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Fünf Schokoriegel zuviel
Die übervolle Schale mit Süßigkeiten stellte Arno auf dem Wohnzimmertisch ab, ließ sich schwerfällig in seinem durchgesessenen Fernsehsessel nieder, griff nach der Fernbedienung seines DVD Rekorders und wartete bis einer seiner Wurstfinger die Taste Play fand und betätigte. „Endless Pain 3 Uncut dreht dir den Magen um“ hatte sein bester Freund Ulli nachmittags noch zu ihm gesagt.
“Ulli das Weichei“, schmatzte Arno vor sich hin, als er sich den ersten Schokoriegel komplett in den Mund stopfte und gespannt den Beginn des Films entgegenfieberte.
„Och nicht schon wieder so einen Mist“, schimpfte Mandy, nachdem ihre Ohren die ersten Schreie von gequälten Menschen aus der Flimmerkiste vernahmen, diese an das Gehirn übermittelten, welches Ihr wiederum zu verstehen gab, das ein Weiterlesen des Buches, neben Arno, der im Sessel festzuwachsen drohte, keinen Sinn machte. Sie blickte auf, über die Brillenränder hinweg zum Fernseher und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich geh dann mal besser nach oben und lege mich ins Bett, bevor ich dir zum Jubiläum deines hundertsten Horrorfilms in nur drei Monaten gratulieren muss, das der DVD Rekorder das überhaupt durchsteht.“
„Ja…ist OK." Arno warf seiner Freundin einen flüchtigen Blick zu, lächelte kurz, starrte anschließend wieder auf den Bildschirm und entspannte weiter bei abgetrennten Gliedmaßen und Unmengen Kunstblut. Mandy setzte sich auf, schnappte Ihr Buch, huschte auch nur ohne einen Kommentar vorbei an Arno, stieg schnellen Schrittes die Stiege empor, verschwand im Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Arno, von der Aktion seiner Freundin völlig unbeeindruckt, verfolgte weiterhin das blutrünstige Geschehen und schob sich zwei Schokobonbons auf einmal in den Mund.
Ungefähr fünfzehn Minuten waren vergangen, seitdem Arnos bessere Hälfte, vor dem Horror aus dem Fernseher, ins Schlafzimmer flüchtete, als es an der Haustür klingelte.
„Ich glaube es ja nicht“, seufzte Arno genervt und drückte die Pause Taste seiner abgenutzten Fernbedienung. Stöhnend quälte er sich aus dem Sessel hoch und schlurfte zur Tür. Ein zweites Klingeln erfolgte.
„Ja ist gut, ich komme ja schon“ brüllte Arno in Richtung Hauseingang. Er öffnete die Tür und erstarrte einen Moment lang, als sein Blick auf zwei kleine, völlig in schwarz gekleidete Gestalten fiel. Arno musterte beide Gestalten von oben bis unten und bemerkte nicht nur, dass beide einen Umhang trugen, sondern auch eine starke, ja fast leichenähnliche Blässe im Gesicht aufwiesen. Mit tiefen roten Schatten unter Ihren großen Augen starrten Sie auf Arno, bis einer von Ihnen den Mund öffnete und sich zwei blitzend weiße Schneidezähne bedrohlich in den Vordergrund stellten.
„Süßes oder Saures“, kam es im Duett von beiden Vampiren, sie sahen mit leuchtenden großen Augen auf Arno und hielten ihm einen halb gefüllten Beutel mit Süßigkeiten unter die Nase. Arno schielte in den Beutel und anschließend in vier erwartungsvolle Augen. „Blutreserven ausgegangen, wie?!“ Arno grinste selbstzufrieden über den, wie er fand, gelungenen Witz, griff dann zur völligen Verblüffung der Kleinen, in den Beutel, erfasste fünf Schokoriegel, warf anschließend mit einem Ruck die Haustür zu und lauschte was passieren würde. Arno zählte ungefähr zehn Sekunden, dann hörte er Schritte auf Pflaster, die leiser wurden und nach weiteren Sekunden ganz verstummten. „Kleine Schmarotzer“, dachte Arno, „Haut bloß ab!“ Ein wenig verwundert, aber erleichtert über das Ausbleiben der Vergeltung seines Diebstahls, schlenderte er pfeifend zurück zu seinem Sessel und setzte das Standbild auf dem Fernseher wieder in Bewegung.
Später am Abend, nach einer weiteren Tüte Chips und fünf (geklauten) Schokoriegeln, setzte der Abspann des Films ein und das blutrünstige Geschehen auf dem Bildschirm hatte ein Ende. Arno schätzte das dreihundert Liter Kunstblut für den Streifen benötigt wurden, bemerkte dann ein Grummeln und einen Ansatz von Übelkeit in der Magengegend.
„Endless Pain 3 Uncut dreht dir den Magen um!“, hörte er Ulli wieder in Gedanken sagen, dabei fiel sein Blick auf die mittlerweile leere Schale und die ebenso geleerten Chipstüten.
„Wie hatte Ulli das wohl gemeint?“ Mit dieser Frage setzte sich Arnos Gehirn eine Zeit lang auseinander, bis ein in die Stille hineingeplatztes, aggressives und kurz anhaltendes Klingeln vom Hauseingang her einsetzte. Aus allen Gedanken gerissen, spürte er, wie das Klingeln seinen Körper durchdrang. Reflexartig stützten sich seine dicken Arme auf die Lehne ab und stießen seinen schwerfälligen Körper aus dem Sessel. Sein hastiger Blick auf die Wanduhr verriet ihm, dass es 23.00 Uhr durch war. „Diese Schmarotzer können was erleben!“, fluchte Arno. Als er energisch zum Hauseingang stapfte, hatte er bereits seinen Ärger in niederschmetternde Worte umgewandelt und war nun bereit diese abzufeuern, niemand würde es jemals wieder wagen so spät zu klingeln. Er holte tief Luft und riss die Haustür auf. Doch alles was sich Arno an Worten zurechtgelegt hatte, blieb ihm buchstäblich im Halse stecken. Vor ihm stand ein hoch gewachsener Mann, hellblondes Haar lockte sich bis zu den Schultern, sein Umhang war schwarz wie die Nacht. Ein kalter und finsterer Blick sprach aus hellblauen Augen, die Arno gleichmäßig fixierten und nicht von ihm abweichen wollten. Arno atmete aus und brachte kein Wort über die Lippen.
„Süßes oder Saures“, erklang es leise aus dem Mund des Fremden. Die Gestalt holte einen Beutel unter dem Umhang hervor, öffnete ihn und hielt diesen Arno unter die Nase. Arno sah hinein. Nichts. Leere. Er sah vom Beutel hoch in ein finster grinsendes Gesicht.
„Ich…äh…habe nichts Süßes im Haus“, brachte Arno unsicher hervor. Das Bild der mittlerweile leeren Schale auf dem Wohnzimmertisch, dessen Inhalt er sich in zwei Stunden
einverleibt hatte, erschien vor seinem geistigen Auge.
„Nicht einmal fünf Schokoriegel im Haus? Nein? Schade aber auch!“ Arno vernahm einen Ansatz von Spott und Ironie in der Stimme, die aber auch irgendwie drohend auf ihn wirkte.
„Ist dies etwa der Vater der beklauten Gören“, fragte sich Arno und bemerkte wie ihm immer mulmiger wurde. Er spürte wie fünf geklaute Schokoriegel aus seinem Magen in den Hals aufstiegen.
„Ich denke du schuldest jemanden etwas! Ich werde mir ansonsten was ähnlich Süßes nehmen! Da gibt es doch sicherlich noch etwas im Haus!“ Der Blick des Fremden schien Arno zerstören zu wollen. Die Gestalt wirkte wie ein Raubtier auf ihn, jeden Moment bereit zum Sprung anzusetzen.
Arno erschauderte, unfähig auch nur ein Wort hervorzubringen, warf er die Tür zu. Er schluckte, im Hals spürte er das wilde Pochen seines Herzens, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
„…du schuldest jemanden etwas…ich werde mir was ähnlich Süßes nehmen!“ wiederholte seine innere Stimme die letzten Worte des Fremden.
Arno versuchte diese letzten Worte zu interpretieren und kam zu einem Ergebnis.
„Mandy!“, stieß er hervor. Er rannte los und stolperte die Stiege hinauf, sein Herz schlug immer wilder, oben angekommen stürmte er ins Schlafzimmer. Im Halbdunkel erkannte er die Umrisse seiner schlafenden Freundin. Er wirbelte herum, tastete wie wild nach dem Lichtschalter bis eine seiner zitternden Hände ihn endlich zu fassen bekam. Das Licht ging an. Arno überlegte Mandy zu wecken, ihr alles über den von ihm begangenen Diebstahl und über den darauf folgenden Besuch zu erzählen.
Aber er wusste zu genau, wenn er dies tat, die Reaktion seiner Freundin wäre nicht positiv ausgefallen, und der Haussegen war ja schon angekratzt. Aus diesem Grund knipste er das Licht wieder aus und schlich bedächtig die Stiege hinunter zurück zur Haustür.
Auf dieser presste er sein Ohr und horchte. Er hörte gar nichts – dann öffnete er die Tür zunächst einen Spaltbreit und schielte nach draußen. Ein kühler Luftzug wehte ihm ins Gesicht, zu sehen war niemand. Er öffnete die Tür bis sie weit offen stand und schritt vorsichtig hinaus. Wieder spürte er, wie das Pochen seines Herzens zunahm. Nachdem er die Haustür zugezogen hatte, holte er tief Luft, nahm allen Mut zusammen und beschloss einmal ums Haus zu gehen, „Das Schlafzimmerfenster!“, warnte seine innere Stimme. Mandy schlief immer bei offenem Fenster. Jetzt bildete sich wieder ein leichter Film von Schweiß auf seiner Stirn. Arnos Schritt wurde schneller, er stapfte nervös zum hinteren Teil des Hauses, schaute ungefähr vier Meter die Hauswand hinauf und sah auf das halbgeöffnete Schlafzimmerfenster. Die Apfelbäume, die eine Klettermöglichkeit geboten hätten, wurden im Sommer gefällt und zu Brennholz verarbeitet. Er machte sich auf den Weg zum Geräteschuppen und rüttelte an der Tür. Verschlossen. Die Leiter war also auch kein Thema, denn diese befand sich innerhalb des Schuppens.
Er setzte seinen Weg um das Haus fort, untersuchte alle Fenster, sie waren verschlossen. An der Haustür wieder angekommen horchte er noch einmal in die Nacht hinein und blickte sich um. Nichts war zu hören und zu sehen. Arno schloss die Haustür auf, war mit einem Satz im Haus, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal herum.
Eine Viertelstunde lang, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, angelehnt an der Haustür, lauschte Arno nach verdächtigen Geräuschen. Keine Schritte, kein Klingeln, nichts war zu hören, es blieb friedlich ruhig. Erleichtert atmete er langsam aus, stieß sich von der Tür ab, ging ins Bad, machte sich frisch für die Nacht und ging hoch ins Schlafzimmer. Dort knipste er das Licht an, sah zu seiner Mandy, sie lag noch genauso da wie vorhin, tief und fest am schlafen.
Arno ging auf das halbgeöffnete Schlafzimmerfenster zu und schaute hinaus, er war froh und endgültig erleichtert, dass er niemanden entdeckte. Er zog das Fenster hinunter und verschloss dieses. Anschließend legte er sich zu seiner Freundin ins Bett, sein Blickfeld ausgerichtet auf das Fenster, sah er durch dieses hinaus in die schwarze Nacht und konzentrierte sich darauf einzuschlafen.
Er fühlte wie seine Augenlider immer schwerer wurden, er war bereit sich seiner Portion Schlaf hinzugeben und ebenso bereit den Vorfall des Abends schnell zu vergessen.
Er schloss seine Augen, der Schlummer überfiel seinen Körper, er blinzelte noch einmal auf, ließ seinen Blick ein letztes Mal zum Fenster schleichen und spürte im Bruchteil einer Sekunde, wie ein eiskalter Schlag jede Faser seines Körpers durchfuhr. Er riss die Augen auf, der kleinste Ansatz von Müdigkeit war urplötzlich verschwunden, das Herz fing wild an zu schlagen, Arno keuchte erschrocken auf, als seine Augen, draußen vor dem Fenster, in das finster grinsende Gesicht des Fremden sahen. Die Gestalt schien in der Luft zu stehen, die hellblauen Augen starrten in aller Boshaftigkeit auf Arno und vermittelten ihm, dass großes Unheil auf ihn zukommen würde. In voller Panik warf sich Arno im Bett herum und erstarrte bis zu einer völligen Bewegungsunfähigkeit, als er seine Freundin sah.
Mandy schlief nicht, sie saß neben ihm im Bett. Ihre großen, weit aufgerissenen Augen starrten aus einem leichenfarbenen Gesicht auf Arno. Sie öffnete grinsend ihren Mund, zwei raubtierähnliche Schneidezähne traten hervor. Arno wurde schwindelig, er konnte keinen Gedanken mehr fassen, er sah nur noch wie der Kopf seiner Freundin heran schoss, er spürte einen starken Schlag auf seinem Hals, eine unbändige Kraft drückte ihn ins Bett, Schwärze trat vor seinen Augen, er schmeckte den metallischen Geschmack von Blut.
Dann verlor Arno das Bewusstsein und würde dieses nie mehr zurückerlangen.
„Sieht aus wie Kunstblut“, lachte Mandy auf, wischte sich mit ihrem Arm über den Mund, lächelte mit einem Ausdruck von Finsternis durchs Schlafzimmerfenster ihrem neuen Vater zu, dieser war nun nicht mehr allein. Zwei kleinere Vampire schwebten ebenfalls vorm Fenster und begrüßten die neue Schwester.