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Fünf Minuten
Fünf vor halb acht: Mertens liebte es, wenn der Bus pünktlich kam. Mit einer Bewegung, die für ihn selbstverständlich geworden war, korrigierte er die Lage seines Krawattenknotens.
Inmitten der Herde aus Pendlern wurde er in den Bus geschoben, geknautscht, gefaltet. Die Menschen rochen muffig nach nassen Haaren, am Ende des Raumes lachten Jugendliche, tauschten Ohrstöpsel und trugen ausgefranste Jeans. Der Fahrer saß hinter dickem Plexiglas wie ein Kinovorführer, das Lenkrad seine Filmspule; die Welt ruckelte draußen vorbei, es gab nur Laiendarsteller.
In der City leerte sich der Bus, der muffige Geruch blieb zurück wie der ausgezogener Schuhe.
Mertens trat ins Freie, blickte nach links, blickte nach rechts, ging zum Kiosk. Die Zeitung würde er im Büro lesen, bei einem Kaffee, schwarz, ohne Zucker.
Fünf vor acht. Zwei Minuten am Kiosk, zwei Minuten zum Büro, eine Minute für Unberechenbares - er liebte Pünktlichkeit.
»Haste mal 'n Euro?« Die Stimme riss ihn aus seiner Gleichmütigkeit. Er sah sich um, das Hemd kratzte ungewohnt an seinem Hals. Auf der Bank neben dem Kiosk saß ein Mädchen, vielleicht war es vierzehn, vielleicht aber auch erst zwölf. Sein Gesicht war schmutzig. Mertens richtete sich die Krawatte.
»Wie bitte?«
»'n Euro, Mann. Is' für 'n guten Zweck.«
Mertens blickte auf die Uhr, blickte zum Kiosk. Viereinhalb Minuten. Die Zeit würde nicht reichen.
»Keine Zeit«, sagte er und ging zum Kiosk. Vor dem Büro war es Punkt acht, das Mädchen war aus seinen Gedanken verschwunden; Bürokram, Kaffee, Akten.
Um zwei kam der Anruf, ein Unfall, sie hätten keine Chance gehabt.
Mertens blickte auf das Bild neben dem Telefon, Sara lächelte, seine Tochter, die Brille hatte sie nie gemocht, die Zahnspange auch nicht. Morgen hätte sie Geburtstag gehabt, er wäre gekommen, ganz sicher.
Er lehnte sich zurück, die Wände entfernten sich, der Raum dehnte sich, ließ ihn alleine auf dem schwarzen Leder zurück.
Die Krawatte, so sehr Mertens auch zupfte, der Kampf war verloren, nur dieses eine Mal. Er verließ das Büro um fünf, suchte die Watte in den Schuhen, doch sie war in seinem Kopf. Die Ziffern seiner Uhr zitterten, fünf Minuten, vielleicht sechs.
»Haste mal 'n Euro?« Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sich um, das Hemd kratzte ungewohnt an seinem Hals. Mertens fühlte, wie der Schweiß kam, sich über seinen Körper ausbreitete, an seinem Rücken hinab rann und von der Hose aufgesogen wurde.
Das Lächeln des Mädchens verschwamm in seinem Blick. Wie spät war es? Vor seinem Auge tauchte ein Uhrwerk auf, Zahnräder überall, dann stand er auf dem Ziffernblatt, ein Ruck ging durch das Uhrwerk, eine Sekunde verstrich. Er drehte sich um, ein Zeiger war hinter ihm, groß und bis zum Horizont reichte er, dabei war er schmal und dünn, er vibrierte und machte einen Satz auf ihn zu, eine weitere Sekunde. Er sah nach oben, sah ein Gesicht durch das Quarzglas, die Krawatte hing schlaff herab.
Seine Hände waren schweißig, er streifte sich die Uhr vom Handgelenk, reichte sie dem Mädchen. Es kräuselte die Nase, griff danach, berührte dabei seine Hand, ganz kurz nur, aber Mertens Leben dehnte sich zu Äonen, in seinem Kopf explodierten Farben, malten Bilder von lachenden Kindern; sie spielten Ball, da kam auch schon die Mutter, sie brachte Kekse, ein Mann stand am Grill, nur die Krawatte störte das Bild.
»Wer bist du?«, fragte er. Das Mädchen entriss ihm die Uhr und das Bild verlosch, schleuderte ihn zurück ins Jetzt, zeitlos.
»Keine Zeit«, sagt es hastig, dann rannte es davon.