Evelyn
EVELYN
Walter Hartmann erhielt die Nachricht vom Tode seiner Frau Evelyn an einem Donnerstagabend. Als es klingelte und Hartmann öffnete, stand ein uniformierter Polizist vor der Tür. Er teilte ihm mit, daß Evelyn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Auf abschüssiger Strecke hatte ein Wagen sie geschnitten und ihren Wagen zur Seite gedrängt. Sie war gegen einen Baum gerast und auf der Stelle tot gewesen.
Walter Hartmann hatte seine Frau sehr geliebt. Ihr Tod war ein schwerer Schlag für ihn. Er war Prokurist in einer Hamburger Spedition, die in der Form einer Kommanditgesellschaft betrieben wurde. Mit Winterfeld, dem persönlich haftenden Gesellschafter und Geschäftsführer der KG, war er eng befreundet. Mit ihm einigte er sich auf eine Beurlaubung von zunächst zwei Wochen, um sich von dem Schicksalsschlag zu erholen und die Nachlaßangelegenheiten zu regeln.
Hartmann war als Kommanditist mit einer Einlage an der Spedition und somit am Gewinn der Gesellschaft beteiligt. Zusammen mit seiner Frau war er Eigentümer eines Hauses. Evelyn war ebenfalls berufstätig gewesen. Nun schien alles, was das Ehepaar sich aufgebaut hatte, vergeblich gewesen zu sein. Nachdem seine Frau beerdigt und der Nachlaß geregelt war, stürzte Hartmann sich in die Arbeit, um seine schweren Gedanken zu verdrängen. Abends lud er oft Freunde ein, um nach der Arbeit nicht allein zu sein. Doch mit all seiner erzwungenen Heiterkeit und seiner jetzt oft lärmenden und derben Art vermochte er sich letzten Endes doch nicht selbst zu täuschen. Nachts lag er wach und dachte an seine Frau. Als er sein Elend nicht länger ertrug, fing er an zu trinken.
Winterfeld entging die Veränderung in seinem Wesen nicht. Als Hartmann mehrmals völlig betrunken zur Arbeit gekommen war, bat er ihn zu einer Besprechung in sein Büro.
"Was ich dir klarmachen möchte" begann er dort nach einem Moment des Schweigens, das seinen Worten Nachdruck verleihen sollte, "das ist, daß es auf diese Weise mit dir nicht weitergehen kann. Du bist in dieser Verfassung nicht nur unfähig zur Geschäftsführung, sondern du bringst dich mit deiner Trinkerei vorzeitig unter die Erde."
Hartmann war nur widerwillig zu der Besprechung gekommen, er hatte bereits geahnt, worum es dabei gehen würde. Nun jedoch war er froh, daß sein Problem zur Sprache kam. "Ich halte diese ganze Scheiße ohne Alkohol einfach nicht aus" sagte er, "Ich weiß nicht, ob du das verstehst."
Winterfeld antwortete gelassen und bestimmt. "Evelyns Tod muß nicht auch dein Ende bedeuten. Natürlich ist das ein furchtbarer Schlag für dich, das ist völlig klar. Aber durch dein Trinken machst du nichts besser."
Er schlug Hartmann einen Aufenthalt in einem Sanatorium vor. Nach seiner Meinung war das die beste Methode, mit der beginnenden Alkoholabhängigkeit Hartmanns fertig zu werden. Vielleicht, so fügte er hinzu, könne man durch eine medikamentöse Behandlung auch die Depression kurieren, unter der Hartmann seit dem Tode Evelyns litt. Winterfelds ernste und eindringliche Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Schließlich erklärte Hartmann sich zu einem Versuch bereit.
Von seinem Hausarzt erfuhr er die Adressen einiger Sanatorien und entschied sich nach einigem Nachdenken für eines im Allgäu. Er suchte bewußt einen starken Kontrast zum Stadtleben, weil er sich auch von einem Ortswechsel eine heilende Wirkung versprach. Nachdem die Kostenübernahme durch die Krankenkasse geregelt war, packte er seine Koffer.
Durch viel Bewegung an der frischen Luft und Gymnastik erholte er sich allmählich von dem Alkoholmißbrauch und den vielen Zigaretten der letzten Zeit. Winterfeld rief ein paarmal an, um sich nach ihm zu erkundigen. Die Telefongespräche liefen über eine Zentrale, in der ein ältliches Fräulein verband.
Nach etwa vier Wochen hatte Hartmanns Zustand sich nachhaltig gebessert. Der behandelnde Arzt eröffnete ihm seine Absicht, ihn in wenigen Tagen in die Obhut seines Hausarztes zu entlassen. Abends kam ein weiterer Anruf von Winterfeld. Es hatte sich ein Berg Arbeit angesammelt, und Winterfeld benötigte dringend seinen Rat bei einer Reihe geplanter Abschlüsse.
Hartmann versicherte, inzwischen wiederhergestellt zu sein und die Kur alsbald zu beenden. Nachdem sie noch einige Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, legte er auf. Durch den Freiton des Telefons hörte Hartmann Fetzen eines Gesprächs, ganz leise zwar nur, doch deutlich genug, um ein paar Brocken zu verstehen. Irgendjemand sprach von Weiß-Gott-wo über die gleiche Leitung. Zunächst hörte er eine Männerstimme. Als dann eine Frau antwortete, glaubte Hartmann, der Schlag werde ihn treffen. Aus weiter Ferne hörte er Evelyn. Was sie sagte, konnte er allerdings nicht verstehen. Nachdem er einen Moment völlig erstarrt dagestanden hatte, fing er an, ihren Namen in die Muschel zu schreien. Dann drückte er die Gabel nieder und wählte die 9, mit der er die Telefonistin erreichte. Aus dem wirren Zeug, das er redete, wurde sie zunächst nicht klug. Dann aber verstand sie, daß er wissen wollte, wer zur gleichen Zeit mit ihm über die gleiche Leitung gesprochen habe. Als sie ihm erklärte, daß sich das nicht feststellen lasse, weil es in der Bundesrepublik Deutschland einige zig-Millionen Telefonteilnehmer gebe, wurde er ausfallend. Schließlich ließ sie sich seine Beleidigungen nicht länger gefallen und legte auf.
In der folgenden Zeit - er war inzwischen zurück in Hamburg - setzte Hartmann alle Hebel in Bewegung, um seine Frau zu finden. Er sprach mit Ingenieuren, wie es möglich war, ein fremdes Gespräch am Telefon zu verfolgen. Er setzte sich mit der Telefongesellschaft in Verbindung. Schließlich beauftragte er sogar eine Detektei, seine allem Anschein nach noch lebende Frau zu suchen.
War er abends allein zu Hause, so stellte er die wildesten Vermutungen an. Eine Zeitlang glaubte er, sie hätte den Unfall nur vorgetäuscht und ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Dann wieder war er der Ansicht, sie hätte bei dem Unf all ihr Gedächtnis verloren und hielte sich irgendwo in Deutschland auf, ohne zu wissen, wer sie war.
Mit seiner Arbeit ging es unaufhaltsam bergab. Schließlich blieb Winterfeld nichts anderes übrig, als die Prokura zu widerrufen und ihn von der Geschäftsführung zu entbinden. Hartmann war es egal. Seine Gedanken drehten sich nur noch um seine Frau. Bald hielt er es in Hamburg nicht mehr aus und machte sich selbst auf die Suche. Er sprach mit Leuten, die Evelyn gekannt hatten und las Zeitungen und Zeitschriften in der Hoffnung, irgendwo ein Bild von ihr zu entdecken. Er besuchte Hotels und Pensionen in ganz Deutschland und hielt sich viel auf Bahnhöfen und Flugplätzen auf. Er folgte selbst dem abwegigsten Hinweis. Es war alles umsonst.
Nach einer etwa halbjährigen Odyssee durch die ganze Republik befand er sich eines Tages in München. Als er abends erschöpft in sein Hotel zurückkehrte, war er so ausgebrannt und ausgelaugt, daß es ihm unmöglich war, zu schlafen. Mit einem Glas Cognac in der Hand setzte er sich in einen Sessel. Ohne eigentlich etwas wahrzunehmen, starrte er die gegenüberliegende Wand an. Nachdem er eine halbe Stunde dumpf vor sich hin gebrütet hatte, entschloß er sich, ein heißes Bad zu nehmen. Er hoffte, danach doch noch schlafen zu können. Er ging ins Bad und ließ Wasser ein. Er stellte es so heiß ein, wie er es gerade noch ertrug, und legte sich in die Wanne. Dann genoß er, wie das Wasser langsam stieg. Allmählich wurde er ruhiger. Nach einer Weile stieg er aus der Wanne, trocknete sich ab und schlüpfte in seinen Bademantel. Dann ging er zurück in sein Zimmer.
Auf dem Bett saß Evelyn. Nachdem er sie beinah eine Minute lang angestarrt hatte, ohne auch nur ein Wort hervorzubringen, lächelte sie und gab ihm die Hand. "Ich bin keine Halluzination" sagte sie, "mit deinem Verstand ist alles in Ordnung.“
Als Hartmann seine Sprache wiedergewonnen hatte, begann er sie mit Fragen zu bestürmen. "Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?" fragte er fassungslos, "und warum hast du dich kein einziges Mal bei mir gemeldet?"
Er war in einer Weise aufgeregt und wollte alles so genau wissen, daß sie ihm schließlich lächelnd den Finger auf den Mund legte. Weil er sie monatelang verzweifelt gesucht und alles unternommen hatte, um sie wiederzusehen, sei sie gekommen, um ihn zu treffen. Er solle sich nicht mit unnötigen Fragen quälen, sondern den Augenblick genießen. Jetzt sei sie da, erklärte sie ihm, und wolle etwas Schönes mit ihm erleben. Hartmann war glückselig und wäre mit allem einverstanden gewesen.
Sie gingen in ein Restaurant und verbrachten anschließend die Nacht zusammen in seinem Hotelzimmer. Das ganze Elend der vergangenen Monate und die verzweifelte Suche nach Evelyn waren vergessen. Hartmann schwamm auf einer Woge von Seligkeit und hielt sich für den glücklichsten Menschen der Welt.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war Evelyn verschwunden. Nachdem er sie im ganzen Hotel gesucht und nicht gefunden hatte, gab er auf. Das Wechselbad war zuviel für ihn. Apathisch und gebrochen machte er sich auf den Rückweg nach Hamburg.
In seinem Haus, das ihm jetzt groß und leer vorkam, verbrachte er den ganzen Tag in einem Sessel sitzend, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Er hatte nicht einmal Lust, sich zu betrinken. Er sah keinen Sinn mehr in seinem Leben und glaubte auch nicht, daß sieh sein merkwürdig empfindungsloser Zustand jemals wieder ändern würde.
Am Abend besuchte ihn Winterfeld. Hartmann erzählte ihm die ganze Geschichte und versicherte abschließend, nicht verrückt zu sein. Evelyns Auftauchen sei keine Einbildung gewesen, sie sei wirklich und wahrhaftig gekommen und habe die Nacht mit ihm verbracht. Warum und wohin sie jetzt wieder verschwunden sei, wisse er nicht. Schließlich fragte Winterfeld, wer dann die Tote sei, die in Evelyns Grab lag. Hierauf wußte Hartmann keine Antwort und entschloß sich, die Tote exhumieren zu lassen.
Das Ergebnis der Obduktion war eindeutig. Die Tote war Evelyn Hartmann.