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F63.1 - Im Bann des Feuers
F63.1 - Im Bann des Feuers (Version 2)
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http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?s=&postid=158528#post158528
Version 2
„Es ist ein“, fing Patrick zögernd an und stockte. Wieder lachte ihm eine fremde Vokabel fies entgegen, als ob sie sich absichtlich an diese Stelle des Textes geschoben hätte, die er übersetzen sollte. Sein Blick konzentrierte sich auf dieses eine Wort. Er kannte es doch, irgendwo hatte er es schon mal gesehen. „Strange“ Er hatte es geschrieben. Immer und immer wieder. Immer zusammen mit der Übersetzung, aber es wollte ihm einfach nicht einfallen. „Strange“ - Er zerlegte das Wort in einzelne Buchstabenpaare, bis es auch die letzte Bedeutung verlor und nurnoch als schwarzes Symbol auf dem weißen Blatt zu erkennen war.
„Patrick“, seufzte Frau Waldner mit einer ebenso ernsthaften wie annähernd verzweifelten Tonart, „hast du denn gar nicht gelernt?“ Auf ihrer Stirn waren wieder diese Sorgenfalten zu sehen, die sich schon bald in bleibende Falten verwandeln könnten. Sie legte ihren Kopf etwas schief und blickte ihrem Schüler entgegen. „Wer weiß es?“, fragte sie anschließend in die Klasse, ohne eine Meldung zu erblicken, „Kiara?“ Kiara hob ihren Blick, der eben noch das Bravo-Heft auf ihrem Schoß fixierte und zuckte mit den Schultern. „Marco?“, fragte Frau Waldner weiter. Er legte den Bleistift schnell zur Seite, mit dem er in sein Heft gekritzelt hatte. „Was machst du da?“, fragte Frau Waldner etwas gereizt und stand auf. Während sie auf ihn zuging, klappte er schnell sein Heft zu und hielt es mit beiden Händen geschlossen. „Nix“, sagte er und ließ sie nicht in das Heft schauen. „Das hier ist meine Privatsphäre. Ich würde Sie bitten diese nicht zu stören“, grinste er und hatte die Lacher auf seiner Seite. Allerdings nur die seiner Mitschüler. „So, mir reicht es“, sagte die genervte Lehrerin bestimmend, „morgen schreiben wir einen Vokabeltest über diesen Text.“ Gegenseitige Schuldzuweisungen erfüllten den Raum.
„Ja, toll, danke Marco“ - „Hey Kiara, wenn du mal mitarbeiten würdest, hättest du vielleicht auch mal was sagen können“ - „Wieso hat sich keiner von euch gemeldet?“
„Wir können morgen keinen Vokaltest schreiben“, wand sich Marco an seine Lehrerin, „das ist viel zu wenig Zeit und wir haben noch andere Dinge zu tun.“ Diese reagierte aber nicht mehr weiter auf die Klasse und machte sich Notizen in ihr Buch. Marco schlug sein Heft wieder auf und zeichnete energisch weiter. Die Zeichnung zeigte ein brennendes Haus und in einem Fenster war eine schreiende Frau zu sehen, die enorme Ähnlichkeiten mit Frau Waldner aufwies. ‚Voodooo’, dachte Marco grinsend, ohne es wirklich ernst zu meinen.
Niclas, Marcos Tischnachbar, begutachtete grinsend das Bild. Er fühlte förmlich, wie sich die Flammen in seinen Augen spiegelten. Tanzende Feuergestalten, die vernichten und keinen Regeln folgen müssen. Sie vernichten alles und machen keine Ausnahme. Wenn man sie beobachtet, kann man auch seine Anspannung zu Asche werden sehen. Zum Beispiel die Art von Anspannungen, die entstehen, wenn man am nächsten Tag einen Vokabeltest schreibt und keine einzige Vokabel kennt. Niclas Gedanken überschlugen sich fast. Er brauchte, bevor er anfangen würde zu lernen, eine Möglichkeit seine Gedanken frei zu kriegen. Er konnte es nicht erwarten die freie Zeit nach Schulschluss zu nutzen.
„Drrrr.“ Die alte Schulglocke beendete den Englischunterricht. Die Schülerinnen und Schüler der Lessing-Schule drängten aus den Klassenräumen und fanden sich in den Fluren zu einer unüberschaubaren Masse zusammen. Das Stimmengewirr ließ keine Stimme aus der Ferne erkennen und ebenso unmöglich schien es das Handeln eines Schülers von dem eines anderen zu unterscheiden. Die Situation bot eine herrliche Gelegenheit für Niclas. Er schlenderte unauffällig die Treppen hinunter zu den Toiletten. Während er die letzten Stufen hinab stieg, drehte er sich in der Bewegung um, um festzustellen, dass sich niemand hinter ihm befand. Die Steintreppe war alt und nicht mehr im besten Zustand. Niclas Hand ergriff das Geländer, das ihm einen besseren Halt gab. Die Stufen waren rutschig geworden und von dem Geländer blätterte die grüne Farbe. ‚Vielleicht täte der Schule ein Feuer gar nicht so schlecht’, dachte sich Niclas die letzte Stufe hinunter springend. Er zögerte nicht, sondern ging zielstrebig auf den Feuermelder zu. Mit seinem Ellenbogen zerschlug er die kleine Scheibe, die den Knopf vor einem versehentlichen Auslösen schützte. Er war noch nie erwischt worden und wollte, dass das auch so blieb. Obwohl er nicht wirklich damit rechnete, dass jemand Fingerabdrücke von Knopf nahm, zog er vorsichtshalber seinen Pullover über seine Hand und drückte dann den Knopf.
Der schrille Alarm ertönte und Niclas schloss sich den anderen an, die auf dem Weg nach draußen waren. Es kam schon lange keine Panik mehr auf, niemand hatte Angst. Fehlalarm ist an der Lessing-Schule keine Seltenheit. Es schien zu einem Trend zu werden. Einem teuren Trend, wie die Lehrer immer wieder warnten. Niclas hatte keine Angst jemals erwischt zu werden und er genoss dieses Gefühl, das er hatte, wenn der Alarm ertönt. Es war die Vorfreude auf die Feuerwehrautos, die Ausrüstung, die Funksprüche und blau blinkenden Lichtern - und die Vorstellung es gäbe ein echtes Feuer. Es würde wieder höchstens zwei Minuten dauern, bis die Feuerwehr in der Schule ankommen würde. Es werden auch wieder die selben Fahrzeuge sein. ‚HL 2056, HL 2009 und vielleicht noch HL 2014’, vermutete der Feuerfreak, der alle verfügbaren Informationen in einem Ordner abheftete und vieles schon auswendig gelernt hatte. In seiner Sammlung befanden sich bestimmt 100 Kennzeichen, Fahrzeugbeschreibungen und Fotos, die er abrufbereit im Gedächtnis hatte. Vielleicht war auch das der Grund dafür, dass er sich einfach keine Englischvokabel merken konnte. Aber das war ihm egal.
„Niclas!“ Eine vertraute Stimme rief ihn zu sich. Es war sein Tischnachbar Marco. Sein breites Grinsen schien ihn enttarnt zu haben, aber Niclas rannte auf ihn zu. Marco schlug Niclas kräftig auf die Schulter: „Na, Alter. Vielleicht fällt ja der Unterricht beim alten Jock jetzt aus.“ Herr Jock war ein Lehrer, der den Stoff so trocken rüberbrachte, dass es schon die gesamte Konzentration kostete wach zu bleiben. Kaum einer hatte je etwas bei ihm gelernt und jeder begrüßte es, wenn mal eine Mathestunde flach fiel. Niclas nickte lächelnd zurück und betrachtete die Schule. Ein altes Backsteingebäude, dessen Dach nach Stürmen des öfteren notdürftig geflickt wurde. Im oberen Stockwerk stand ein Fenster offen. Es war das Fenster, dass Marco vorhin gemalt hatte. Das Fenster, in dem die schreiende Frau Waldner auf der Zeichnung zu erkennen war. „Die Alte ist da drüben“, sagte Marco mit einem sarkastischen Grinsen. Niclas ließ seinen Blick zu Frau Waldner wandern und dann zu Marco. Er nickte. „Niclas“, fing Marco an, „es muss brennen. Immer nur Fehlalarm ist auf die Dauer langweilig. Wir könnten etwas Klopapier anzünden und mal sehn, was passiert.“ Niclas lachte: „Nein Marco, du spinnst. Ich zünd doch nicht die Schule an. Hast du ne Ahnung, was das für n Stress gibt?“ Er klopfte Marco ebenso heftig auf die Schulter, wie er es zuvor bei ihm getan hatte. „Komm, wir schwänzen einfach nachher den Matheunterricht. Der olle Jock kriegt doch eh nix mehr mit.“ ‚Es muss brennen’, wiederholte er Marcos Worte in Gedanken. Er hatte Recht, aber Niclas wollte niemanden dabei haben. Er überlegte kurz, ob Marco bereits gepeilt hatte, wer für die Fehlalarme verantwortlich war, doch noch bevor er wirklich darüber nachdenken konnte, hörte er Sirenen näher kommen.
Es war tatsächlich das Tanklöschfahrzeug, das Niclas vermutet hatte. HL 2056 - Ein TLF 16/24 Tr, das auf einen Mercedes Unimog 1550L Fahrgestell aufgebaut war. Die 163 PS dröhnten über den Schulhof. Das Fahrzeug wirkte mächtig und ließ den folgenden Mannschaftstransportwagen geradezu lächerlich erscheinen. Die rotierenden Spiegel warfen das blaue Licht zu allen Seiten. Das Licht blinkte auf und reflektierte an den Fensterscheiben der Schule. Und in Niclas Augen, die gebannt auf das Fahrzeug starrten. Hinter dem MTW folgte zu Niclas Begeisterung noch ein TLF 16/25, ein Vierzehntonner mit 240 PS. Die Fahrzeuge kamen zum Stehen und aus dem vorderen Wagen sprang ein Mann. Die weiteren folgten. Der Mann aus dem ersten Wagen ging zum Direktor, der sich scheinbar entschuldigte. Eine kleine Gruppe Feuerwehrleute ging in die Schule.
Die Blaulichter wurden ausgeschaltet und die Schüler beobachteten das bereits bekannte Szenario. Während die Feuerwehrleute routinemäßig durch die Schule liefen, stieg die Stimmung auf dem Schulhof stetig. „Das ist geil, das ist geil - Hurra, hurra, die Schule brennt“, grölte einer los und löste heiße Diskussionen aus. „Ja, wenn sie denn endlich mal brennen würde.“ - „Ich wette um 5 Euro, dass es ein Fehlalarm ist“ - „Naja, wenn die Deppen lange genug nach nem Funzellicht in der Schule suchen, haben wir vielleicht trotzdem frei.“ Niclas lachte mit den anderen, obwohl ihm ganz andere Gedanken durch den Kopf schossen.
Die Feuerwehr - Symbol für Großbrände und Chemie-Explosionen. Feuer - das Mächtigste aller Elemente Eine große Macht - stärker als jedes Gefühl. Tanzende Feuergestalten - Sie folgen keinen Regeln und zerstören. Riesige Flammen, meterhoch, unkontrollierbar.
Er spürte plötzlich ein unnachgiebiges Verlangen nach einem echten Brand. Seine Gedanken kreisten nur um das eine Thema: Feuer. In seinen Gedanken fing er an sein erstes Großfeuer zu planen. Er hatte bereits Müllcontainer und Gartenlauben in Brand gesetzt, aber nun wünschte er sich ein brennendes Haus. ‚Wendersweg’, schoss es ihm in den Kopf. Hinter dem Wendersweg führte eine Wiese entlang, die an einige Grundstücke grenzte. Bei einem der Häuser stand im Sommer oft die Tür nachts offen.
„Achtung, das war ein Fehlalarm“, unterbrach die Stimme des Direktors Niclas Glücksgefühl, „der Unterricht kann nun fortgesetzt werden.“
„Was ist nun? Schwänzen wir?“, wollte Marco wissen. Niclas überlegte kurz und nickte, während er sich auf die Auffahrt zubewegte. Marco folgte ihm. Sie gingen an den großen Löschfahrzeugen und dem Kleinbus vorbei. Niclas begutachtete die silbernen Türen, hinter denen sich die Schläuche und Geräte verbargen und dachte insgeheim daran, dass er diese noch am selben Tag zu Gesicht bekommen würde.
Es war der übliche Schwänzer-Nachmittag. Marco und Niclas gingen in die Stadt um sich in Sportgeschäften viel zu teure Geräte anzugucken, um dann damit Pläne schmieden zu können.
Nach einer Weile verabschiedete sich Niclas, da der Bus, der ihn nach Hause brachte, nur sehr selten fuhr. Da er außerhalb wohnte, pendelte der Bus nicht einmal stündlich. Doch die lange Busfahrt in eine Gegend, in der lieber niemand wohnte, hatte auch ihre Vorteile. Der Bus war fast leer und bot Niclas so genug Gelegenheit seinen Plan zu entwerfen. Er überlegte wild und notierte einige Stichwörter auf einem Schmierzettel. ‚Der Wendersweg’, dachte er wieder, ‚das Haus, das nachts offen steht.’ Es wäre so einfach dort etwas Brennbares zu verteilen, um es dann anzuzünden. Was dieses Brennbare war, war schnell klar, denn Niclas kannte einige Tricks für die Beschaffung von Benzin. Einer davon war so einfach wir genial: In der kleinen Dorftankstelle gab es noch nicht einmal eine Überwachungskamera. Sobald ein größeres Auto an der vorderen Zapfsäule stände, wäre es ganz einfach sich an den hinteren Zapfsäulen zu bedienen. Bis dem Typen von der Tankstelle das auffallen würde, wäre Niclas längst verschwunden.
Niclas Gedankenkonstruktion wurde erschreckend detailliert und hielt auch einen Plan B bereit. Kurz nach der Vollendung kam der Bus an Niclas Haltestelle zum Stehen und ließ ihn aussteigen.
Der Bus verschwand hinter einem Hügel bis zur Hälfte, tauchte wieder auf um schließlich um eine Kurve zu biegen. Niclas schaute ihm hinterher und ging dann auf den Papierkorb zu, der an der Bushaltestelle hing. Autos fuhren nur selten vorbei und Fußgänger hielten sich an der Hauptstraße ungern auf. Aus einer Hosentasche entnahm Niclas ein Taschentuch und aus seinem Rucksack ein Feuerzeug. Er setze sich auf den Bordstein und zündete das eine Ende des Taschentuches an, während er wieder an den Wendersweg dachte. Das Haus würde mindestens genauso gut brennen wie das Taschentuch, das er in den Händen hielt. Er drehte das Taschentuch um, damit die Flammen auf den Rest übergriffen und nicht erloschen. Als das Taschentuch komplett in Feuer geraten war, stand er auf und warf es in den Mülleimer hinter sich, um sich dann wieder auf den Kantstein zu setzen. Ein Auto fuhr vorbei, doch der leichte Rauch fiel kaum auf und der Fahrer sah sie entweder nicht oder spielte „drei Äffchen“, wie es so viele Leute taten. Niclas war das nur recht, denn so war die Wahrscheinlichkeit, dass ihn je jemand zur Rechenschaft zog, eher gering. Er beobachtete den Mülleimer und den Rauch, der immer dichter aus ihm drang. ‚Was die Leute wohl so alles wegwerfen?’, dachte Niclas amüsiert und vermutete Alkohol oder Farbe. Möglicherweise auch Klebstoff, jedenfalls brannte es gut und stank. Die Rauchwolke färbte sich schwarz und der Gestank wurde heftiger. Niclas stand auf und ging einige Schritte rückwärts die Straße entlang. Der Boden des Mülleimers wurde dunkler und verformte sich leicht. Dann brach der Boden auf und die brennende Masse fiel auf den Gehweg. Niclas freute sich und ging langsam rückwärts weiter. Ein weiteres Auto fuhr an ihm vorbei. Der Fahrer musste etwas gesehen haben, aber es interessierte ihn nicht. Der blaue Golf fuhr die Straße entlang, bis er außer Sichtweite war. Vielleicht hatte der Fahrer einen Moment auf den brennenden Haufen geschaut, aber er hielt nicht an.
Der Wendersweg war nicht weit von der Bushaltestelle entfernt. Eigentlich gab es kaum einen Ort des Dorfes, der nicht nah war, denn es war ein kleines Dorf, in dem jeder jeden kannte. Die Wiese hinter den Gärten war eine beliebte Spiel- und Hundewiese und es kam selten vor, dass einem dort niemand begegnete. Josch sprang hinter einem Busch hervor: „Ha, ich bin ein Pirat und du bist mein Gefangener.“ Der Kleine, der Niclas gegenüberstand, blickte ihn erwartungsvoll an. Er griff Niclas Hand und zog ihn hinter den Busch in sein Versteck. Dort saß Sarah, seine Nichte. „Hallo Nici!“, quietschte sie voller Freude und sprang ihn an den Hals. „Ähhm, ich habe keine Zeit zum Spielen“, sagte er und setzte die Kleine wieder ab. „Groß ist die Sonne“, hörte er eine Kinderstimme aus einem Garten singen, „hell und warm ihr Schein, keiner könnte je ohne Sonne sein.“ Niclas streckte seinen Hals und erkannte, dass es der Garten des Hauses war, dass sein Ziel für diese Nacht werden sollte. Das Kind rutschte mit einem Bobbycar über den Rasen und strahlte voller Freude in den Tag. ‚Hell und warm ihr Schein’, wiederholte Niclas kalt, ‚dir wird heute sicher noch richtig warm.’ Er dachte nicht einmal über seine eigenen Worte nach. Darüber, dass er ein Kind in Lebensgefahr bringen könnte, dachte er nicht nach und sah nur wieder die hohen Flammen. Er grinste und versuchte das Haus zu beobachten, während Josch an seinem Ärmel zog. „Du musst das Deck schrubben. Du bist mein Gefangener“, sagte er mit der blauäugigen Stimme eines Kleinkindes und drückte ihm ein Blatt in die Hand, „hier ist ein Schwamm, das hier ist alles das Deck.“ „Jana, Papa ist am Telefon!“, rief eine junge Frau. Es galt der Kleinen im Garten. Die Frau, die in den Garten kam, kam Niclas bekannt vor. Es war eine der Mütter, die beim letzen Kindergartenfest geholfen hatte. Niclas interessierte es nicht, wer in dem Dorf lebte, er wäre lieber in eine Großstadt gezogen. Nun wandte er sich wieder den beiden Kleinen hinter dem Busch zu: „Kann ich mich frei kaufen?“ Er zog eine Tafel Ritter Sport Schokolade aus seinem Rucksack und reichte sie Josch. „Und sagt niemandem, dass ich hier war. Ich habe nämlich die Schule geschwänzt“, sagte er mit einem Zwinkern. Die beiden willigten ein und Niclas verschwand wieder.
Als er zu Hause angekommen war, ging er in die Garage und nahm sich sein Fahrrad und einen Fahrradanhänger. Er guckte auf die Uhr: viertel nach vier. Noch war es zu früh, denn er wusste, dass gegen 18 Uhr der Wagen des Elektroinstallateurs, der von allen ‚Blitzi’ genannt wird, betankt wurde. Das tat er fast immer mittwochs und freitags, denn viele seiner Aufträge waren etwas weiter weg.
Er stellte sein Fahrrad mit dem Anhänger vor den Seiteneingang und rannte in die Wohnung. In seinem Zimmer hatte er noch drei Benzinkanister von seiner letzten Brandstiftung. Es war eine Gartenlaube in Krumesse. Er war dort mit dem Bus hingefahren und hatte die Kanister in einer Reisetasche verstaut. Die Flammen umschlungen die Gartenlaube, wechselten ihre Farbe von gelb zu rot und dann orange. Das verbrennende Holz knisterte und die Wärme erreichte Niclas, der an der Gartenpforte wartete und seine Ängste für einen Augenblick vergessen konnte. Die Gedanken an diese Nacht ließen Niclas ungeduldiger werden. Er öffnete die Wohnungstür, die nicht abgeschlossen war und ging hinein.
„Hallo Niclas.“ Die Stimme kam aus der Küche. “Hallo”, antwortete er, schenkte ihr aber keine weitere Beachtung. Sie redeten nie viel - er und seine Mutter. Eigentlich redete Niclas nie viel und verbarg seine große Unsicherheit hinter Hobbys wie Computer spielen und Zeichnen. Marco hingegen war ein sehr selbstbewusster Kerl, der es verstand Niclas ein Gefühl von Selbstsicherheit zu geben. In seiner Gegenwart fühlte er sich stärker, jedoch wusste er, dass er ohne ihn verloren war. ‚Kleiner Niclas’, dachte er frustriert, ‚Nicilein.’ Er dachte daran, wie wenig man ihm zutraute, wie verloren er ohne Marco wirkte. Er würde es ihnen allen zeigen. Noch in dieser Nacht. Er würde es sein, der über Sein und Zerstörung entschied, er würde es sein, der eine unglaubliche Kraft freisetzen würde. Riesige Flammen türmten sich in seinen Gedanken vor ihm. ‚Macht’, dachte er. - Er würde mächtig sein.
Die Zimmertür fiel ins Schloss und Niclas war wieder alleine. Unter seinem Bett kramte er die drei Benzinkanister hervor und vom Bett nahm er die Tagesdecke. Alle Kanister wickelte er in die Decke und ging wieder nach unten zu seinem Fahrrad. Ordentlich sortierte er die Kanister nebeneinander auf den Anhänger und legte die Decke schützend drüber. Er könnte sagen, dass er seiner Schwester einige Klamotten für Sarah vorbeibrachte, wenn ihn jemand fragen würde, aber er war sich ziemlich sicher, dass niemand es wissen wollte.
Wieder in seinem Zimmer vertrieb er sich die Zeit mit Musik hören und Durchblättern seiner Feuer-Sammlung. Der dicke, rote Ordner ließ sich schon nicht mehr richtig schließen. Er quoll über vor Bilder, Berichten und Internetausdrucken. Besonders stolz war er auf seine selbst angefertigten Karteikarten, auf denen Feuerwehrfahrzeuge aus der Umgebung mit Baujahr, PS-Zahl, Kennzeichen und allen weiteren wichtigen Daten abgebildet waren. „The roof, the roof, the roof is on fire“, dröhnte es aus den Boxen. Niclas nahm ein Blatt Papier und fing an eine brennende Fabrik zu malen. Er stellte sich hochexplosive Chemikalien vor, die dort in Fässern von dem Feuer eingeschlossen waren und jede Sekunde explodieren könnten. Neben dem Gebäude stand ein Feuerwehrwagen und die Feuerwehrmänner waren damit beschäftigt die Schläuche auszurollen. Hinter einem Tor stand eine Person. Kleiner als die anderen und schmächtiger. Die Person hatte kurzes, blondes Haar und grinste. Er war es, ganz alleine er und kein Marco in der Nähe.
Er legte das Bild zu den anderen in einen großen Umschlag und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs und höchste Zeit zur Tankstelle zu fahren.
Niclas sprang auf sein Fahrrad, dass bei der Wucht fast zusammenbrach. So schnell, wie es ihm irgendwie möglich war, trat er in die Pedale und der Anhänger wackelte gefährlich hin und her. Hinter der ersten Kurve war das Leuchtschild der Tankstelle bereits erkennbar und wenig später sah er auch den Rest der Tankstelle. Blitzi war nicht da, aber die vordere Tanksäule war besetzt. - Von einem Motorroller. Niclas stellte sein Rad vor einem Briefkasten ab und wartete ab. „Hallo Niclas“, hörte er eine leicht ziternde Stimme neben sich. Er drehte sich langsam um, die Stimme passte eigentlich nur zu einer Person. „Hallo Oma“, sagte er und hoffte, dass sie weiter gehen würde. „Niclas, Junge, warum kommst du nicht mal vorbei?“ Nervös guckte sich Niclas nach der Tankstelle um. „Ich habe keine Zeit, Oma...“ Ein weißer Transporter mit blauer Aufschrift fuhr vorbei. ‚Blitzi!’, dachte Niclas und biss sich auf die Unterlippe. Der Motorroller fuhr gerade weg und Blitzi stellte den Wagen an der vorderen Zapfsäule ab. „Ok, Oma“, sagte Niclas, „ich bring dich nach Hause, aber dann muss ich gehen. Ich schreibe morgen einen Vokabeltest und muss noch lernen.“ Seine eigenen Worte erschreckten ihn. Den Vokabeltest hatte er schon fast vergessen, doch es blieb ihm auch nicht viel Zeit dadrüber nachzudenken, denn seine Oma hatte scheinbar eine Menge zu erzählen.
Bei seiner Oma nahm er sich aus der Garage einen Schlauch mit und steckte ihn unbemerkt unter die Decke zu den Kanistern. „Ich muss jetzt wirklich gehen. Tut mir leid, ich komme ein anderes Mal wieder“, verabschiedete sich Niclas anschließend.
Im Dorf fühlten sich die meisten Leute sicher. Die wenigsten schlossen ihre Häuser tagsüber ab und viele ließen sogar ihre Autos offen stehen. Niclas schlich unbemerkt auf eine Ausfahrt, die von der Straße und der Eingangstür abgeschottet war und öffnete den Tankdeckel. Er schlich zurück zum Fahrrad und nahm den Schlauch und die vier Kanister mit. Den Schlauch steckte er in den Tank und öffnete die Kanister. Danach nahm er das andere Ende des Schlauches in den Mund und zog. Widererwarten passierte nichts. Niclas begann zu schwitzen, da es ziemlich eindeutig war, was er vor hatte und der Besitzer jederzeit kommen könnte. Er zog kräftiger und länger und dann kam der Inhalt aus dem Tank. Er nahm das Ende des Schlauches aus seinem Mund und tat es in den ersten Kanister. Als er voll war, tat er das selbe mit dem nächsten und so weiter. Als der vierte Kanister zu einem Drittel gefüllt war, tropfte es nurnoch aus dem Schlauch und Niclas packte zusammen. Die Kanister waren schwer und Niclas ächste beim Tragen, anstatt mehrmals laufen zu müssen. Er verstaute die Kanister wieder in dem Fahrradanhänger und legte die Decke drüber. Als er zurück gehen wollte, um auch noch den Schlauch zuz holen, knarrte die Haustür und öffnete sich einen Spalt. Der Mann drehte sich in den Flur und redete mit jemanden. Diese Gelegenheit musste Niclas ergreifen und das Feld räumen. Der Fahrer hätte sowieso bemerkt, dass sein Tank leer war und den Schluss wie es passiert ist, hätte er auch ohne den Schlauch ziehen können. Also trat Niclas in die Pedale und entkam.
Er fuhr über die Straße in einen Waldweg und immer geradeaus ohne sich umzusehen. An einer Bank hielt er an und ließ sich schnaubend fallen. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und jabste nach Luft. Dabei fiel ihm die dunkle Linie auf dem Boden auf. Er guckte in die Richtung, aus der er gekommen war und sah, dass dort die Linie langführte und direkt vor ihm endete. Niclas stand auf und nahm die Decke von den Kanistern. ‚Glogg glogg’, hörte er es. Er nahm einen der Kanister hoch und begutachtete ihn. Er war dicht. Also nahm er den zweiten. Das dickflüßige Zeug tropfte aus einem kleinen Loch aus der Seite. Niclas hob den Kopf und guckte den Weg entlang. Er versuchte etwas zu hören oder Umrisse zu sehen, aber er schien noch alleine zu sein. Er nahm den zu einem Drittel gefüllten Kanister und füllte den Rest des Benzins aus dem kaputten Kanister um. Er testete noch schnell die anderen Kanister, aber aus keinem tropfte es. Den kaputten Kanister warf er in den Wald und stopfte die Decke nervös zitternd zurück über die restlichen drei Kanister. So schnell wie nie zuvor fuhr er weiter. Ein Auto kam den schmalen Waldweg entlanggefahren. Er hörte es hinter sich, drehte sich aber nicht um. Bei diesem schmalen Weg wäre es unmöglich gewesen ihn mit einem Auto einzuholen. Der Anhänger sprang über kleine Hügel und Äste und schleuderte leicht hin und her. Es wurde schwierig das Fahrrad unter Kontrolle zu kriegen, aber Niclas wurde nicht langsamer. Der Anhänger kam vom Weg ab und riss Niclas mit sich. Der Waldboden ließ ihn brutal aufschlagen und neben den Weg in eine Kule rollen. Tränen schossen ihm ins Gesicht und er merkte, wie Blut an seinem Knie herunterfloss. Er guckte sich um und sah sein Fahrrad samt Anhänger neben sich in einem Busch. Dann hörte er das Auto wieder. Es fuhr an ihm vorbei und er blieb still. Erst als es vorbei war, versuchte Niclas sich aufzurichten. Sein Knie tat weh, schien aber nur aufgeschlagen zu sein. Ansonsten hatte er kleinere Abschürfungen an den Händen und im Gesicht. Mit Mühe schaffte Niclas es sein Fahrrad sammt Anhänger aus dem Busch zu befreien. Er sammelte die Kanister wieder ein und verstaute sie unter der Decke im Anhänger. Sein Fahrrad diente ihm als Stütze und so humpelte er nach Hause.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte eine vertraute Stimme. „Nichts. Ich bin nur hingefallen“, murmelte Niclas und schleppte sich in sein Zimmer. „Hingefallen? Du siehst aus als hätte dich jemand durch einen Dornenbusch gezogen.“ Seine Mutter folgte ihm in sein Zimmer. „Ich bin im Wald mit dem Fahrrad hingefallen. Ist halb so wild.“ Niclas Mutter betrachtete das Knie. „Zieh mal die Hose aus, ich mach dir da einen Verband drum“, forderte sie ihn auf. Er tat es und setzte sich auf sein Bett. Neben seinem Bett lachte ihm seine Uhr entgegen: 20 Uhr, nun konnte es bald losgehen. Niclas grinste zufrieden als seine Mutter mit Verbandsmaterial wiederkam. „Na, über was freust du dich so?“, fragte sie ungewöhnlich interessiert. „Ach nichts“, gab er zur Antwort und lehnte sich zurück, „ich musste nur gerade daran denken, dass bald Sommerferien sind.“ Sie nickte. „Fährst du dann wieder zu deinem Vater?“, wollte sie wissen. „Mal sehen“, murmelte Niclas und fand die Idee gar nicht so schlecht. Zu seinem Vater in die Großstadt, das wärs. Dort gab es gleich mehrere Berufsfeuerwehren und auch Jugend- und freiwillige Feuerwehren. Manchmal gab es dort auch Feste mit Vorführungen. Einmal hatten sie dort eine Stuntshow mit brennenden Stuntmännern und explodierenden Autos gesehen. Er nickte, während sein Grinsen noch breiter wurde.
Niclas Mutter kniff die Lippen zusammen und holte Luft. „Niclas...“, fing sie an, „wir müssen reden.“ - „Über was?“ - „Deine Hobbys.“ - „Meine Hobbys?“
Sie nickte und sah ihm in die Augen. Ob sie es wusste? Niclas war sich immer so sicher, dass es sie niemals interessieren würde, was er tat und keine Ahnung hatte. „Was ist mit meinen Hobbys?“, fragte er. „Auf dem Elternabend gestern wurden diese Vorfälle erwähnt. In der Schule häufen sich die Fehlalarme, die durch das Zerschlagen von Feuermelderscheiben ausgelöst werden. Niclas, hast du damit irgendwas zu tun?“ Er starrte sie an. Wieso ist sie jetzt darauf gekommen? Sie hätte schon so oft darauf kommen können, aber inzwischen fühlte er sich sicher. „Niclas, sag was“, forderte sie ihn auf, „die ganzen Poster, die Berichte... Du scheinst an gar nichts Anderes zu denken.“ Niclas Grinsen verschwand. Sie guckten sich gegenseitig ernst in die Augen. „Es tut mir leid“, sagte Niclas reumütig, „ich mach das nicht wieder. Versprochen.“ Sie schüttelte den Kopf: „Niclas... Wie konntest du das tun? Du bist doch kein Kleinkind mehr. Was hast du dir dabei gedacht?“ Niclas schaute auf den Teppich und behielt seinen Blick dort unten. „Ich muss noch lernen“, sagte er ausweichend, „morgen schreiben wir einen Vokabeltest.“ Seine Mutter versuchte ihm in die Augen zu gucken, aber er wich ihren Blicken aus. „Okay Niclas, wir reden morgen. Aber bis dahin bleibst du hier und machst keinen Blödsinn. Von der Schule gehst du direkt nach Hause und heute gehst du nicht mehr weg!“ Niclas sagte nichts mehr. Er nahm seine Englischsachen aus seinem Rucksack und setzte sich an seinen Schreibtisch. Seine Mutter verließ zögernd den Raum.
Wie ein Tier im Käfig saß er nun in seinem Zimmer. Sekunden vergingen nicht, Minuten wurden zu Stunden. Eingesperrt, kontrolliert, überführt. Er stand auf und schlich hin und her. Die Haustür war keine zehn Meter entfernt und doch war sie unendlich weit weg. Seine Mutter konnte bestimmen, sie war mächtiger als er. Wenn er jetzt einfach rausrennen würde, wäre das Taschengeld sicher erstmal gestrichen. Ein Gedanke, der ihm nicht gefiel. Das Fass war voll, der Druck unerträglich. Jede Kleinigkeit wäre jetzt in der Lage das Fass zum explodieren zu bringen - zum Zerspringen wie einen Molotov-Cocktail. Eine unglaubliche Kraft freisetzen und Erleichterung spüren - die Gedanken frei kriegen... ‚Feuer’, dachte er mit einem fanatischen Leuchten in den Augen, ‚Feuer!’
Er musste raus aus dem Zimmer, raus aus dem Haus. Er musste mit dem Anhänger zum Wendersweg, es musste brennen. Er suchte nach einem Weg nach draußen, einem Fluchtweg. Er ging zum Fenster und öffnete es. Hinauszuspringen wäre Selbstmord, er befand sich im zweiten Stock. Neben dem Fenster führte eine Regenrinne entlang. Er überlegte, ob sie ihn aushalten würde und lehnte sich aus dem Fenster um an ihr zu rütteln. Obwohl sie recht fest war, war Niclas sich nicht sicher, ob die Idee so gut war. Ein Sturz könnte üble Folgen haben. Er guckte auf sein Bett. Ob er die Laken zu einem Seil zusammenbinden sollte? Ein Klingeln unterbrach seine Gedanken. Es war die Türklingel und Niclas ging hin. Seine Mutter hatte bereits geöffnet und rannte ihm nun entgegen. „Niclas, Sarah ist aus dem Bett gefallen und hat sich den Kopf aufgeschlagen. Michaela ist mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Ich fahre auch da hin und du bleibst hier!“ Niclas verschwendete keinen Gedanken an seine verletzte Nichte und freute sich über die Gelegenheit. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen: „Ja, ich bleibe hier.“
Kaum war seine Mutter außer Sichtweite verließ Niclas das Haus. Die Anspannung wurde größer, als er sich sein Fahrrad schnappte und losfahren wollte. Sein Knie tat immernoch weh und er musste sein Fahrrad schieben. Es war schon später als geplant, aber so war er einigermaßen sicher, dass in dem Haus schon alle schliefen und er nicht endeckt werden würde.
Auf der Wiese surrten die Grillen und die Sterne funkelten neben dem Mond am wolkenfreien Himmel. ‚Ein hervorragendes Szenario für ein Feuer’, dachte sich Niclas und schob sein Fahrrad die Wiese entlag. Vor dem Haus nahm er die Decke von den Kanistern und betrachtete sie zufrieden. Nun würde ihn niemand mehr aufhalten können. Er nahm die Kanister in die Hände und kletterte über das Gartentor. Die Tür war wie erwartet offen. Er ging einige Meter und stand plötzlich im Rampenlicht. Damit hatte er nicht gerechnet, das Haus hatte einen Bewegungsmelder. Eine Katze miaute und er rannte weiter zum Haus. ‚Die werden sicher denken es wäre nur die Katze gewesen’, dachte er und betrat das Haus. Hinter einem Sessel kniete er sich hin und wartete ab ob jemand kommen würde. Er blieb alleine. Möglichst leise öffnete er die Kanister. Mit dem ersten ging er zur Treppe und zum Sofa. Er versuchte das Benzin möglichst gut zu verteilen. Der Inhalt des zweiten Kanisters wurde über die Schrankwand gekippt und bevor er den dritten Kanister leerte, sah er ein Bild an der Wand hängen. Es war ein Bild von einem Sonnenuntergang. ‚Das größte Feuer, was es gibt’, dachte er und nahm das Bild von der Wand. Er brauchte beide Hände um das große Bild festzuhalten und stellte sich vor wie es in seinem Zimmer wirken würde. Die Sonne war groß und feuerrot. In dem Meer, in das sie eintauchte, spiegelte sie sich und die Wolken waren lila gefärbt. Die Felsen an der Seite fielen ihm kaum auf. Er stellte das Bild vor die Tür und leerte den letzten Kanister in der Wohnung. Niclas verließ das Wohnzimmer und zündete sich eine Zigarette an. Diese legte er dann auf den Türsiems und ging Richtung Gartentor. Das Ende der filterlosen Zigarette lag in einer Benzinpfütze. Mit dem Bild in den Händen kletterte Niclas zurück über das Gartentor auf die Wiese und wartete ab. Sein Fahrrad versteckte er in dem Gebüsch, in dem Josch und Sarah am Mittag gespielt hatten. Das Feuer breite sich schnell aus, aber die von Niclas erwünschte Explosion blieb aus. Er schaute gebannt auf das Feuer und fühlte sich frei. Das Feuer war mächtiger als alles, was um Niclas herum war. Es war mächtiger als er selbst, als Marco und seine Mutter. Es musste sich an keine Regeln halten und zerstörte alles, was sich ihm in den Weg setzte. Es vernichtete auch Verzweiflung, Frust und Hilflosigkeit. Jegliches Gefühl sah er in den Flammen zu Asche werden. Und er hatte es freigesetzt, ein großartiges Gefühl. Nun würde er das Feuer bekämpfen und der Mächtigste von allen sein. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte: 112
In diesem Augenblick füllte eine schrille Stimme die Ruhe, die bisher nur vom Surren der Grillen und dem Knistern der Flammen gestört wurde. Es war die Stimme eines in in Panik geratenden Kindes, dass die Situation erkannte und um seine Mutter schrie. Nur zwei Wörter rief es in einer für Kinder untypischen Deutlichkeit. ‚Feuer’ und ‚Mama’. Immer wieder ohne Unterbrechung und ohne Reihenfolge. „Feuerwehr Notruf“, meldete sich Sekunden später eine dunke Stimme. „Hallo. Hier im Wendersweg Nummer neunzehn brennt ein Haus.“
Niclas wartete nicht auf Rückfragen, sondern legte auf. Er steckte das Handy zurück in seine Hosentasche und lehnte sich an die Gartenpforte. Die verzweifelten Hilferufe einer jungen Familie überhörte Niclas, achtete auf das Knistern und Krachen des Feuers und wartete auf die Sirenen.
Die Kleine in den Flammen weinte nach ihrer Mutter und ihre Mutter versuchte sie zu erreichen. Die Stimmen wurden lauter und der Tod schien sich langsam immer mehr in der Stimme wiederzufinden. Nach einem letzten Ruf, in dem die Mutter scheinbar ihre gesamte Kraft sammelte und lauter als jedes zuvor gewesene Geräusch in die Nacht drang, verstummte sie für immer. Die Stimme der Kleinen schien sich in ein Weinen zu wandeln und war nicht mehr zu hören.
Die Feuerwehrfahrzeuge kamen ohne Sirenen und ließen die ganze Gegend blau blinken. Der dichte Rauch verdeckte die Sterne und den Mond und stellte so das brennende Haus in den unangefochtenen Mittelpunkt. Die Flammen schlugen längst auch aus dem Dachstuhl und schienen nicht mehr unter Kontrolle zu kriegen sein. Ein Unimog rollte die Wiese entlang. Jeder andere LTW wäre wohl liegengeblieben, denn die Wiese war ein äußerst unebenes Gelände. Niclas betrachtete faziniert den auf ihn zurollenden, riesigen Wagen. Er stieß sich von dem Gartentor ab und rannte um den Häuserblock zur Vorderseite des Gebäudes, um mehr von dem Einsatz mitzubekommen.
Der Gruppenführer eines LF 16 stieg aus und gab Befehle, während aus dem Funkgerät unentwegt Meldungen drangen. Eine laute, in Panik verlorene Stimme übertönte jegliche Geräusche. Eine quietschende Kinderstimme stieß ein Stoßgebet aus. „Oh mein Gott, da ist noch ein Kind drin!“, rief einer der Feuerwehrmänner. Ein anderer wandte sich an die Schaulustigen, die sich inzwischen am Ort des Geschehens sammelten: „Wissen Sie, wie viele Personen sich in dem Haus befinden?“ Niclas nahm die Frage kaum wahr. „Zwei“, stammelte er. Der Feuerwehrmann vermutete, dass Niclas unter Schock stand und gab die Angabe per Funk an seine Kollegen weiter. „Wissen Sie, wo sich die Personen befinden?“, fragte er weiter. Niclas schüttelte langsam den Kopf ohne das Feuer aus den Augen zu lassen.
Der Gruppenführer versuchte die Stimme des Kindes zu orten. „Dachgeschoss mit Druckluftschaum ablöschen! Angriffstrupp über Steckleiter in das zweite Obergeschoss vor“, rief er und veranlasste die Truppen zur Handlung. Er wandte sich an einen anderen Trupp: „Angriffstrupp zum Innenangriff durch die Haustür in den ersten Stock vor.“ Sekunden später rannten einige Männer in Schutzkleidung in das brennende Haus. Von beiden Seiten des Hauses waren Blaulichter zu sehen. - Die gesamte Gegend blinkte wie eine unifarbene Freiluftdisko, dachte sich Niclas und lehnte sich entspannt gegen einen Baum. Eine Gruppe Feuerwehrmänner lief mit schwerem Gerät auf die Haustür zu und brach sie brutal auf. Drei mit feuerfesten Anzügen ausgerüstete Feuerwehrmänner liefen in das Gebäude, die drei Feuerwehrmänner traten aus den Flammen und standen im Blitzlichtgewitter der Presse. Mit besorgten Gesichtern guckten die Leute auf die Decke im Arm eines Feuerwehrmannes, in der ein kleines Kind eingewickelt war. „Wo ist die zweite Person?“, rief der Feuerwehrmann, der immernoch vor Niclas stand und lief auf die drei zu. Ein Notarzt nahm dem Mann das Kind ab und rannte zum Rettungswagen. Eine weitere Gruppe Feuerwehrmänner in Schutzanzügen löste die drei ersten ab. „Wir haben sie in der ersten Etage im hinteren Teil des Hauses gefunden“, berichtete einer der Feuerwehrmänner, „da ist sonst niemand mehr. Möglicher Weise ist noch jemand in dem Zimmer hinter der Treppe links.“ Der Mann der zweiten Gruppe nickte und die Drei rannten los. Zwei weitere Rettungswagen und ein Tanklöschfahrzeug erreichten den Wendersweg; ein solches Aufgebot hatte Niclas noch nie gesehen und freute sich. Von der Sorge der umstehenden Leute und den verzweifelten Wiederbelebungsversuchen der Kleinen bekam Niclas nichts mit. Es interessierte ihn nicht. Dort vor ihm waren die wilden Flammen und um ihn herum standen jede Menge Feuerwehrfahrzeuge und er sah Geräte und Bekleidungen der Feuerwehr. Das war alles, was für ihn zählte. Ein gewaltiger Knall ließ alle Anwesenden zusammenzucken. Es klang wie eine Explosion, jedoch gab es keine.
Die zweite Rettungsgruppe kam aus den Flammen, hielt aber nur eine leere Decke in den Händen. Sie rannten aus dem Haus und riefen dem Gruppenführer entgegen: „Die Treppe ist eingestürzt. Wir können nurnoch über die Leiter in die erste Etage!“
In dem Haus gab es viele Holzverkleidungen und wenig Brandschutzmaßnahmen. Das Zimmer, in dem die Frau vermutet wurde, war komplett in Flammen aufgegangen und viel zu heiß für einen Einstieg über die Steckleiter. Das Wasser stand den Flamen machtlos gegenüber. Es verdampfte fast komplett bevor es das Feuer erreichte. Der Schaum konnte mehr ausrichten, jedoch kamen die Löscharbeiten dennoch nur mühsam voran.
Eine Frau, die neben Niclas stand, hielt ihre Hände vor ihr Gesicht und fing ihre Tränen. Ihr Blick folgte dem Rauch zum Himmel und blieb dort oben, während sie in die Nacht flüsterte: „Jetzt hilft nur noch ein Wunder.“ Weitere Worte wurden zunächst von ihrem Schluchtzen aufgefangen, doch dann fing sie an zu beten. Niclas fand diese Reaktion ziemlich albern und überlegte, wo er diese Frau schon einmal gesehen hatte. Dann fiel es ihm ein. Er hatte sie auf der Bank auf dem Spielplatz gesehen, als er mit Sarah dort gewesen war. Sie ist mit diesem Kind dagewesen, das in diesem Augenblick mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wurde. Vermutlich war es die Großmutter der Kleinen und die Mutter der Frau in den Flammen. Niclas kümmerte sich nicht weiter darum und beobachtete den spannenden Feuerwehreinsatz.
Die auf das Haus gerichteten Schläuche kämpften weiter gegen die Flammen an und langsam war es zu verantworten durch das Fenster im ersten Stock zu steigen. Der angefunkte Leiterwagen war inzwischen eingetroffen und fuhr die Leiter Richtung Fenster aus. Mit einer Wärmebildkamera wurde nach der vermissten Person gesucht. Alle Augen waren auf das Fenster gerichtet und eine seltsame Spannung, von der Niclas nichts mitkriegte, lag in der Luft. Für einige war klar, dass die Frau keine Überlebenschance hatte und andere beteten unentwegt oder glaubten fest an ein Wunder.
Unendliche Sekunden verbrachten die Feuerwehrmänner in dem qualmenden Zimmer. Dann tauchte einer der beiden wieder auf und stieg in den Korb. Der zweite Feuerwehrmann folgte. Ihre Hände bleiben leer.
„Cintia!“ Die Stimme war kräftig und die Aussagekraft dieses einzigen Wortes war enorm. „Cintia“, wiederholte sie nun wesentlich leiser und ihre Stimme begann zu zittern. „Cintia.“ Ihre Stimme wurde schwach und man sah ihrem gesamten Körper die Schwäche an, die sie plötzlich durchfuhr. Ein Polizist kam auf sie zu. „Es tut mir leid“, sagte er. „Haben Sie sie gefunden?“, fragte die Frau wimmernd. „Ja“, sagte der Polizist leise. Sie sahen sich in die Augen. „Warum?“, frage die Frau, „René, warum?“ Er schluckte. Die Tatsache, dass sich die Leute im Dorf kannten machten diesen Teil des Jobs noch schwieriger als er sowieso schon war. „Ich weiß es nicht - aber ich werde es rausfinden.“
Niclas machte sich keine großen Gedanken darüber was wäre, wenn sie ihn kriegen würden und stand auf. Er rannte wieder um den Block, um zu sehen, was das Löschfahrzeug auf der Wiese machte. Er ging zurück zu seinem Fahhrad und klemmte sich das Bild unter den Arm. Das Löschfahrzeug richtete ebenfalls seine Waffe gegen das Feuer.
Niclas beobachtete etwas enttäuscht das langsam ausgehende Feuer. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter: „Hallo Niclas, was machst du denn hier?“ Er drehte sich langsam um. Vor ihm stand Peter, der Polizist, der früher in der Grundschule für die Verkehrserziehung da war. Peter war etwas verwundert über den großen Bilderrahmen, den Nicklas in den Händen hielt. „Was ist denn das für ein Bild? Darf ich mal sehen?“, fragte er interessiert. Niclas drehte es zu ihm und Peter schluckte. Auf dem Bild war die Familie zu sehn, die in dem brennenden Haus gewohnt hatte. Er kannte die im Dorf sehr aktive Familie gut. Auf dem Bild saßen sie auf einem Felsen und in der Mitte des Bildes war ein Sonnenuntergang zu sehen. „Wo hast du das her?“, fragte Peter, dem die Stimme wegblieb. Niclas antwortete nicht und biss sich auf die Lippe als er die drei Personen entdeckte, die er vorher übersehen hatte. „Komm mit“, forderte Peter ihn flüsternd auf.