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Fahrtenbuch
Fahrtenbuch
Die letzte Weinflasche landete klirrend im Container. Fünf große Plastiktüten waren geleert, die Fahrt zum Containerplatz vor der Stadt hatte sich gelohnt.
Hella faltete die Tüten sorgfältig zusammen, klemmte sie unter ihren Arm und griff in die Manteltasche.
Jetzt rasch nach Hause, aus der diesigen Dämmerung in die Wärme des Wohnzimmers.
Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als die Hand in der Tasche nichts fand.
Hella wusste es schon, wollte aber nicht daran glauben. Sie ließ die Tüten achtlos fallen und suchte hektisch alle Taschen ab. Ohne Erfolg. Der Spurt zum Auto brachte die Gewissheit: Die Türen waren verriegelt, im Zündschloss funkelte der Schlüssel.
Zehn vor Vier, Ende November. In einer halben Stunde würde es dunkel sein. Sie hatte sieben Kilometer Weg vor sich, immer an der B8 entlang, von Feldern und Waldstücken gesäumt. Da bot es sich an zu trampen. Sie musste ihren Ersatzschlüssel holen und dann mit dem Taxi zurück. Einen Moment überlegte Hella, ob sie sofort ein Taxi rufen sollte, doch dann fiel ihr ein, dass ihr Handy auf dem Beifahrersitz lag.
Verdammt!
Hella war wütend auf sich selbst. Wie konnte sie nur so blöd sein, sich auszusperren? Außerdem machte sich ein mulmiges Gefühl breit, nicht direkt Angst, dafür war sie viel zu sauer, eher eine gesteigerte Vorsicht mit erhöhtem Pulsschlag.
Sie stellte sich unter eine Laterne und nahm sich vor, jeden anhaltenden Fahrer genau anzuschauen und nicht vorschnell einzusteigen. Eine Frau am Steuer wäre natürlich ideal.
Ein dunkelblauer Corsa fuhr an den Straßenrand. Hella zögerte einen Moment, im Nähertreten sandte ihr Gehirn eine Blitzfolge von Krimibildern: Junge Frau wird auf einsamer Landstrasse in ein Auto gezerrt, Ätherbausch vor den Mund gepresst, hilfloses Zappeln, verzweifelter Versuch, die nahende Ohnmacht abzuwehren.
„Was ist Ihnen passiert?“
Der Fahrer hatte die Innenbeleuchtung eingeschaltet, sich zur Beifahrertür hinübergebeugt und sie geöffnet.
Hella war auf der Stelle beruhigt, als sie in sein Gesicht sah. Ein älterer Mann, sicher Mitte sechzig, mit freundlichen Augen in einem runden Gesicht. Ein Familienvater und Opa. Sie verscheuchte den aufsässigen Gedanken, dass es auch eine perfekte Tarnung sein konnte und erklärte kurz ihre Situation.
Der Fahrer nickte und machte eine einladende Geste.
„Steigen Sie mal ein. Ich bringe Sie nach Hause.“
Hella war froh. Sie zog die Autotür zu und der Corsa fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Draußen verschluckte ein tintiges Zwielicht die Farben. Hella sah sich unauffällig im Wageninneren um. Wie ordentlich es in diesem Auto war! Schonbezüge auf den Sitzen, ein Duftbaümchen pendelte am Rückspiegel, eindeutig Pinie. Freizeitauto eines Rentnerpaares, dachte Hella, als ihr Blick auf das Portraitfoto am Armaturenbrett fiel, direkt vor ihrer Nase.
Sie schielte kurz zur Fahrerseite und wurde rot. Er hat die ganze Zeit mitgekriegt, dass ich mich umsehe, dachte sie. Er lächelte.
„Das ist meine Frau.“
Hella musste nicht nachfragen. Sie nickte. Er würde weitersprechen.
„Sie ist vor fast einem Jahr gestorben. Ganz plötzlich. Wir wollten gerade anfangen, uns ein schönes Rentnerleben zu machen.“
Er blickte konzentriert auf die Strasse.
„Und ich sitze jetzt auf ihrem Platz.“ Hella verlor ihre Befangenheit.
„Ja, das tun Sie. Sonst fahre ich immer allein.“
„Wohin fahren Sie denn?“
Er antwortete nicht sofort.
„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein."
Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.
„Nein, nein, das ist es nicht. Ich weiß nur nicht genau, wie ich das erklären soll. Vielleicht hört es sich komisch an und Sie denken, dass ich verrückt bin.“
Er sah sie an und lächelte schief. Hella nickte.
„Ja vielleicht. Das werden Sie herausfinden, wenn Sie es mir sagen. Ich heiße übrigens Hella Rietkamp.“
Das Eis schien gebrochen. Er entspannte sich und hielt ihr die rechte Hand hin, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
„Angenehm, Werner Bremer.“
Hella schüttelte kurz seine Hand. Das folgende Schweigen war nicht unangenehm. Er sucht nach Worten, dachte Hella, vielleicht erzählt er mir etwas, gerade weil ich eine Fremde bin. Er sieht gut aus mit den silbernen Haaren, der hellen Jacke und der gebügelten Jeans. Hella lächelte. Ob er die jetzt selbst bügelt? Sie betrachtete das Foto. Ein lachendes, warmherziges Frauengesicht, flotter Kurzhaarschnitt, kastanienfarben, wache braune Augen. Eine zufriedene, liebevolle Frau, auf deren Platz sie jetzt saß.
Hella begann zu ahnen, welchen Verlust dieser Mann erlitten hatte. Nichts, was er ihr sagen würde, käme ihr verrückt vor, das wusste sie bereits.
„Wie war ihr Name?“
„Eigentlich Johanna, aber für mich war sie immer Hanni, einundvierzig Jahre lang.“
Hanni und Werner. Wie leicht man in fremde Leben geriet. Oder eingeladen wurde?
„War sie krank?“
Werner Bremer stieß kurz die Luft aus und presste die Lippen aufeinander. Nach einem tiefen Seufzer sprach er weiter.
„Nein, Hanni war nie krank. Deshalb werde ich auch nicht damit fertig. Sie lag morgens tot neben mir, ich, es war…“
Die Stimme versagte, er trommelte wieder ungeduldig auf das Lenkrad. Sie hielten an einer Ampel. Hella sah, dass sie nur noch zweimal links abbiegen mussten, dann würde die Fahrt beendet sein, doch das ging jetzt nicht mehr so einfach.
„Die nächste links und dann gleich noch mal links.“ Hella sah ihn nicht an. Werner Bremer atmete tief durch und setzte sich gerade hin.
„Ja, gut. Dann sind Sie ja gleich zuhause.“
Vor ihrem Haus war ein Parkplatz frei. Er stellte den Motor ab und lehnte sich zurück. Hella machte keine Anstalten auszusteigen. Sie saßen schweigend in der Dunkelheit und wussten nicht, was sie mit dieser Begegnung machen sollten. Nach einiger Zeit sagte Hella: „Ich würde Sie gern auf einen Kaffee einladen, kommen Sie mit hoch?“
Bremer antwortete zunächst nicht, doch als er anfing zu sprechen, ging er nicht auf ihre Einladung ein.
„Es ist, als würde ich in einem schlechten Traum festsitzen, verstehen Sie das?“
Er starrte weiter geradeaus und Hella nickte, obwohl er das nicht sehen konnte.
„Wir wollten an dem Tag ins Reisebüro,ich war seit zwei Wochen pensioniert, wir wollten nach Gran Canaria, in die Sonne, wissen Sie? Hanni hatte sich so darauf gefreut mit mir zu reisen. Das war immer unser Traum.“
Er machte eine Pause und Hella wartete.
„An dem Morgen wusste ich sofort, dass sie tot war. Glauben Sie mir das? Ich habe es gespürt. Es war anders als sonst, kälter irgendwie. Und diese völlige Bewegungslosigkeit. Und kein Atmen. Das habe ich aber gar nicht zuerst registrier, nur diese Kälte, nur dieses Fehlen.“
Hella suchte fieberhaft nach Worten des Trostes oder des Verständnisses, doch ihr fiel nichts ein, was nicht banal geklungen hätte, deshalb schwieg sie einfach. Die Straßenlaternen leuchteten gelb, ein mildes Licht fiel in den Innenraum. Hella konnte Bremers Konturen erkennen. Er saß neben ihr und schüttelte selbstvergessen den Kopf.
„Seitdem mache ich mir immer wieder Gedanken darüber, ob ich für irgend etwas bestraft werde, ob ich was falsch gemacht habe im Leben, weil sie tot ist und ich weitermachen muss.“ Seine Stimme klang tonlos.
Hella brauchte einen Rettungsring. Sie hielt es kaum aus, neben diesem Fremden zu sitzen und nichts Tröstendes sagen zu können. Außerdem hatte sie Angst, dass er die Fassung verlieren könnte. Deshalb legte sie ihre Hand auf seinen Arm und wiederholte die Einladung mit fester Stimme.
„Kommen Sie doch mit hoch auf einen Kaffee, Herr Bremer.“
Überrascht sah er Hella an.
„Was? Ach so, nein danke. Sie holen jetzt mal ihren Autoschlüssel und dann fahre ich Sie schnell zurück zu ihrem Auto.“
„Das ist doch nicht nötig, Herr….“
„Hören Sie auf! Es ist dunkel, ein Taxi viel zu teuer und ich habe absolut nichts vor. Das ist es ja, was ich nicht sofort erzählen konnte: Ich fahre jeden Nachmittag durch die Gegend, weil ich es zuhause immer noch nicht aushalte, so allein.“
Hella zögerte noch einen Moment, stimmte dann zu und rannte die Treppen hinauf.
Aus der Wohnung dröhnten die Bässe von Jochens Stereoanlage. In dem Moment war sie dankbar, dass Werner Bremer ihre Einladung nicht angenommen hatte.
Ihr siebzehnjähriger Sohn saß in seinem Zimmer und bearbeitete seine Gitarre.
Hella stand an der Tür und beobachtete ihn.
Wie schön er ist! Jung, schön und lebendig, so lebendig! Sie nahm den Ersatzschlüssel vom Haken und verschwand leise aus der Wohnung.
Werner Bremer saß unverändert hinter dem Steuer. Hella glitt auf den Beifahrersitz und hatte das Gefühl, von einer Welt in eine andere zu gehen, nur das Treppenhaus lag dazwischen.
„Ist ihre Familie zuhause?“ Gott sei Dank, seine Stimme klang ganz normal!
Während sie antwortete, lenkte Bremer den Corsa zurück auf die B8.
„Mein Sohn Jochen ist da, er ist siebzehn.“
„Und Ihr Mann?“ Er sah in den Außenspiegel.
„Ich bin geschieden, schon seit zehn Jahren.“ Hella fand, dass ihre Stimme dünn klang. Werner Bremer sagte nichts. Schweigend fuhren sie zurück. Als er den Wagen vor dem Containerplatz parkte, bemerkte Hella ein Zögern. Sie legte die Hand auf den Türöffner und wartete. Als er schließlich redete, klang seine Stimme unsicher: „Würden Sie mir wohl die Freude machen, mich in ein Café zu begleiten, Frau Rietkamp?“
Im „Schradler“ war es ziemlich voll, doch sie fanden im hinteren Teil einen freien Ecktisch. Bremer nahm ihr ganz selbstverständlich den Mantel ab. Sicher hat er das bei Hanni immer so gemacht. Hella ärgerte sich kurz, als sie einen Anflug von Neid verspürte. Blödsinn! Es war zwar nett, aber schließlich nicht mehr als eine antiquierte Geste.
„Was darf ich Ihnen bestellen?“
Meine Güte, er war wirklich ein Kavalier der alten Schule.
„Tee mit Zitrone wäre schön.“
„Ein Stückchen Kuchen vielleicht?“
„Na gut, überredet.“ Hella lachte.
„Hier gibt es ausgezeichneten Apfelkuchen, hausgemacht, mit Cointreau und Rosinen.“
„Aha, Sie kennen sich hier also aus?“
Werner Bremer stützte die Unterarme auf und legte das Kinn in die verschränkten Hände. Er sah Hella direkt an.
„Seit Hannis Tod war ich nicht mehr hier. Es war ihr Lieblingscafé. Ich kann nicht sagen, warum ich heute den Entschluss gefasst habe, Sie zu fragen. Allein wäre ich sicher nicht mehr hier hinein gegangen.“
„Ich gehe nicht oft ins Café. Zeitmangel, wissen Sie. Deshalb ist es was Besonderes für mich.“
Die Bestellungen kamen und in den nächsten Minuten waren beide beschäftigt.
Hella probierte den Kuchen, trank den starken Tee und fühlte sich wohl in Bremers Gegenwart. Er würde das Gespräch fortsetzen, oder einfach erzählen wollen, beides war ihr Recht.
„Werden Sie denn zuhause nicht vermisst?“
Bremer sah sie an.
„Nein, das ist schon in Ordnung. Mein Sohn spielt Gitarre, da kriegt er nichts anderes mit. Außerdem vermissen Siebzehnjährige ihre Mütter nicht so sehr.“ Sie grinste.
Bremer griff den leichteren Ton auf.
„Das stimmt wohl. Mein Sohn ist schon sechsunddreißig, aber damals war es genau so.“ Er lächelte in sich hinein und schien sich zu erinnern.
„Haben Sie noch mehr Kinder?“
Bremer nahm einen Schluck Kaffee und nickte.
„Noch eine Tochter von dreiunddreißig. Insgesamt haben wir fünf Enkelkinder, zwei Mädchen und drei Jungen.“
Er redet im Plural, dachte Hella. Und in der Gegenwart. Oma und Opa. Das gehört zusammen. Bremer sprach weiter.
„Meine Kinder wohnen beide nicht weit weg. Sie kommen oft vorbei.“ Er wurde still und senkte den Kopf über den Kuchenteller. Hella fühlte sich seltsamerweise durch seine Aussage erleichtert.
Sie wollte die angenehme Stimmung festhalten und ihre Stimme klang eine Spur zu munter, als sie rasch entgegnete: „Wie schön für Sie. Dann sind ja nicht so allein.“ Sie hörte ihrer eigenen Stimme zu. Was für eine abgedroschene Floskel!
Sein Gesicht blieb freundlich, nur seine Stimme klang etwas reservierter.
„Nein, allein bin ich nicht, das ist wohl wahr. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit, verstehen Sie? Es ist schwer zu erklären, doch ich kann mich inmitten meiner Kinder und Enkel plötzlich völlig einsam fühlen.“ Er machte eine Pause, bevor er zögernd weitersprach.
„Manchmal ist es so, dass ich mich am einsamsten fühle, wenn alle um mich bemüht sind. Es ist vielleicht undankbar, doch es gibt Tage, da halte ich mich selber kaum aus, immer noch nicht. Das macht mir Angst, schließlich ist es schon ein Jahr her.“
Hella schwieg. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Was er gerade gesagt hatte, war ihr nicht fremd. Nach der Scheidung von Thomas war es ihr an manchen Tagen auch so ergangen. Die Ehe war gescheitert, die Trennung von beiden gewollt, doch als sie mit Jochen allein war, begann sie, die alte Vertrautheit zu vermissen, die Zärtlichkeiten, das Lachen, das Erzählen von Alltagsdingen. Sie hatten es verloren im Laufe der Jahre. Wieso eigentlich? Während sie noch überlegte, ob man beide Situationen überhaupt miteinander vergleichen konnte, fragte Bremer:
„Lieben Sie jemanden?“
Der Schreck durchfuhr Hella durch die Glieder. Was war das für eine Frage? Er konnte doch nicht einfach so eine Frage stellen! Speichel sammelte sich in ihrem Mund, ihr Herz klopfte im Hals.
Bremer sah sie aufmerksam an, neigte den Kopf zur Seite und legte seine Hand auf ihre.
„Entschuldigen Sie, Frau Rietkamp. Altes Polizistenübel, verstehen Sie? Überraschungstaktik nennt man das im Fachjargon. War wohl zu indiskret.“
Seine Hand war trocken und warm. Hella atmete tief durch.
Ein Polizist also. Ein Gesetzeshüter. Einer, dem man vertrauen kann. Oder zumindest können sollte. Sie lächelte ihn unsicher an.
„Ich muss ja nicht antworten, oder? Also ja, ich liebe jemanden. Wir wohnen aber nicht zusammen. Er arbeitet in einer anderen Stadt.“
Sie sahen sich einen Moment an. Er zog seine Hand zurück und nickte.
„Das ist gut. Es ist das Wichtigste im Leben. Zu lieben, meine ich.“
„Und geliebt zu werden, oder nicht?“
Bremer sah sie eine Weile schweigend an.
„Darf ich Ihnen etwas von den Gedanken erzählen, die mich so beunruhigen?“
Hella nickte. Ihr ging durch den Kopf, dass dieser Tag etwas mit Fügung zu tun haben könnte. Wenn das nicht überhaupt Quatsch war. Dennoch wusste sie, dass alles, was Bremer jetzt sagte, sie berühren würde.
Bremer trank seinen Kaffee aus, bevor er sich zurücklehnte und nachdenklich an ihr vorbeischaute.
„Wissen Sie,“ begann er zögernd, „ich war fast vierzig Jahre im Polizeidienst, die letzten zweiundzwanzig bei der Kripo. Es gab nie geregelte Arbeitszeiten, Wechseldienst, Rufbereitschaft, Sie können sich das denken. Ich war mit Leib und Seele Polizist. Manchmal habe ich sogar meinen Urlaub verschoben, wenn es eng war.“ Er sah Hella an. „Niemals habe ich meine Frau gefragt, ob sie darunter leidet. Es war mein Beruf und Punkt. Hanni hat sich nicht beklagt. So manche Verabredung ist geplatzt, Ausflüge sind verschoben und nicht immer nachgeholt worden, abends bin ich oft todmüde ins Bett gefallen und habe noch nicht mal gefragt, wie ihr Tag denn war, was die Kinder gemacht haben und solche Dinge.“
Bremer hob in einer hilflosen Geste die Hände und ließ sie wieder in den Schoss fallen.
„Es war so selbstverständlich, dass sie immer da war und mir den Rücken freihielt. Das ich das nicht bedacht habe ist schon schlimm, doch als meine Frau tot war, hat meine Tochter mir erzählt, wie oft Hanni Angst um mich hatte. In der Kripozeit war es besonders schlimm. Bei Spezialeinsätzen, Drogenfahndung und Mordfällen. Ich bin in allen Abteilungen gewesen. Ihre Sorgen hat sie dann mit Kirsten geteilt, sich von unserem Kind beruhigen lassen, damit ich unbehelligt arbeiten konnte. Ich schäme mich heute dafür.“ Bremer schwieg.
„Aber sie wusste doch, dass sie einen Polizisten heiratet. Es war ihre Entscheidung.“ Bremer schüttelte entschieden den Kopf.
„Natürlich wusste sie das! Aber gibt es mir das Recht, keinen Gedanken der Fürsorge an sie zu verschwenden? Ich hätte ihr die Angst wahrscheinlich nicht nehmen können, aber ich hätte ihr danken sollen, danken dafür, dass sie sich so viele Jahre um mich geängstigt hat.“
Hella schwieg betroffen. Ihre Augen waren trocken und brannten.
„Wissen Sie Frau Rietkamp, mir ist klar geworden, dass Hanni immer gewusst hat, wie wichtig mir dieses Leben als Polizist ist; es ist mehr als ein Job gewesen, es war eine eigene Welt mit eingefahrenen Ritualen, den langjährigen Kollegen, der Selbstbestätigung, ja, auch der Macht, in gewisser Weise. Sie hat gewusst, dass ich so manchen Einsatz freiwillig gemacht habe, lieber als einen Familienausflug, ganz einfach, weil ich mich gut gefühlt habe, wenn wir Erfolg hatten. Sie hat mir zuliebe auf vieles verzichtet und ich Trottel habe mir meine wirklichen Motive erst nach ihrem Tod eingestanden. Es ist doch leicht, sich selbst als den überarbeiteten Polizisten zu sehen, ist ja auch was dran.“
Hella fuhr zusammen, als Bremer mit der Faust auf den Tisch schlug.
„Und diese verdammte Ignoranz! Ich hätte durchaus eher in Pension gehen können, aber nein, ohne mich läuft es doch nicht! Also habe ich bis zum letzten Tag gearbeitet. Sogar meinen fünfundsechzigsten habe ich im Präsidium größer gefeiert als zuhause! Hanni hat geduldig auf „später“ gewartet...dann reisen wir…später…dann fahren wir jeden Winter in die Berge…später…dann kaufen wir uns ein Wohnmobil. Dass es vielleicht gar kein später geben könnte, daran habe ich nicht eine Minute gedacht.“
Hella atmete durch.
„Ich verstehe, aber ist das nicht trotzdem eine typische Biografie für Ihre Generation? Ich meine, dass der Mann arbeitet und die Frau zuhause bleibt?“
Bremer sah erstaunt auf.
„Was? Ach so, nein, bei uns war das nicht so. Hanni war nicht auf mich angewiesen, wenn Sie das meinen. Sie war Lehrerin und immer berufstätig. Das hat sie gerne gemacht. Hanni war eine selbstständige Frau, sie hätte zu jeder Zeit gehen können. Nein, ich bin mir sicher, dass sie vieles ausgehalten hat, damit ich so leben konnte, wie ich es wollte.“
Hella nickte. Dennoch: Hanni hat das getan, was in jeder Beziehung wahrscheinlich getan werden muss: Einer steckt zurück. Ihre eigene Ehe war unter anderem auch an ähnlichen Problemen gescheitert. Wenn sie ehrlich war, hat es sie oft gewurmt, dass Thomas ihre Arbeit im Haus nicht erwähnenswert fand, obwohl sie auch noch jeden Tag vier Stunden im Sekretariat der Zeitung arbeitete.
Sie hatten sich immer mehr in Machtkämpfe verstrickt, sich mit Vorwürfen zugepflastert.
Bremer schien ihre Gedanken zu ahnen.
„Wahrscheinlich ist es in der Liebe so, dass die Waage nicht immer im Gleichgewicht ist. Ganz sicher würde Hanni auch viel Liebenswertes über mich sagen, doch darauf kommt es überhaupt nicht an, verstehen Sie? Ich bedauere so unendlich, dass ich es ihr nie gesagt habe als sie lebte, zum Beispiel hier, in ihrem Lieblingscafé. Ich hätte ihr nur mal sagen müssen, dass ich für ihre Liebe dankbar bin, dass sie mir Kraft gibt, weil sie so ein großzügiges Herz hat.“ Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. „Und das ich nicht nach ihren Wünschen gefragt habe, immer vorausgesetzt habe, dass sie zufrieden ist. Immer alles auf „später“ verschoben habe.“
„Vielleicht war sie ja auch zufrieden…“ Ein schwacher Versuch.
„Und wenn nicht? Vielleicht habe ich nur nicht gefragt, damit ich an meinem Leben nichts ändern muss.“
Das Café leerte sich.
Bremer faltete die Papierserviette an den vier Ecken zusammen, strich sie wieder glatt und schob sie schließlich mit einer raschen Bewegung von sich. Hella war sich nicht mehr sicher, ob sie noch mehr hören wollte. Sie wäre gerne gegangen, raus, in die kalte Herbstluft.
Werner Bremer griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Heft hervor. Ein Schreibheft mit roter Plastikhülle. Er legte es auf den Tisch und Hella las auf dem Deckel das Wort „Fahrtenbuch“. Gerade Buchstaben, mit Füller geschrieben. Sie sah Bremer fragend an.
Er schlug das Heft nicht auf, strich nur kurz über die Vorderseite.
„Vor fünf Monaten habe ich begonnen, jeden Tag in dieses Heft zu schreiben. Damals dachte ich, dass ich verrückt werde ohne Hanni, ich wusste nicht, wie ich die Tage überstehen sollte und die Nächte in dem leeren Bett.“
Hella sah die Tränen in seinen Augen.
„Ich konnte die Einsamkeit ebenso wenig ertragen, wie die ständige Besorgnis meiner Kinder. Jeden Tag bin ich zum Friedhof gelaufen und habe mich stundenlang auf die Bank an ihrem Grab gesetzt. Auch wenn es gotteslästerlich klingt, aber damals habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass mein verdammtes Herz auch aufhören würde zu schlagen.“
Hella reichte ihm stumm ein Papiertaschentuch. Bremer wischte sich über die Augen.
„Doch es schlug einfach immer weiter. Also suchte ich nach einem Weg, Hanni irgendwie bei mir zu behalten. In der Erinnerung, im Alltag, irgendwie. Sie kennen doch sicher den Spruch, dass Menschen nicht tot sind, solange jemand an sie denkt?“
Hanni räusperte sich. Ihre Stimme klang belegt.
„Ja, den kenne ich.“
Bremer versuchte ein Lächeln.
„Sehen Sie, da kam mir die Idee mit dem Fahrtenbuch. Es ist vielleicht naiv, doch ich habe mir gedacht, wenn wir schon nicht mehr zusammen reisen können, fahre ich mit dem Auto zu bestimmten Orten oder in Gegenden, die Hanni gerne mochte. Jeden Abend trage ich seitdem in das Buch ein, wo ich war, was ich gesehen und gedacht habe und schildere ihr sozusagen den Ausflug.“
Mit einer hilflosen Geste fuhr er sich durch das Haar. Die Tränen rollten über seine Wangen und er suchte nach dem Taschentuch.
Hella schluckte trocken. Sie nahm seine zitternde Hand in ihre.
„Ich habe zuhause ein wunderschönes Bild von uns beiden,“ fuhr Werner Bremer fort, „von unserem vierzigsten Hochzeitstag vor zwei Jahren. Abends nehme ich das Bild auf meinen Schoß und erzähle Hanni alles, was im Fahrtenbuch steht. Ich weine zwar immer, aber so ist sie bei mir, sie antwortet mir, ja, das tut sie.“
Hella nickte zustimmend.
„Wo fahren Sie denn so hin?“
„Zum Beispiel an die Rheinpromenade. Sie liebte es, dort spazieren zu gehen und die Schiffe zu beobachten. Eine Kreuzfahrt gehörte auch zu unseren Plänen. Letzte Woche war ich in Düsseldorf, habe einen Bummel durch die Altstadt gemacht und die Impressionistenausstellung besucht. Hanni versteht viel von Kunst, ich nicht so sehr. Ich erzähle ihr von den Bildern, die mir gefallen haben, die Namen der Maler notiere ich ja im Fahrtenbuch.“
Er klopfte auf das Heft.
„Ich habe das Aufschreiben rückwirkend begonnen, wissen Sie?“
Hella schüttelte verneinend den Kopf. Sie verstand nicht ganz, was er meinte.
Bremer suchte nach den richtigen Worten.
„Nun ja, auf den ersten Seiten habe ich Hanni erklärt, warum ich dieses Heft angelegt habe. Damit sie sich nicht wundert, sozusagen.“
Er lächelte traurig.
„Ich habe aufgeschrieben, was ich alles getan habe, um zurechtzukommen. Zum Beispiel bin ich mehrmals ins Präsidium gegangen, zu den Kollegen. Da habe ich doch immer hingehört, da fühlte ich mich sicher. Doch es war auf einmal alles ganz anders. Nicht, dass sie unfreundlich waren, das nicht. Ich tat ihnen wohl auch leid, und deshalb haben sie nie direkt was gesagt. Doch mir wurde klar, dass ich nicht mehr dahin gehöre, ganz egal, wie lange ich dort gearbeitet habe. Mein Schreibtisch war längst vergeben, sie hatten alle viel zu tun, das kannte ich ja. Plötzlich fand ich mich als Gast wieder, der überall im Weg herumsteht. Da wurde mir noch schmerzlicher bewusst, wie vergänglich alles ist und das jeder zu ersetzen ist, im Beruf, meine ich. Nur Hanni nicht. Sie ist nicht zu ersetzen. Das habe ich viel zu spät kapiert. Aber aufgeschrieben habe ich es und ihr meine Gefühle geschildert. Ausgerechnet ich, der nie über Gefühle geredet hat…“
Hella dachte unwillkürlich an Thomas, an die bitteren Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte, weil die Anwaltskanzlei offensichtlich das Wichtigste in seinem Leben war. Er lebte für die Plädoyers vor Gericht, für den Glanz des Erfolges. Wenn er verlor, war er tagelang schlecht gelaunt. Doch er war ein guter Anwalt, so wie Bremer sicher ein guter Polizist gewesen war.
Er holte sie aus ihren Gedanken.
„Ich habe ihr sogar erzählt, wie sich ihr Verlust in den schwärzesten Tagen angefühlt hat, wenn ich gespürt habe, dass sich der Raum hinter meinen Augen weitet, die Welt sich anfühlt wie eine Kulisse, die gleich weggewischt wird. Hanni versteht das.“
Sie ist bei ihm, dachte Hella. Beneidenswert.
Mittlerweile waren sie die letzten Gäste im Café.
Die Kellnerin lehnte an der Kuchentheke und sah herüber. Ein Blick zur Wanduhr zeigte an, dass sie wohl gerne Feierabend machen wollte.
Werner Bremer fing Hellas Blick auf.
„Mein Gott, schon so spät? Entschuldigen Sie, Frau Rietkamp, ich….“
Hella legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und sah ihn lächelnd an.
„Pssst", machte sie, „ich bitte Sie! Sie haben mir heute so viel geschenkt, wissen Sie das eigentlich?“
Bremer schüttelte verlegen, aber sichtlich erfreut, den Kopf.
„Was würde Ihre Frau sagen, wenn ích Sie jetzt einladen würde?“
Seine Augen waren noch immer gerötet, doch er lachte fast unbeschwert.
„Oh, sie würde wahrscheinlich sagen: Mein Werner hat immer noch einen Schlag bei den Damen.“
Hella zückte ihre Geldbörse.
„Dann wollen wir ihr nicht widersprechen, nicht wahr?“
„Auf gar keinen Fall! Heute Abend wird sie sich besonders freuen. Ich habe ihr viel zu erzählen.“
Hella beglich die Rechnung. Als er ihr in den Mantel half, umarmte sie ihn spontan.
Werner Bremer war überrascht, doch er drückte sie fest an sich.
Hella sah ihn an.
„Ich habe kein Fahrtenbuch, deshalb sage ich es Ihnen direkt: Es ist wunderbar, Sie getroffen zu haben. Ich mag Sie und bin dankbar für diese Begegnung.“
Er nickte wortlos.
Sie verabredeten kein Wiedersehen. Beim Abschied, bevor jeder in sein Auto stieg, sagte Bremer: „Bei Hanni und mir war es übrigens Liebe auf den ersten Blick.“
Hella hatte es bereits vermutet.