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Fallende Blätter
Die Blätter winken mir von außen zu. Sie winken noch beinahe gänzlich grün, wie die Frauen in alten Schwarz-weiß Filmen, die ihre Männer für die weite See verabschiedeten und dabei vertikal ihre Hände nach oben und unten hoben und neigten. Wieso winken in meiner Zeit plötzlich alle wie Scheibenwischer?
Ich blicke nach draußen und was ich sehe, sind kahle Baumkronen, die sich im Wind hin und her wiegen lassen, ein leidenschaftlicher und doch ruhiger Tanz. Und wie ich hier so sitze, und mich angesprochen fühle von diesem Grün-Gelb, habe ich den Eindruck, dass ich selbst überhaupt nicht gemeint sein kann.
Die noch grünen Blätter grüßen nicht, sie verabschieden, vielleicht trauern sie. Mit jedem neuen Stoß, mit jedem neuen Takt löst sich ein weiterer Stiel und segelt auf die kalte Erde, die Kraft hat ihn verlassen und er muss sich seinem Schicksal, begünstigt durch die Schwerkraft, ergeben. Muss es sich verabschieden, wenn doch alles um es herum Natur ist? Oder ist es plötzliches Heimkehren, nach einem Jahr voller Hitze, überleben und plötzlichem Erzittern. Ein Eins werden mit der, noch nicht ganz harten Erde, damit im Frühling wieder neues Leben wächst.
Der Mann, von dem hier gesprochen werden soll, hat vielleicht gar kein eindeutiges Geschlecht, ist vielleicht bloßer Beobachter. Trotzdem wird im Er gesprochen, weil es das einfacher macht.
Er ist alt und seine Enkel*innen, wüssten nicht wirklich, wieso sie ihn dem männlichen Geschlecht zuordnen würden. Er trank Schnaps und Bier, er rauchte in seinem jungen Erwachsensein, er hatte Muskeln, arbeitete seit jeher hart und beinah ohne Pause.
Im Nachhinein kann es nicht klar sein, was ihn dabei männlich machte. Man hatte ihn nie über Männlichkeit, oder Weiblichkeit sprechen hören, nie über Geschlechterrollen, er musste sich und seine Ansichten nie verteidigen, weil nie darüber gesprochen wurde. Er wurde als liebevoll anerkannt, er war es, und trotzdem stellte man sich nach seinem Tod die Frage, ob er nur so liebevoll sein konnte, weil alles um ihn herum arrangiert war.
Es gab diese Frau, die sich um Alles kümmerte, sich um das gemütliche Heim bemühte, zu dem er spät abends zurückkehrte, die die Kinder großzog, die ihn am Ende eines Tages freudig empfing, die alles um ihn herum formte, keine Ecke, an der er sich stoßen konnte. Woher hätte man wissen sollen, was er über das Patriarchat dachte, wenn man niemals mit ihm darüber redete, wenn im Generellen alles unausgesprochen schien und die Freuden des Lebens auch als solche fokussiert wurden.
Man ging Konflikten aus dem Weg, zumindest im nüchternen Zustand, man verstand sich. Man war einer Meinung, wenn das geteilte Blut sie nicht verriet und eine Auseinandersetzung provozierte.
Wenn man sich zurückversetzt, kann man sich an kein tiefes Gespräch erinnern und doch mussten es wohl Hunderte gewesen sein, aber erinnern kann man sich nicht. Er war ein Mann von Wärme gewesen, man kann sich an kein kaltes Wort erinnern, alles war so umarmend, kein Stoß führte in die Ferne.
Doch irgendetwas musste dort sein, eine Depression, eine Müdigkeit, die überfällt und sich an Orten festsetzt, zu denen man selbst keinen Zugang hat.
Er schritt auf warm duftenden Wiesen hin und nieder, das war seine Welt. Er verabschiedete sich von den Gezeiten in würdevollster Weise, weil er ihnen erlaubte, seinen Lebensalltag zu bestimmen. Er kümmerte sich um die Tiere im Stall, um die Beschaffung von Futter, Reparaturen auf dem Hof, Holzarbeiten in den Wäldern, türmte Schneehaufen für die Kinder und alles war bestimmt von den Monaten und nichts würde er daran ändern wollen.
Und wenn all diese Arbeiten an einem Tag ihr rasches Ende nahmen, saß er auf der selbst gezimmerten Hausbank und blinzelte in die Sonne, die mit den Berggipfeln um die Wette strahlte.
Und er sah das alles, er sah es gänzlich, was es war und was es für sein Leben bedeutete. Nichts wurde übersehen, weil er es im Grunde nicht im Detail sehen musste, er konnte spüren, wie präsent sie waren, alle Einzelheiten der Natur.
Er war dieser interessante Mensch, weil er ruhig und doch gesellig war und er war endlos klug, er sah Dinge, die man nicht lernen konnte zu sehen. Er hatte keine Absicht, sich zu profilieren, und doch weiß man nicht, ob er wusste, wie besonders er war.
Er kam mit so wenig in Berührung und trotzdem ist man sich sicher, man hätte alles an ihn heranführen können und er hätte all dem, was ihn einst so fremd war, eine ehrliche Chance für seine Liebenswürdigkeit gegeben.
So vergingen die Jahre, vergingen die Gezeiten, Monate vergingen, bis ihn der Moment heimsuchte, an dem alle Tage erloschen waren, die für diesen Moment herunterzählten. Sein Leben war zu einem raschen Ende gegangen und so sah er sich auf der Couch liegen, auf der man ihn für seine letzten Stunde bettete und erkannte, dass er immer nur hier war, er war niemals fortgegangen.
In seiner Seligkeit wusste er plötzlich nicht mehr, ob das gut war. Er hatte nie etwas anderes gekannt. War er langweilig gewesen? Vielleicht kannte er den Ausdruck Langweile nicht einmal, so gab es doch immer Arbeit. Welche Zeit hätte er sich nehmen sollen, um zu überlegen, was er im Leben verpasste? Das hätte ihm doch niemand gesagt, oder gezeigt, sie lebten doch alle das gleiche Leben.
Was war er für ein Mensch gewesen? Er nahm das Leben wie es kam und machte das ihm erdenklich Beste daraus.