann in Finsternis«, nuschelte ich durch den Stoff.
»Für wen bitte schön tust du das jetzt? Dein Sohn schläft sowieso, und mich stört es nicht. Und beim nächsten Mal nimm einen Perlonstrumpf, keine deiner alten Socken. Du siehst aus wie der Bücherwurm aus Lemmi und die Schmöker.«
»Danke. Ich tue das«, bellte ich und öffnete die Balkontür,»für alle hier. Dich, mich, den Einen...und Damona.«
»Wer ist Damona?«
»Erzähl ich dir, wenn ich wiederkomme.«
Ich betrat den Garten der Eheleute Kleffmann gegen kurz vor Mitternacht.
Ich habe den Rentieren großen Schaden zugefügt.
Ich habe den Nikolaus ausgelöscht.
Ich wollte das Hauptstromkabel an der Kellertreppe kappen.
Als ich gerade mit der Axt ausholte, erlosch alles Licht.
Frau Kleffmann, bei der ich mich hiermit vielmals entschuldige, nahm mich wohl als vermummten Mann wahr, der eine Axt über dem Kopf schwang, was nicht schwierig war, da ich direkt vorm Fenster stand. Ich hatte keine Ahnung, daß die Weihnachtsbeleuchtung über Zeitschaltuhr geregelt war, um demnach um Null Uhr erlischt, um etwaigen Beschwerden vorzubeugen.
Ich bedauere ausdrücklich, daß Frau Kleffmann sich zur Stunde nicht wohl fühlt, und werde für alle Kosten aufkommen, die über die üblichen Krankenkassenleistungen hinaus durch ihre psychatrische Behandlung entstehen.
Ich werde die Rentiere ersetzen.
Ich werde den Nikolaus ersetzen.
Wie besprochen werde ich mich dem Haus der Kleffmanns bis auf eine Distanz von hundert Metern nicht nähern, auch wenn das bedeutet, daß ich mich von nun an nur noch im Badezimmer aufhalten kann, weil das zur Straße rausgeht.
Ich werde weiterhin unterlassen, mich außerhalb der üblichen, dafür vorgesehenen Festtage zu kostümieren oder zu vermummen.
»Für die Kleffmanns ist das in Ordnung so«, meinte der Beamte, »jetzt die Anzeige. Seien Sie froh, daß Herr Kleffmann von der Anzeige wegen versuchten Todschlags absieht. Der Mann war in der Rechtsabteilung der Stadt und hat Verständnis. Er möchte ihr Leben nicht ruinieren. Aber Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch....nee, nee.«
Der Polizist begann, seine Schreibmaschine zu bearbeiten.
Epilog
»Wer also ist Damona?«, fragte die Miterzieherin des kleinen Mannes.
»Ein Schemen der Vergangenheit«, sagte ich und griff mir den Vorhang unseres Wohnzimmerfensters, »So wie dieser hier.«
Der Umriß eines doof grinsenden Rentiers hatte sich in den Stoff gebrannt, als wäre es das Turiner Leichentuch Christi.