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Evchen schreibt Geschichten.
Jutta Ouwens
Evchen schreibt Geschichten.
Evchen ist meine beste Freundin. Meine allerbeste Freundin.
Und sie schreibt Geschichten. („short-stories, so mitten aus dem Leben“).
Nun, dagegen ist nichts zu sagen. Das Schreiben macht Evchen zufrieden, mehr noch, es bereichert ihr Leben und erfüllt es mit Sinn.
Sagt sie.
Bis vor einem halben Jahr hat mit uns alles wunderbar funktioniert: Ich war Evchens auserkorene Erstleserin.
Sah ich sie mit einem Stapel bedruckter Blätter durch meinen Garten auf das Haus zueilen, die Wangen vor Aufregung gerötet, dann wusste ich: Ein neues Werk ist geboren; Zeit, die Kaffeemaschine anzustellen. Im Durchschnitt kam das einmal im Monat vor, bei heftigen Musenküssen konnte sich die Frequenz schon mal auf das Doppelte, oder, seltener, auf das Dreifache steigern.
Minuten später saßen wir in meiner Küche.
Evchen sortierte die Blätter, brachte sie mit beiden Handkanten in Form, atmete tief durch, um mit pointierter Aussprache den Titel zu verkünden.
(„Damit fängt man den Leser schon, verstehst du?“)
Ich schenkte derweil Kaffee ein und versuchte den Eindruck schwer zügelbarer Neugierde zu erwecken.
Eine ihrer letzten Geschichten hieß: „Das einstürzende Leben.“ Sie handelte von einer sehbehinderten alten Frau, die mit ihrem Einkaufswagen in einen Stapel Konservendosen fuhr.
Evchen war so ergriffen, dass sie beim Vorlesen weinte.
Ich zwinkerte angestrengt mit den Augen, zog die Mundwinkel nach unten, in der Hoffnung, Betroffenheit zu vermitteln; mehr war einfach nicht drin.
Was für den einen „mitten im Leben“ ist, ist für den anderen nur eine Randerscheinung desselben. Dachte ich , blieb aber still.
Mit Kommentaren wie: „Gut beobachtet, alle Achtung“ oder „Flüssig geschrieben und schön temporeich“ bewegte ich mich immer auf sicherem Terrain. Meinte ich es besonders gut mit Evchen, nahm ich sie nach dem letzten Satz stumm in die Arme.
Danach gingen wir zur Tagesordnung über: Shoppen, halbherzig joggen, seufzend über unsere Männer reden, Cellulite vergleichen, und so weiter.
Wie bereits erwähnt, bis vor einem halben Jahr waren wir ein eingespieltes Team.
Eines morgens kam Evchen ohne die zuvor angekündigten Blätter in meine Küche. Sie war blass, offensichtlich übernächtigt.
Kein Wunder, denn meine allerbeste Freundin hatte in einer schlaflosen Nacht eine schwerwiegende Entscheidung getroffen.
Evchen war überzeugt davon, der Welt ihre literarischen Kostbarkeiten nicht länger vorenthalten zu dürfen. Sie wollte nicht mehr nur für mich und ihre Schublade schreiben, mit diesem Egoismus sollte es endgültig vorbei sein.
Zu diesem Entschluss habe übrigens meine jahrelange, konstante Begeisterung für ihre short-stories beigetragen.
Evchen nahm mich stumm in die Arme.
Dem langen Training meiner Gesichtsmuskeln im Umgang mit Evchen hatte ich es zu verdanken, dass ich die Fassung bewahrte, ja sogar - Heuchlerin, die ich war - begeistert nickte!
In den folgenden Wochen schrieb Evchen an achtundsechzig Verlage, kopierte achtundsechzig Mal drei ihrer lebensmittigsten Geschichten, kaufte achtundsechzig braune Umschläge und einhundertsechsundsiebzig Briefmarken zu Einsfünfundvierzig, denn Evchen legte stets Rückporto bei.
Das erwies sich als weise, denn die Verlage machten ausnahmslos Gebrauch davon.
Evchen wurde von Absage zu Absage mutloser, verlor an Gewicht und steuerte auf eine existenzielle Krise zu.
Obwohl ich sie um die verlorenen vier Kilos glühend beneidete, tröstete ich sie mit Geschichten von spät entdeckten Genies, die ich mit den irrwitzigsten Zufällen ausschmückte.
Die Absagen flatterten regelmäßig ins Haus. Ich hatte mein inneres Frohlocken ganz gut im Griff.
Als es dann geschah, war ich völlig unvorbereitet.
Schon von Weitem sah ich den hellen Umschlag, den Evchen wild herumschwenkte, als sie durch den Garten spurtete.
„Angenommen“, hechelte sie atemlos und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen.
Der Umschlag schlitterte auf mich zu.
„Einstimmig angenommen von der Redaktionskonferenz, stell dir das mal vor!“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Ich wollte es mir gar nicht vorstellen, doch da stand es tatsächlich:
„……freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass unsere Redaktionskonferenz einstimmig beschlossen hat, Ihre gut beobachteten und flüssig geschriebenen Geschichten zu veröffentlichen.“
Evchen beobachtete mich mit Genugtuung, leckte dabei ihre Lippen.
„Dreh`den Umschlag mal um, da wirst du aber staunen. Das ist nämlich ein richtiger Literaturverlag!“
Wie betäubt tat ich, wie mir geheißen, um gleich darauf in Ehrfurcht zu erstarren.
Dort stand in gelbgoldenen, geschwungenen Lettern:
Literaturverlag Schillerlocke
Räubergasse 7
Flickschusterhausen
In der nächsten Woche erscheint das erste Buch meiner allerbesten Freundin Evchen. Damit es ein ganz besonders schönes Buch wird, hat sie etwas dazu bezahlt. Die Summe ist uninteressant, für Evchen zählt nur die Kunst, doch für eine luxuriöse Mittelmeerkreuzfahrt hätte es schon gereicht.
Was mich betrifft, haben sich Scham und Verunsicherung in mein Leben geschlichen, ich vertraue meinem Urteil nicht mehr vorbehaltlos, werde häufiger von Zweifeln geplagt.
Evchen hat das Buch mir gewidmet.
Die allererste Lesung wird natürlich in meiner Küche stattfinden, die Kaffeemaschine ist schon entkalkt.