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Essbar

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01.06.2005
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Essbar

Ich erwachte irgendwann mitten in der Nacht davon, dass ich mir selbst auf die Hand sabberte. Wieder mal vor dem Fernseher eingeschlafen!
Meine Jogginghose klebte an mir wie ein totes Meerestier: salzig und feucht. In meinem Mund den Geschmack von verendeten Chips, drückte ich mich aus dem Sofa hoch.
Seltsam.
Den Fernseher hatte ich sicher nicht abgestellt, sonst lief er eigentlich immer, wenn ich wach wurde.
Ich betrachtete das Gerät genauer: Die Mattscheibe war irgendwie milchig, als habe sie jemand mit Schmalz eingerieben.
Ich streckte die Hand aus: Nicht schmierig, eher trocken und stumpf. Das sah überhaupt nicht nach einem Fernseher aus!
Nein, Moment. Sicher sah es wie ein Fernseher aus, aber eben nur äußerlich. Wie eine Qualle, die die Form des Geräts imitiert hatte.
Jetzt fielen mir mehr Details auf: Die übermäßig gerundeten Ecken, die nach unten leicht zerlaufene Form, als wäre das Gehäuse zu heiß geworden. Ich beugte mich vor, um hinter den Kasten zu sehen.
Da war das Anschlusskabel, es wuchs aus der Rückwand heraus, wie eine schwarze Nabelschnur, in einem glatten Übergang. Die Lüftungsschlitze hatten die Form von Kiemen angenommen und bewegten sich leicht, als würde der Fernseher atmen.
War das Einbildung? Pulsierte das Ding wirklich?
Ich verlor das Gleichgewicht! Zu weit vorgebeugt. Ehe mir klar wurde, was ich tat, griff ich nach einer Ecke des Fernsehtiers.
Meine Hand drückte den Panzer ein wenig ein, dann brach er wie eine Brotkruste mit einem leise knuspernden Geräusch und mein Arm tauchte in einen darunter liegenden, klammen Teig.
Schauer liefen mir über den Nacken, schnell zog ich die Hand zurück.
Eine Art feuchte Krümel klebten daran.
Aber was war das? Ein köstlicher Geruch ging davon aus. Ein Duft, wie frisch aufgeschnittener Kuchen, mit einem Aroma nach Zitrus und Vanille.
Mir lief Speichel im Mund zusammen, ein Heißhunger, wie er einen manchmal in der Nacht befällt.
Das war widerlich! Mein Fernseher hatte sich in ein abstoßendes Ding verwandelt, und ich dachte daran, davon zu essen!
Ich leckte einen Krümel von der Hand und ein bisher ungekannter Geschmack explodierte in meinem Mund, wie nach Koriander und Brot, nach Bratkartoffeln und Marzipan und ... und!
Mit der zweiten Hand griff ich nun nach dem Gehäuse der Kreatur, riss immer größere Stücke aus dem Körper dessen, was einmal mein Fernseher gewesen war. Kaum noch kaute ich. Schnaufend schlang ich die Brocken der teigähnlichen Masse herunter, längst hatte sich mein Hunger in Gier verwandelt. Ich kniete vor dem Gerät, steckte schließlich meinen Kopf in die gerissene Lücke, um in das Fruchtfleisch zu beißen.
Irgendwann musste ich das Bewusstsein verloren haben.

Sofies Stimme weckte mich. »Willst du nicht langsam ins Bett kommen?«
Ich hörte sie aus dem Schlafzimmer rufen, über den Flur herein tappen.
»Sofie!«, stöhnte ich. »Ich hatte einen gräßlichen Traum!«
Sie schrie gedämpft auf, daher öffnete ich die Augen.
Es war kein Traum gewesen! Ich lag bäuchlings vor dem halb verzehrten Fernsehtier, die Wundränder des von mir gefressenen Kraters rollten sich bereits ein, als hätte eine Heilung eingesetzt.
Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht! Meine Arme waren bis zu den Ellenbogen mit dem Dielenboden verwachsen. Ich drehte meinen Kopf und sah, dass auch meine Füße Wurzeln in den Boden getrieben hatten.
Tränen stiegen in meine Augen und mein Herz wurde wie von einer Rankpflanze zerdrückt. »Was ist nur mit mir geschehen?«
»Oh Gott!«, weinte Sofie. Sie kniete sich in ihrem Schlafanzug auf den Boden vor mir, ergriff meine rechte Schulter mit beiden Händen und zog. Doch anstatt mich vom Boden zu trennen, brach mit einem leisen Knacken ein Stück der Schulter heraus. Es tat überhaupt nicht weh, nur ein leichtes Ziehen spürte ich an der Stelle.
Sofie starrte den Brocken an, ließ ihn fallen und erbrach sich neben mir. Sie wischte sich den Mund ab. »Was ist das nur?«
Ich konnte es nicht sagen, doch ein vertrauter, appetitlicher Geruch ging von dem Loch in meiner Seite aus. Mein Magen knurrte vernehmlich und ich versuchte, meinen Kopf so zu drehen, dass ich ein Stück aus meinem eigenen Körper beißen konnte, doch es gelang mir nicht.
Sofie hob das herabgefallene Schulterstück wieder auf und roch daran. Dann stopfte sie es sich in den Mund und kaute gierig.
Als sie das erste Stück aufgegessen hatte, begann sie mich Stück für Stück zu essen.
Ab und zu gab sie mir einen Bissen ab.

 

Hallo,
von mir nur die kurze Notiz, dass mir die kleine feine Geschichte sehr gut gefällt. Besonders der humorvolle Schlusssatz. Ich finde, zum ordentlichen Grusel gehört auch ein Schuss Humor, ich persönlich schätze das außerordentlich...

Ich vermisse bei dieser Geschichte keine Hintergrundinformationen. Wenn jemand einen Fernseher oder die Freundin den Freund oder jemand sich selbst zum Anknabbern findet...brauche ich keine weiteren Informationen ;)

Oft lese ich als Kritik, dass eine Geschichte wohl ein "Schnellschuss" ist. Ein Schnellschuss ist per se nicht zu kritisieren. Er kann durch das Ausbauen gewinnen - oder auch verlieren.

Grüße
nic

 

Hey nictita,

danke für die Rückmeldung & schön, dass es Dir gefällt.

Bei mir ist es sogar so, dass eigentlich alle meine Geschichten "Schnellschüsse" sind, das heißt, die Erstellungszeit hängt nur von der Länge ab. Selten, dass ich eine Geschichte mal komplett überarbeite.

grüßlichst,
Naut

 

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will auch nicht, dass alle Rätsel in einer Geschichte toterklärt werden. Aber ich finde, als Rätsel sollten innerhalb der Geschichte auch als solche aufgebaut werden. Irgendwie scheint sich der Mann ja nicht zu fragen, was das alles zu bedeuten hat.
Aber du hast recht, wenn ich mir das als Musikvideo vorstelle, dann funktioniert der Text. :D

 

@Naut

Zitat von Gnoebel in einem anderen Thread
Nee, gruselig fand ich die Geschichte nicht - dafür aber ziemlich witzig (endlich hab ich mal die Chance, den Satz, den ich selbst immer in dieser Rubrik um die Ohren bekomme, weiterzugeben. Ha! )
So, Staffel weitergegeben! :D Gerade das Fehlen von Schmerz und Verlustangst und der lakonische Erzählton: klasse!

Sie wischte sich Mund.
Ähm ... ist da schon was aufgegessen? :D

Gruß, Elisha

 

Hi Naut, ich glaube, ich habe mich missverständlich ausgedrückt:

Sie wischte sich ? Mund.
Ähm ... ist da schon was aufgegessen?
Damit meinte ich: Fehlt da was im Satz? :D

Gruß, Elisha

 

Danke Elisha. Manchmal hat man einfach ein Brett vor dem Kopf. ==O==

 

Hallo Naut,

eine gut geschriebene, gut getimte Geschichte ist dir gelungen. Trotz des Horrors schwingt unterschwellig Humor mit, sicher auch, weil der Protagonist appetitgesteuerte Gelassenheit ausstrahlt.

Voller innovativer Formulierungen steckt der text, davon kommt auch etwas in die Sammlung …

„Ich leckte einen Krümel von der Hand und ein bisher ungekannter Geschmack explodierte in meinem Mund, wie nach Koriander und Brot, nach Bratkartoffeln und Marzipan und ... und!“

Sehr überzeugend, diese Stelle: Trotz des widerlichen Äußeren bekommt man angenehme Assoziation von köstlichem Duft. (Zur Beurteilung dieses Aspekts ist es natürlich wichtig, die Irrealität als Teil der Realität des Protagonisten anzuerkennen).


„Schnaufend schlang ich die Brocken der teigähnlichen Masse herunter, längst hatte sich mein Hunger in Gier verwandelt. Ich kniete vor dem Gerät, steckte schließlich meinen Kopf in die gerissene Lücke, um in das Fruchtfleisch zu beißen.“

Das kann man durchaus als Parabel auf Fernsehsucht sehen - wie die Elemente sich doch ähneln!

„Meine Hand drückte den Panzer ein wenig ein“

- Hier hat mich nach der Qualle der Panzer stutzig gemacht.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hi Wolto,

das entzückt mich jetzt, dass es Dir gefällt! Noch schöner: dass mein Text in Deinem Poesie-Album vertreten sein wird. Klasse!

Woltochinon schrieb:
Das kann man durchaus als Parabel auf Fernsehsucht sehen - wie die Elemente sich doch ähneln!
Schön, dass Du das gesehen hast. Das war nämlich Absicht. :)

Über den Panzer der Qualle denke ich nochmal nach.

Bis bald,
Naut

 

Och Möööönsch, ich wollte doch Horror lesen...
...und du stellst hier eine Kömödie ein. tztztz

Verendete Chips, ein Fernsehtier, ein Prot, der sich in eine appetitliche Pflanze verwandelt...
Du hast Ideen!
Na, nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass Dracula doch nicht auftaucht, war die Geschichte ganz nach meinem Geschmack. ;)

Das mit dem Panzer der Qualle würde ich nicht anmeckern. Immerhin hast du geschrieben, dass der Fernseher aussah wie eine Qualle, und nicht, dass er eine war.
Außerdem... dann dürften ja auch innen drin keine Krümel sein. Krümelig kann ich mir eine Qualle nicht vorstellen.

 

Hey Schusterjunge,

ich denk mal, das ist ein Lob und sage artig: "Danke!"

P.S.: Nickname vom Layout inspiriert? Bist Du Setzer?

Grüße,
Naut

 

Hi naut,
Gruselig war es nicht, aber ein netter HAppen für Zwischendurch.
Könnte auch unter Satiere stehen, an und für sich aber eine runde Sache, an der ich mehr nicht aussetzen kann.

L.G.
Bernhard

 

Ich finde es geradezu frappierend, wie unterschiedlich Ekel, Abscheu und Grusel bei verschiedenen Leuten besetzt sind. Ich z.B. ekel mich fast gar nicht vor Spinnen und Insekten, wogegen es ja Leute gibt, die geradezu in Angststarre angesichts der kleinen Krabbler verfallen.
Diese Geschichte zeigt auch wieder, wie unterschiedlich die Reaktionen ausfallen können.

In diesem Sinne: Danke Louis, danke Bernhard!

Grüße,
Naut

 

Hi Naut,

mir is schlecht ... gut, hat nichts mit deiner Geschichte zu tun, wollts nur mal erwähnt habe.

Die Geschichte an sich hatte auf mich einen gar zweiteiligen Effekt. Einmal wurds mir schlechter, auf der anderen Seite gings mir besser. Gleichzeitig.
Ja, das ist schon sehr verrückt. Vielleicht sogar merkwürdig.

Nun gut. Stichwort. Verrückt. Wie deine Geschichte. Und so schließt sich der Kreis ...

Gut geschrieben, aber wirr.

Tserk!

 

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