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Ewiger Herbstniedergang
Die Blätter der Bäume sind nicht mehr wirklich grün. Sie färben sich langsam braun und fallen teilweise schon zu Boden hinab. Ich blicke um mich und sehe zwischen den dichten Büschen eine Gestalt. Ich gehe auf diese zu, um ein Mädchen im weißen Kleid zu erkennen.
Ich nähere mich und als sie mich bemerkt, frage ich sie: „Was machst du hier?“ Ich hätte erwartet, dass sie leicht erschreckt, aber sie ändert ihre Miene nicht. Sie lächelt bloß, und sagt: „Ich genieße.“ Verwundert über die ungewöhnliche Antwort füge ich einen weiteren Stein ins Mosaik meiner Fragen: „Was genießt du?“, und war mir sicher, nun eine plausible Antwort für ihre Fröhlichkeit in diesem langweiligem Garten zu erfahren.
„Ich sehe mir diesen Garten an und sehe so viel. Die letzten Blumen des Sommers, die Bäume mit den wunderschön gefärbten Blättern, die in Anmut zu Boden fallen. Es ist einfach herrlich, das alles zu sehen.“
'Herrlich' sagt sie. Sie findet es 'herrlich'. „Warum findest du es herrlich? Es ist nur ein Garten, nichts weiter.“, frage ich mit der Gleichgültigkeit, die mir der Garten antut. „Kannst du die schönen Farben nicht sehen? Zuerst sind die Blätter der Bäume grün, doch dann färben sie sich rot und braun. Schließlich fallen die braunen nieder und hinterlassen grünrotgefärbte Bäumchen. Diese ganze Farbspielerei, und das nur durch die Kraft der Natur. Ich finde es beeindruckend schön.“
Ich schüttele meinen Kopf und wende mich von ihr ab. Ein letzter Blick noch, dann drehe ich mich um und gehe gemächlich zu meiner schwarz lackierten Bank, auf welcher ich schon das ganze Jahr verweilte. Noch bevor ich mich setzen kann, bemerke ich die leisen Schritte hinter mir. Das Mädchen ist mir gefolgt. Ich atme noch einmal durch, und frage sie, weshalb sie mir folgt.
Mit ziemlich energischem, aber doch hinterfragendem Ton führt sie an: „Ich kann dich nicht verstehen. Die Welt um dich ist doch so schön. Und du sitzt Tag ein und Tag aus immer nur auf deiner schwarzen Bank. Nie kommst du hinab und spielst mit mir. Wieso bist du nur so engstirnig, dass du nicht einmal die Schönheit des Herbstes mit mir genießt?“
Ich hatte mir bereits gedacht, dass sie diese Position vertritt, denn die Meisten vertrauen immer nur auf ihr eigenes erstes Urteil. Also drehe ich mich zu ihr und erblicke ihre Augen. „Weißt du“, erkläre ich ihr, während ich mich setze, „die Farben sind vielleicht schön. Aber du beurteilst nur die Farben. Und du siehst nur deinen Standpunkt. Dein Bild von diesem Garten und seiner Natur wird sich ändern, wenn du die Sache anders betrachtet.“
Mit ungläubigem Blick starrt sie mich an. „Das ist ja alles gut und schön und aus der Theorie vielleicht richtig, aber dennoch ist der Garten schön in dieser Zeit!“ Ich muss lächeln, denn ich erkenne die Naivität, die so viele Geschöpfe in diesem Garten haben, in diesem Kommentar wieder. Ich lade das Mädchen ein, sich auf meine Bank zu setzen.
Das tut sie, auch wenn sie nur ganz außen Platz nimmt. Mein Blick aber schweift noch einmal über die Bäume. Das Mädchen betrachtet zunächst mich, dann studiert sie die Richtung meines Blickes und schaut danach ebenso auf die Bäume. Erneut beteuert sie: „Schön, nicht?“
„Nein.“, ist meine Antwort. „Warum?“, fragt sie. „Einst fand ich auch, dass es schön sei. Aber dann änderte sich meine Ansicht.“ Wieder fragt sie: „Warum?“
Dann schweigen wir. Beide schweigen wir für eine unbestimmte Zeit. Ich kam nicht umhin, mir eine Träne zu verkneifen, was das Mädchen aber nicht sieht. Und beide starren wir auf die Bäume.
Als wir beide gleichzeitig ein hinab fallendes Blatt fixieren, nehme ich mich zusammen und beginne zu erklären: „Damals hätte mich dieser Anblick fasziniert. Doch in Wirklichkeit sieht es anders aus. Hinter dem bunten Farbspiel der Natur unseres Gartens steckt Grausamkeit. Jung und gelbgrün sind die Blätter am Anfang und sie gedeihen in ein tiefes Grün im Sommer. Doch die Zeit vergeht und mit ihr altern auch diese Blätter. Irgendwann werden sich die Blätter verfärben. Das ist nicht schön. Es sind Hilfeschreie dieser Blätter, die dem Tod entgegen gehen. Und dann, wenn sie sterben, fallen sie in die Tiefe, immer weiter und weiter hinab. Dann liegen sie da. Und du findest es schön und trampelst auf ihren Leichen herum. Das ist es, was ich nicht verstehe. Oder besser gesagt ist es das, was ich verstehe.“
Es vergeht etwas Zeit, bis mein Blick nach diesen Worten vom herunter gefallenen Blatt abweicht. Ich dachte eigentlich, dass das Mädchen darüber nachdenkt. Aber sie ist nur eingeschlafen. Eigentlich sollte ich ihr böse sein. Aber das bin ich nicht. Still sitze ich einfach auf meiner Bank und fühle Trauer um jedes neue Blatt, welches hinab fällt. Wie jedes Jahr. Seit Beginn des Seins. Bis in alle Ewigkeit.