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Fünfhundert Stück
„Wie bitte, tausend Stück“, schrie er ungläubig und ein wenig zu laut, um noch nett zu klingen, ins Telefon. ...
„Nein, ich mein ja, natürlich nehme ich den Auftrag an. Nur wissen sie, die meisten bestellen ´ne Handvoll, oder höchstens ein Dutzend. Tausend klingen ein wenig, wie soll ich sagen, utopisch. Wann soll denn die Lieferung fällig sein? ...
Waaas! In zwei verdammten Wochen! Unmöglich, wie stellen sie sich das vor? Das sprengt alle bisherigen Dimensionen. ...
Ja, ich weiß, dass ich der Einzige in dieser Branche bin. Was meinen sie, wie mir das alles manchmal zu Kopf steigt. Es ist manchmal zum Verrückt werden. ...
Nein, sie können sich auf mich verlassen. ... Das lassen sie mal meine Sorge sein. ... Auf wieder hören.“
Er legte auf und ließ sich in seinen ledernen Schreibtischsessel fallen. Schweiß perlte von seiner Stirn über sein Gesicht auf seine blutleeren Lippen. Er presste sie zusammen, denn ihm war gerade nicht nach Salzigem. Fahrig wischte er sie mit seinem Handrücken trocken. Seitdem die Klimaanlage den Geist aufgegeben hatte, hat sich der Sommer in eine Hölle verwandelt. Und jetzt noch dieser Auftrag. Er wusste nicht ob er sich freuen, oder lieber verzweifeln sollte.
„Nachdenken, denk bloß nach“, schoss es ihm durch den Kopf und er starrte dabei auf die altmodische Tapete. Ein Drink wäre jetzt wahrscheinlich das Richtige. Er ging zur Kommode und ließ ein paar Eiswürfel in ein Glas klimpern, dann goss er ein wenig Scotch drüber.
Der Blick aus seinem Fenster legte ihm die Stadt zu Füßen. Alles wirkte harmlos. Die Stadt kümmert sich um nichts und irgendwo, weit über die Stadtgrenze hinaus, wartete ein Typ bis die zwei Wochen verstrichen sind. Er nahm einen kräftigen Schluck, um sich daran zu erinnern, warum er überhaupt den Drink gebraucht hatte.
„Verdammt, die tausend Stück.“ Der Gedanke daran, holte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wie, um alles in der Welt sollte er die beschaffen. Sein Vorrat fasste, grob geschätzt, fünfhundert. Damit ist er bis jetzt immer locker ausgekommen. Mehr waren einfach nicht drin. Er goss sich nach und überlegte, ob der Typ mit seinen Tausend Stück, größenwahnsinnig geworden ist, oder er selbst, weil er den Auftrag angenommen hatte.
„Ich muss aufpassen, dass nicht alles aus dem Ruder läuft. Man kann sich bei so was schnell verzetteln.
Er merkte, wie ihm die Hitze und der Alkohol zusetzten. Um einen klaren Kopf zu behalten, entschied er, für heute Schluss zu machen. Er musste raus und dem ganzen Wahnsinn entkommen.
Alex hätte es seinem Sachbearbeiter nicht übel genommen, wenn er ihn gleich für die Klapse empfohlen hätte. Aber wie sollte man denn auch die Nerven behalten, wenn es heißt, sie sind mit ihrer Arbeitseinstellung nicht vermittelbar. Nicht dass er damit ein Problem gehabt hätte, wenn ihm jemand so einen Satz an den Kopf wirft. Er konnte es nur nicht haben, wenn man ihm deswegen ein schlechtes Gewissen einreden wollte. Das hatte Alex auch versucht deutlich zu machen, indem er den Kerl am Schlips packte und mit wütendem Gebrüll über den Schreibtisch zerrte. Alex konnte das Entsetzen in den Augen seines Gegenübers sehen, die ihm flehend sagen wollten: „Ich bekomme keine Luft mehr!“
Nur langsam und zögerlich hatte Alex seinen Griff von dem Beamten gelöst, dessen Kopf in kürzester Zeit puterrot angelaufen war.
“Das Ganze würde ein Nachspiel haben“, versicherte ihm der halb Erwürgte, mit seiner röchelnden Stimme.
„Was soll´s“, dachte Alex. Mit mir ist eben so was nicht zu machen. Er verzog seine Lippen zu einem leichten Lächeln. Dieser kleine Vorfall tat seiner überaus guten Laune keinen Abriss. Arbeitsamt oder Irrenhaus, wo war da der Unterschied? Wenn man öfter einen Fuß in so eine Anstalt setzt, muss man sich nicht wundern, dass die Leute durchdrehen.
Er verließ seine Wohnung und machte sich auf in den Stadtpark. Das Vernünftigste, was man an einem solchen Tag noch anstellen konnte. Beim Kiosk an der Ecke holte er sich noch ein paar Bier und suchte sich schließlich ein schattiges Plätzchen unter einer großen Kastanie.
„Bücher und Bier“, murmelte er. „Wenn du diese zwei Dinge hast, kann dich so leicht nichts umhau´n.“ Er freute sich noch immer über den Fang den er gemacht hatte. Es waren gesammelte Erzählungen von Remarque, die irgendein Buchladen in völliger Geistesabwesenheit, für einen Euro verhökerte. Bei so etwas durfte man nicht lange nachdenken, sondern musste gleich zulangen.
Während er in den Seiten blätterte, nahm er einen gehörigen Schluck aus der Flasche. Das Bier vertiefte sich in seinem Körper und Alex sich in ein Interview mit Remarque von 1929, was dem Buch hinten angehängt war.
„...An Hundertausenden ist natürlich das Erlebnis Krieg abgelaufen wie eine Dusche...“
„Schon komisch, was dieser einsame Satz, in anbetracht der Geschichte, für eine zynische Bedeutung bekommen hat. Was im wahrsten Sinne des Wortes Wirklichkeit wurde, war nicht mal so eben abzutrocknen,“ dachte Alex und machte sich an ein neues Bier.
Der Schatten war heimlich weiter gewandert und hatte ihn zurückgelassen. Die Hitze erschien gnadenlos. Alex blickte auf, um die Richtung der Sonne auszumachen und auf einmal war dort dieser Typ. Er stand wie angewurzelt in einiger Entfernung und sah zu Alex herüber. Als der Kerl merkte, dass er nicht mehr stiller Beobachter war, kam er auf Alex zu.
„Hallo.“ Bevor Alex antwortete, nahm er einen Schluck Bier und sagte dann:
„Wie lange stehst du schon da drüben?“
„Ach nicht lange, nur ein paar Minuten“, antwortete der Andere.
„Wie wir beide wissen, können ein paar Minuten ganz schön lang sein. Also erzähl mir lieber warum du mich beobachtet hast. Ich kann grad nicht so auf Verrückte.“
„Na ja, ich habe mich gefragt, was so ein Kerl wie du, an so einem Vormittag allein im Park macht.“
„Wie du siehst, sitze ich im Park, trinke ein paar Bier und lese. Das ist das beste Mittel, damit dir der tagtägliche Wahnsinn nicht zu stark auf den Pelz rückt.“
„Da hast du verdammt noch mal recht. Das mit dem Wahnsinn ist gut gesagt. Ich habe so das ungute Gefühl, heute bin ich haarscharf dran vorbei geschrammt.“
„Hey, ich hab ´ne Schwäche für Geschichten, in denen lauter verrücktes Zeug vorkommt.“
„Na schön, du scheinst in Ordnung zu sein.“
Erst jetzt setzte sich der Kerl, der die ganze Zeit gestanden hatte, zu Alex unter die Kastanie.
„Als ich Student war, bin auf jeder Demonstration mitgelaufen. Ich protestierte gegen den Vietnamkrieg und später gegen das Wettrüsten und gegen, was weiß ich noch alles. Wir waren ziemlich gut organisiert und stellten allerhand auf die Beine und auf den Kopf. Ich lernte in der Zeit auch meine spätere Frau kennen, aber das ist noch mal ´ne ganz andere Story. Was soll ich sagen, wir waren jung und steckten voller Ideale. Manchmal steckten uns die Polizisten auch in den Knast, nachdem uns die Wasserwerfer komplett durchnässt hatten. Aber was rede ich, die Sache war die, dass wir mit Haut und Haaren in dieser Friedensbewegung hingen und ich konnte mir auch nichts anderes vorstellen, was ich hätte machen wollen. Nicht das ich so fürchterlich friedensverliebt bin. Ich verabscheue nur zu tiefst den Krieg. Daraufhin gründete ich meine eigene Firma. Ich fing an Friedenstauben zu züchten, um die ganzen Friedensveranstaltungen zu beliefern. Ich kann dir sagen, es lief fantastisch. Die Aufträge flatterten nur so herein und jetzt stelle ich sogar die Tauben für die Eröffnungsfeier bei der Olympiade. Ich mein, das ist der reinste Wahnsinn, ich verkaufe ein Stück Frieden.
Letztes Jahr hat sich dann meine Frau von mir getrennt. Sie meint, ich würde zu viel arbeiten. So ein Miststück, die ganze Sache hat nur dazu geführt, dass ich mich noch mehr in meine Arbeit gestürzt habe. Obendrein kostete mich die ganze Scheidung und das Hin und Her ´ne riesen Stange Geld. Ja und heute rief so ´n Kerl an und wollte eintausend Tauben haben. Ich weiß gar nicht wie ich das auf die Reihe kriegen soll.“
„Also ich bin dabei“, sagte Alex in einem trockenem Ton und guckte dabei in fragende, verwirrte Augen.
„Na, ich mein du hast gesagt du weißt nicht wie du es schaffen sollst und ich helfe dir eben, diese verrückte Sache noch umzubiegen.“
„Ok, willkommen an Board. Wenn du mit untergehen willst, nur zu. Ach ja, nenn´ mich einfach Chris.“
„Pass auf“, ignorierte Alex Chris´ Schwarzmalerei. „Wie viele Tauben stehen uns zur Verfügung?“
„So ungefähr fünfhundert.“
„Fehlen uns noch weitere fünfhundert. Das ganze läuft folgendermaßen, wir fangen einfach ein paar gewöhnliche graue Straßentauben ein und besprühen sie mit weißer Farbe. Die Menschen auf solchen Festen sind meistens so euphorisiert, dass sie es gar nicht merken. Die wollen nur irgendetwas in der Luft flattern sehen.“
„Ausgeschlossen, nicht mit mir.“
„Dann erzähl mir doch, wo du diese Viecher sonst herbekommen willst? Die Gentechnik ist noch nicht so weit, dass sie dir am laufenden Band weiße Tauben herstellt. Pass auf, ich regele alles mit den Tauben. Ich werde mich rechtzeitig wieder melden.“
Die Tage verstrichen, ohne dass Chris irgendein Sterbenswörtchen von Alex hörte. Er fing an zu zweifeln, ob er sein Vertrauen leichtfertig verschenkt hatte. Irgendwann berichteten dann aber die örtlichen Zeitungen, dass auf den öffentlichen Plätzen so gut wie keine Tauben mehr zu finden wären und niemand könne sich dieses Rätsel erklären. Nur Chris wusste bescheid. Zur Feier des Tages, goss er sich zufrieden einen Drink ein.
Einen Tag, bevor die Lieferungsfrist fällig wurde, meldete sich Alex über das Telefon bei Chris:
„Ja hallo.“
„Chris, ich bin´s Alex. Hab´ alles zusammen.“
„Großartige Aktion, du bist damit in der Zeitung. Ehrlich gesagt hatte ich schon gezweifelt, ob du auch Wort hältst.“
„Ja, ich kann dir sagen, dass war vielleicht eine Plackerei. Ich bin immer Nachts raus. Ich dachte mir nämlich, die meisten Leute sehen es nicht so gerne, wenn man einfach ein paar Tauben einfängt. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen früh, dann malen wir die Vögel weiß und liefern sie anschließend ab. Dann ist noch alles ganz frisch.“
Die Aufregung an diesem Morgen, machte sich nicht nur in Chris´ Gesicht bemerkbar, welches mit kleinen roten Flecken übersäht war. Seine Hände zitterten, wie damals, bei seiner aller ersten Demonstration.
„Alex, ich bring´ das nicht fertig. Ich bring´ das einfach nicht.“
„Stell´ dich nicht so an. Hier ich zeige es dir. Du nimmst eine von diesen Grauen und tauchst sie in den Eimer Farbe und setzt sie zu den Weißen. Na los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Als die Beiden mit der Arbeit fertig waren sagte Chris:
„Sehen nicht gerade glücklich aus, die Viecher.“
„Als wenn darauf schon einmal Rücksicht genommen wurde. Außerdem sind es ja auch die Menschen, die glücklich sein sollen. Und zwar beim Anblick der Tauben. Und vom Weiten, fällt das gar nicht auf.“
„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich mich von dir zu so etwas hinreißen lassen habe.“
„Und ich kann es immer noch nicht fassen, dass du nicht von alleine darauf gekommen bist.“
Sie beluden den Wagen und fuhren zum Festival. Als sie ankamen, hatte es gerade begonnen. Ein anscheinend wichtiger Mann stand in einem Anzug auf einem Podest und hielt in feierlichem Ton eine Rede. Allerdings gingen seine Worte im Hall und den Rückkopplungen der Lautsprecheranlage unter, sodass kein Mensch verstehen konnte, was er zu sagen hatte.
„Nach dem Kerl seid ihr dran, alles klar“, teilte der Veranstalter mit.
„Ja in Ordnung, wir brauchen keine großen Worte.“
Dann kam der große Augenblick. Die Gitter der Taubenkäfige wurden geöffnet. Die Zuschauer waren überwältigt von der weißen Pracht. Jubelschreie und Musik unterlegten das Spektakel und mindestens fünfhundert Tauben fanden in diesem Moment ihren Frieden.