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Serie Exodus - Ausgeliefert

Seniors
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26.02.2003
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Exodus - Ausgeliefert

Meine früheste Erinnerung ist ein Erwachen.

Die Arme meiner Mutter halten mich fest umschlungen. Ich drehe meinen Kopf und sehe den starren Blick ihrer Augen. Da ist getrockneter Schaum auf ihren halb geöffneten Lippen und ihr Körper ist kalt.
Ich beginne zu schreien und winde mich aus ihrem Griff.

Dann wache ich auf.

Damals war ich fünf Jahre alt.

Wie alt bin ich jetzt?

Ich liege in einem Bett in einem Raum mit weißen Wänden. Sonst gibt es keine Einrichtung.

Ich blicke an mir herunter und sehe weder Arme noch Beine an meinem nackten Körper, auch keinen Hinweis auf mein Geschlecht. Es gibt keine Stümpfe oder Narben, als wäre mein Körper so gewachsen. Ich bin sicher, das ist er auch. Ich bin aber auch sicher, ich wurde nicht so geboren.

Durch eine verglaste Wand kann ich auf einen Korridor blicken. Dort laufen Menschen auf und ab. Manchmal bleiben sie stehen und unterhalten sich. Niemand blickt mich an. Kein Laut ist zu hören. Kein Wort ihrer Gespräche dringt zu mir durch.

Ich rufe ihnen zu, aber sie reagieren nicht. Sie wissen nicht, dass es mich gibt.

Ich weiß Dinge, ohne Erinnerung daran zu besitzen. Ich betrachte die Leute dort draußen, und Informationen über ihr Leben dämmern in meinen Gedanken.
Ich kann in ihren Gesichtern lesen, in ihren Gesten. Je länger ich sie beobachte, desto mehr erfahre ich.

Warum erlaubt man mir sie zu sehen? Warum erlaubt man mir zu leben?

Die Menschen vor dem Fenster kennen die Antworten auf meine Fragen nicht. Sie sind nur Marionetten.
Köder, um meine Aufmerksamkeit zu wecken.

Alles hat Gründe. Das Bild meiner Situation wird mit jeder Sekunde klarer, doch vermag ich nicht zu sagen weshalb.

Meine Anwesenheit hier hat einen Zweck. Es wird nicht lange dauern, um ihn zu erfahren.
Ich muss abwarten. Inzwischen betrachte ich das Leben der Menschen vor meinem Fenster.

---

Jemand hat den Raum betreten. Sie ist hinter mir. Ich frage mich nicht mehr woher ich weiß, dass es eine Frau ist.

"Guten Morgen. Wie fühlen Sie sich?"

Wie fühle ich mich? Ich fühle nicht das Geringste. Keine Schmerzen, keinen Hunger, keinen Durst.

Sie tritt in mein Blickfeld. Jung und hübsch, und sich dessen bewusst, verzichtet aber darauf ihre Vorzüge nachdrücklich hervorzuheben.

"Ich fühle mich nicht."

Sie ist weder überrascht noch reagiert sie mit Höflichkeit, die sie nicht für nötig hält.

Sie drückt auf das Armband an ihrem Handgelenk und der Korridor verschwindet. Die Stelle an der sich das Fenster befand, unterscheidet nun nichts mehr von den anderen Wänden.

"Sie sind hier, da Sie eine einzigartige Fähigkeit aufweisen, die für die Union der Erdstaaten einen gewissen Nutzen besitzt."

Einzigartig?
Sie weiß nicht wovon sie spricht. Man hat ihr keinerlei Information darüber gegeben, wer ich bin. Sie weiß noch nicht einmal ob das was sie sagt eine Lüge ist. Sie weiß nur, dass sie es sagen muss.
Sie dient den Menschen dort draußen als Barriere. Vorgeschoben von denen, die den Kontakt mit mir vermeiden müssen.
Man hat ihr Anweisungen gegeben sich so wenig wie möglich zu bewegen und mich nicht direkt anzublicken.
Sie hat sich ausgezeichnet im Griff.

"Sie werden Informationen erhalten. Ihre Aufgabe wird es sein, diese Informationen auszuwerten."

In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich Dinge weiß, weil ich in der Lage bin Zusammenhänge zu erkennen. Worte, Gesten, Blicke, Gerüche, Geräusche, all das setzt mein Gehirn zu einem Gesamtbild zusammen, das mehr ist, als die Summe der einzelnen Teile. Mehr als das Spektrum menschlicher Informationsaufnahme zu erfassen vermag.
Aber das ist nicht die einzigartige Fähigkeit, die sie erwähnt hat. Es ist die Tatsache, dass ich an meinen Ergebnissen nicht zweifle. Ich weiß, dass sie zutreffen. Gleichzeitig macht mich diese Eigenschaft unfähig zu lügen.

Erneut berührt sie ihr Armband. Die Wand verändert sich wieder.

Anstelle des Korridors erscheinen Toiletten. Fünf Stück, durch dünne Wände voneinander getrennt.

Sie wusste es nicht.
Für den Moment eines Augenzwinkerns huscht der Ausdruck der Überraschung über ihr Gesicht, dann hat sie sich wieder gefasst.
Ein kalter Schauer läuft über das was von meinem Körper übrig ist.

"Was, wenn ich mich weigere?"

"Wir können Ihnen Schmerzen zufügen."

"Ja, das können Sie, und ich kann meine Zunge verschlucken."

Sie verlässt den Raum, ohne sich eine weitere Blöße zu geben.

Ich betrachte die Menschen auf den Toiletten, aber ich muss an das Mädchen denken. Dieser eine Moment, in dem ihre Selbstbeherrschung bröckelte, hatte mich mit einem fast unnatürlichen Glück erfüllt.

---

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Es gibt weder Tag noch Nacht. Ich schlafe nicht, ich esse nicht, aber es macht mir nichts aus. Wie lange kann dieser Körper so leben?

Das Mädchen ist zurückgekommen.

"Sie haben vage Erinnerungen an Ihre Mutter. Wir bieten Ihnen mehr davon an, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten."

Sie weiß mehr als das letzte Mal. Man hat ihr gesagt, was es ist, das man mir vorenthält. Mich mit Erinnerungen an meine Mutter zu erpressen, weckt negative Assoziationen in ihr. Ein weites Spektrum möglicher Angriffe eröffnet sich mir. Ihre Schwäche fühlt sich gut an. Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken.

"Zeigen Sie mir die Informationen."

Die Toiletten weichen Dokumenten, Videos und Sprachaufzeichnungen.
Die Informationen reagieren auf meine Blicke. Ich kann sie mit meinen Augen öffnen, anzeigen, heranzoomen und abspielen.

Ein Name: Grant Guller

Ein Planetenscout, der sich weigert die Koordinaten eines besiedelbaren Planeten herauszugeben. Er will das Leben, das er dort gefunden hat, vor den Menschen schützen. Wie heroisch.

Ein Test. Es gibt keine Lösung.

Ich erkläre dem Mädchen, dass ich ihr nicht helfen kann. Ich kann weder die Koordinaten feststellen, noch Ratschläge zur Kommunikation mit Guller geben, da die Verbindung zu ihm schon vor Jahren abgebrochen ist. Man hat sich redlich bemüht, diese Information vor mir zu verbergen.

Sie wusste es nicht. Noch immer gibt man ihr nur sehr eingeschränkt Informationen, aber sie besteht darauf, dass ich meine Ergebnisse begründe.

Während ich die Fehler aufzeige, die gemacht worden waren, erwähne ich, dass der Verantwortliche für die Verhandlungen ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Mutter hatte.
Ich liebe es, wie sie auf solche Details reagiert. Es macht mir Spaß, an der Oberfläche ihrer abgeschotteten Psyche zu kratzen.
Mit jedem unregelmäßigen Atemzug, mit jedem Zucken ihrer Pupillen gibt sie mehr Informationen über sich selbst Preis.

Ich erkenne, dass die Guller-Aufgabe nicht einfach ein Test ist.
Meine Fähigkeiten stehen fest. Jemand unterbreitet mir hier ein Angebot, bevor ich den eigentlichen Auftrag erhalte. Man will sich meiner Kooperation sicher sein.
Die Erinnerungen an meine Mutter sind nur ein Vorwand. Es ist das Mädchen, das man mir anbietet.
Sie haben mir Körper und Geschlecht genommen, aber meine Fähigkeit Lust zu empfinden ist uneingeschränkt.
Es erregt mich, daran zu denken, wie ich in ihre Seele eindringe und die filigranen Gefüge darin niederreiße.
Ich will es tun. Ich will in sie hineinblicken und erkennen was sie antreibt, um es dann zum Stillstand zu bringen.
Die Menschen sind so schwach und das Ergebnis so befriedigend. Ich muss unzählige von ihnen mit meinen Worten getötet haben.

Sie alle haben Geheimnisse, nicht vor mir, sondern vor einander. Kein Wunder, dass sie mich fürchten. Die Menschen ertragen ihre eigenen Wahrheiten nicht.
Sie denken, ihre Zukunft liegt in den Sternen. Aber wofür ist die Weite des Alls gut, außer noch mehr von ihnen Platz zu bieten? Damit erhöhen sie nur die Wahrscheinlichkeit, dass ich erneut entstehe. Ich mag nicht die reinste Art der menschlichen Evolution verkörpern, aber sie wissen, dass ich ihre Zukunft bin, auch, wenn sie es verleugnen.
Sie töten was sie fürchten, doch sie holen mich zurück, wenn sie auf ein Problem stoßen, das ihre Art zu denken übersteigt.
Sie erschaffen meinen Körper neu. Sie nehmen mir die Erinnerung, aber sie müssen Kompromisse eingehen, um das zu erhalten was sie von mir brauchen.
Sie lassen mein Denken unangetastet.

Das Mädchen ist der Preis für meine Hilfe, und ich werde ihn beanspruchen.

Sie warten auf meine Einwilligung.
Für einen Augenblick gebe ich mir selbst eine Blöße. Ich erzittere bei dem Gedanken an meine Belohnung.

Sie blickt mich fragend an.

"Sagen Sie ihnen, ich hätte meine Erinnerung empfangen."

Als sie geht, frage ich mich, ob meine Mutter mein erstes Opfer war.

 

Hi Porcupine!

Tja, echt ätzend, wenn man unter Serien postet, nicht? Achtet einfach kein Schwein drauf ... :D

Aber um zur Geschichte zu kommen: Meine Güte, da ist dir ja ein richtig beängstigender Hannibal-Lecter-Verschnitt gelungen *schauder*, nur dass der Kannibalismus auf der geistigen Ebene stattfindet.

Der Prot ist wahrscheinlich ein Klon von irgendeinem Psychopathen, der Menschen durch pure psychologische Manipulation zerstören konnte. Die Gesellschaft hat sich am Psychopathen gerächt, aber sie will auf seine Fähigkeiten nicht verzichten, also erschafft sie einen Neuen, den sie unter Kontrolle hat. Und bringt ihm kontrollierte Menschenopfer dar, um ihn gefügig zu machen.

Faszinierend ist die Konstellation, dass der Prot zwar seiner Umgebung ausgeliefert ist, so total es nur irgendwie geht ( kein Körper, der zurückschlagen könnte, keine Identität, aus der er Selbstbewusstsein schöpfen könnte ) aber bei einer einzelnen Person genau das in sein Gegenteil verkehren kann, indem er durch schiere Manipulation die Psyche aus den Angeln hebt.

Deshalb von mir ein verstörtes, zitterndes, bibberndes, aber anerkennendes :thumbsup:

Sprachlich und stilistisch nichts zu meckern. Manchmal kann man eben auch mit Telling-Stil Spannung erzeugen. Es sind jedoch eindeutig zu wenig Kommas drin.

aber meine Fähigkeit, Lust zu empfinden ist uneingeschränkt.

Ich will in sie hineinblicken und erkennen, was sie antreibt,

aber sie müssen Kompromisse eingehen, um das zu erhalten, was sie von mir brauchen.

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo Megabjörnie

Tja, echt ätzend, wenn man unter Serien postet, nicht? Achtet einfach kein Schwein drauf ...

ja! verdammte Serien *grml* :D

Der Prot ist wahrscheinlich ein Klon von irgendeinem Psychopathen, der Menschen durch pure psychologische Manipulation zerstören konnte. Die Gesellschaft hat sich am Psychopathen gerächt, aber sie will auf seine Fähigkeiten nicht verzichten, also erschafft sie einen Neuen, den sie unter Kontrolle hat. Und bringt ihm kontrollierte Menschenopfer dar, um ihn gefügig zu machen.

Ganz genau. Endlich jemand der meine Geschichten aufmerksam liest :D

Eigentlich geht das ganze sogar noch einen Schritt weiter. Er (oder sie) besitzt eine völlig neue Art der intelligenz, die ihn von den Menschen soweit entfernt, dass man ihn bereits als neue Spezies ansehen muss.

freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Es sind jedoch eindeutig zu wenig Kommas drin.

ach was, kommas schmommas :schiel:

 

Wow, kränkywänky...

Interessanter Ansatz, Psychopathen zu züchten um mit ihnen Kontrolle auszuüben.

Erinnert mich an all die Steuerhinterzieher, die als beratende Mitglieder für Banken arbeiten oder die Hacker, die sich Regierungen zu Gemüte führen.

Wirklich, neue Idee, gefällt mir, bin gespannt darauf wie es weitergeht.

bg, LE

 

Hallo Lems Erbe

Freut mich, wenn die die Geschichte gefällt, obwohl sie eigentlich aus der Serie ausbricht. Weil das eigentliche Thema der Aufbruch der Menschen ins All ist.

Her wollte ich eben eine Nebenwirkung dieser Ära ansprechen. Isolierte Gruppen erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Entstehung neuer Rassen, bzw eines Evolutionsprunges.
Möglicherweise entstand dieser Psychopath ja in einer Weltraum-Kolonie.

Wie es weitergeht weiss ich selber noch nicht, ich denke es wird Zeit einen Planeten zu besiedeln. ;)

 

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