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Exit
Sonne. Wundersames Gebilde, Fixstern unseres Sonnensystems, Licht- und Wärmespender. Luft. Gasgemisch der Erdatmosphäre, unersetzlich. Ich atme.
Ich stehe im Park, auf der Wiese, auf 20x20 cm2 Rasen, 20x20 cm2, die mir gehören, überall auf der Welt, das Rechteck, das meine Füße bilden, wenn sie eng nebeneinander stehen. Meine Arme sind weit ausgebreitet. Ich umarme die Welt.
„Möchtest du einen Tee?“
„Kaffee, wenn du hast.“
„Der ist alle, ich muss erst wieder neuen bestellen, das dauert ein paar Tage.“
„Das Problem ließe sich leicht lösen, das weißt du. Ich kann dir helfen, wenn du willst.“
„Ich bin noch nichts soweit. Tut mir leid.“ Ich trank einen Schluck Wein.
„Nein, mir tut es leid. Du tust mir leid.“
„Ich kann dir einen Tee machen.“
„Gut, dann nehme ich Tee. Mit Milch.“
„Die Milch ist auch alle.“
„Was hast du denn eigentlich?“
„Ich kann dir Kaffeeweißer geben.“
„Nein, lass. Was macht die Arbeit?“
„Ich sitze gerade an einer Kurzgeschichte, wird ganz gut, glaube ich.“ Ich machte seinen Tee in der Küche, während wir einander zuriefen.
„Du glaubst? Meinst du, das reicht? Heutzutage musst du dir da sicher sein.“
„Du redest wie ein Agent.“
„Ich bin dein Agent. „Ich bin dein Agent. Und dein Freund. Aber du lässt nichts zu. Du bist wie eine kleine Fledermaus, in der Nacht aktiv und unsichtbar. Ungreifbar.“
„Es tut mir leid.“
„Jetzt im Ernst. Wann willst du wieder rausgehen? Du kannst dich nicht ein Leben lang verstecken.“
„Lass mich.“ Ich trank einen Schluck Wein.
„Ich mache mir Sorgen, seit drei Monaten hockst du hier in der Wohnung, gehst nicht vor die Tür. Was hast du davon? Und was ist mit uns?“
„Lass mich doch! Draußen laufen zu viele Arschlöcher rum, denen möchte ich gern aus dem Weg gehen. Das Leben ist so schwer genug, ich hab Arbeit mit mir allein, da kann ich mich nicht auch noch um andere Idioten kümmern. Es geht doch immer um dasselbe: Geld, Sex, Macht und Leute, die das alles nicht haben und frustriert sind.“
„Das ist deine Meinung?“
„Das ist meine Meinung.“ Mein Glas war leer.
„Der Tee ist bitter.“
„Ich bin kein Restaurant.“
„Ich glaube, ich geh dann mal.“
„Lass dich nicht aufhalten.“
„Wenn du Hilfe brauchst ...“
„Ich brauche keine Hilfe!“
„Gut.“
Mike ging und ich war wieder allein. Ich fiel aufs Sofa und flennte los, ich konnte es nicht aufhalten, ich würde eine Menge Taschentücher brauchen, das war klar. Die Tränen strömten über mein Gesicht, als hätte ich in meinem Leben noch nie geweint und dies waren jetzt die Tränen, die sich jahrelang aufgestaut hatten, ich machte nasse Flecken auf den Couchkissen. Wimperntusche lief mir in die Augen und brannte höllisch, ich würde die schwarzen Striemen einzeln aus den Augen rauspulen müssen, kein schöner Job. Ich wusste nicht, warum ich weinte. Mike hatte Recht, ich versteckte mich, war unsichtbar, ich würde den Rest meines Lebens hier in dieser Wohnung verbringen und einsam sterben; kein Mensch würde mich vermissen, außer vielleicht Mike, geschweige denn gewusst haben, dass ich je existiert hatte. Seit drei Monaten hockte ich hier, Angstzustände wegen der Messerattacke eines vermeintlichen Buchkäufers während einer Lesung, voilà. Weder Krankheit noch Wahnsinn würden mich davon abhalten, in dieser Wohnung weiter zu residieren, zu logieren, mich zu verstecken, dahin zu vegetieren ... Ich stellte mich auf eine lange Zeit ein.
Mein Atem ging stoßweise, beruhigte sich langsam. Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar, dann übers Gesicht. Ich war völlig erledigt, ausgepumpt, kraftlos, ich musste mich aufrappeln, sonst war die Chance groß, nie wieder aufzustehen, so fühlte ich mich; mir war nach einem Drink. Vorsichtig erhob ich mich und schlurfte Richtung Küche, dort wartete eine halbvolle Flasche Rotwein auf mich. Ich holte die Flasche aus dem Regal und köpfte sie, dann nahm ich mir mein Glas und goss es randvoll, setzte es an, trank – das tat gut. Ich liebte Rotwein, den weiche Schmelz eines Cabernet Sauvignon oder Zinfandel, wie der Wein warm die Kehle runter floss, köstlich, das konnte einem doch gleich wieder neuen Lebensmut geben. Ich vermisste Mike gar nicht. Ich vermisste niemanden. Allein trinken war sowieso besser, da hatte man den ganzen Schnaps für sich. Meine Tränen waren fast getrocknet. Ich stellte den Fernseher an, zappte durch die Kanäle. Auf einem Sender zeigten sie eine Doku über Bungee-Springen:. würde ich nie machen, niemals. Nur an ein Seil geknotet hunderte von Metern tief zu springen, ohne mich. Das war was für Möchtegern-Selbstmörder. Die Leute wollten das Gefühl eines Selbstmörders haben ohne die Konsequenzen, sie waren feige. Sie nahmen einem richtigen Selbstmörder die Ehre.
Die Kamera verfolgte, wie so ein junger Typ am Seil befestigt wurde. Zwischendurch blendeten sie immer wieder den Abgrund ein, in den er sich gleich stürzen wollte. Es war verdammt hoch. Ich ging rüber zu meinem Fenster, öffnete es und sah runter. Nicht ganz so hoch, aber immerhin 8. Stock. Ich schaute mich um. Kein Bungee-Seil in der Nähe.
Dann kippte ich ein weiteres Glas Rotwein in mich hinein. Ich war nervös wegen Mike, wegen einer kleinen Verliebtheit, die mir überhaupt nicht in den Kram passte. So was passte mir nie in den Kram, und ich versuchte, es zu verhindern; nicht immer erfolgreich, wie man sah. Ich brauchte Schnaps-Nachschub, ich hatte stechenden Durst. In der Küche suchte ich nach einer neuen Flasche. Im Weinregal war keine, auch kein Weißwein im Kühlschrank. Kein Gin, kein Sekt. Ich saß auf dem Trockenen, das war noch nie vorgekommen, die einzige Rettung war der Pizzaservice. Ich wählte die Telefonnummer und suchte gleichzeitig nach Bargeld in meinem Portemonnaie. Es folgte der Schock: kein Geld! Das gab mir den Rest.
Ich überlegte fieberhaft. Freunde anrufen – Fehlanzeige. Niemand sollte unbedingt genau wissen, wie viel ich trinke, manche wären gelinde gesagt etwas überrascht, obwohl die meisten von ihnen auch keine Kinder von Traurigkeit waren. Es kam ein gewisses Schamgefühl in mir hoch, nicht der Freunde, sonders des Trinkens wegen. Ich wusste, dass ich zuviel trank. Aber schließlich wollte ich auch nicht alt werden und so das Leben in vollen Zügen genießen, fertig, aus, jeder, der mich von Rohkost und Diät-Cola überzeugen wollte, bekam das von zu hören. Wo bleibt da der Spaß! Ich will hier Spaß! Dann drehten die meisten genervt ab.
Es war noch nicht spät, es war im Gegenteil noch recht früh, um die Mittagszeit, viel zu früh, um schon ausgiebig dem Rotwein zuzusprechen. Ich brauchte eine neue Flasche, am besten Rotwein und eine Flasche Gin dazu, für frischen Gin Tonic. Man könnte einen Taxifahrer bitten ... zu peinlich. Man könnte einen Nachbarn um Bargeld anhauen und so den Pizza-Service finanzieren. Gute Idee. Oder ...? Ich kannte den Nachbarn nur vom Sehen, sonst keinerlei Kontakt, und bei dem wollte ich fünfzig Euro schnorren? Das ging gar nicht! Aber ich verwarf diesen Zweifel schnell, die Gier nach Alkohol war stärker als die Hemmschwelle hoch, also warf ich mich mit einer frischen Bluse in Schale, sprühte mir Pfefferminzspray in den Rachen und öffnete die Wohnungstür.
Ein ungewohnter Duft nach Reinigungsmittel strömte eine meine Lungen, ich atmete zweimal kurz ein und aus, um mir den Geruch wieder einzuprägen in die dafür verantwortlichen Areale meines Gehirns. Ich genoss den Duft von Zitrone und Bohnerwachs, es erinnerte mich an die Schulzeit. Plötzlich wurde mir leicht schwindelig, der Boden schien wegzusacken, meine Knie waren weich wie ein nasser Schwamm, ich hielt mich am Türpfosten fest. Zurück, nur schnell zurück. Das war ein Fehlstart. Ich schloss die Tür – von außen. Nein, nicht ich schloss die Tür, es war ein Luftzug, der mir die Klinke praktisch aus der Hand zog. Nun stand ich da, mitten im Treppenhaus, ganz allein – und ohne Schlüssel.
Ich klebte am Türpfosten wie ein Selbstmörder, der es sich anders überlegt hat und der nun doch nicht, mit Bungee-Seil oder ohne, in die Tiefe springen will. Manche Entscheidungen bereut man ziemlich schnell, eigentlich ist man das ganze Leben damit beschäftigt, Entscheidungen zu bereuen oder verlorenen Chancen hinterher zu weinen. Immer dann, wenn’s zu spät ist, immer einen Hauch zu spät, aber zu spät.
Da ich nun schon allein im Treppenhaus stand, konnte ich mich auch zur Nachbartür rüber bewegen, schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen. Leise und zaghaft tastete ich mich an der Wand entlang, um bis zum nachbarlichen Klingelknopf zu gelangen. Ich schaffte es. Ich stand vor der Tür und klingelte. Ich wartete. Nichts. Nochmaliges Klingeln. Nichts.
Jetzt hatte ich ein Problem. Ich musste wohl oder übel in den Abgrund springen. Rüber zum Fahrstuhl.
Ich drückte auf den Knopf und hörte den Fahrstuhl kommen. Gleichzeitig schalt ich mich wegen meiner Schusseligkeit. Ich wäre nicht in diese Situation gekommen, wenn ich genug Wein und/oder Bargeld im Haus gehabt hätte; das würde mir eine Lehre sein. Der Aufzug kam und ich stieg ein. Drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoss. Der Fahrstuhl sog mich den Schacht herunter und spuckte mich unten wieder raus. Ich stand verdattert im Flur und musste mich erst mal orientieren: hier war ich lange nicht gewesen. Ich sah Bäume vor dem Fenster und Blumen, die dufteten. Vögel flogen umher. Trotz des Straßenlärms durch die Autos und Lkws, die vorbei donnerten, konnte man ihr Zwitschern hören. Natürlich konnte man auch die Polizeisirenen hören und die Autofahrer, die fluchten, weil ihnen die Ampel nicht schnell genug auf grün umsprang. Ich ging ein paar Schritte auf die Haustür zu, griff nach der Klinke, drückte. Die Tür ging auf und ich war draußen. Der Wein war vergessen. Ich steuerte meinen Schritte Richtung Park. Da war ich seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen, als Kind vielleicht. Dann wurde der Park mit seinem See und den Enten, die darin umherpaddelten, nicht mehr spannend genug, auch der Abenteuerspielplatz verlor schnell seinen Reiz; man wurde erwachsen.
Jetzt wollte ich dahin zurück. Ich ging schnell, nahm die Eindrücke um mich herum wahr, staunend wie ein Kind, die Wärme der Sonne in meinem Nacken, den Staub in der Luft, der in meiner Nase prickelte. Dann war ich beim Park. Die Bäume und Sträucher grüßten mich wie einen alten Bekannten, die Luft war angenehm kühl. Es war still, niemand sonst war im Park, alle waren arbeiten. Ich trat auf die Wiese, zog die Schuhe aus und spürte seit langem wieder Rasen unter den Füßen, ich ließ mir Zeit und fühlte alles wie zum ersten Mal: wie die Grashalme an meinen Fußsohlen kitzelten, die Feuchtigkeit des Taus, die kratzigen Fleckchen Erde, die meine Füße berührten. Ich stand mit beiden Beinen auf der Erde. Schön.
Und dann spürte ich ein Gefühl, das sich nur noch selten einstellte: Glück.
Ich wusste, wohin ich wollte. Ich hatte Mike noch nie in seiner Wohnung besucht. Dahin ging ich jetzt, barfuss, es war warm genug.
Den Wein holte ich später.