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Falter im Herzen
Eduard steht am Fenster und blickt auf die ruhelose Bewegung der Großstadt tief unter ihm herab. Plötzlich taucht ein orange gescheckter Schmetterling dicht vor seinem Gesicht auf. Die Fensterscheibe ist so sauber geputzt, dass Eduard sie vergisst und nach dem Schmetterling zu greifen sucht. Erst die Kühle des Glases an seinen Fingerspitzen ruft ihm seine Trennung von dem schwerelosen Wesen in Erinnerung. „Ach“, denkt er, „wie konnte ich das vergessen?“
Hinter ihm berichtet der achtundzwanzigjährige Doktorand Peter G. (Jura? BWL? Eduard weiß es nicht mehr so genau) über das Verhältnis zu seiner Mutter.
„ … meinem Bruder habe ich das nicht gesagt, er sieht dass ja auch anders, als Ältester und so, aber manchmal möchte ich sie umbringen. Ich weiß, dass klingt jetzt total nach Psycho, aber es ist so. Es ist noch nicht mal Wut oder so was, sondern einfach die neutrale Feststellung, dass Frau Mama sterben muss. Wenn ich sie besuche und wieder nur zu hören kriege, was sie alles um meinetwillen aufgeben musste, ich sollte ja gar nicht mehr kommen, noch ein Kind und das so kurz bevor es nicht mehr ging … „
Eduard setzt sich wieder auf den Stuhl gegenüber seinem letzten Patienten für heute. „Vielleicht hätte ich doch die Couch nehmen sollen, dann viele es nicht so auf, wenn ich umhergehe.“ Aber das war dem ausgebildeten Tiefenpsychologen zu freudianisch.
„ … wenn ich ein Mädchen geworden wäre, dann ja, bitte. Vier Jungs waren mehr als genug und so musste ich dauernd Kleider tragen ... “
Eduard schaut auf seine Hände. „Viel zu breite Hände für einen Intellektuellen“, denkt er, „wo sind Vaters Hände geblieben?“ Doch seine Hände sind nicht sonderlich breit, sie sind sogar sehr regelmäßig geformt. Der Ringfinger länger als der Zeigefinger, den Ring trägt er am Mittelfinger. Am Handrücken eine Notiz, die ihn an die Einkäufe erinnert. „Ich muss mir einen Timer besorgen.“
„ … dabei darf ich ja so etwas gar nicht sagen, denn sie hat ja wirklich viel für mich aufgegeben, sie hat ja schon den Berufswiedereinstiegs-Kurs gemacht. Und als meine Brüder aufwuchsen, da gab es ja nichts, die hatten bestimmt nicht so viele Chancen wie ich, die mussten nach der Realschule gleich arbeiten gehen … “
Eduard denkt zurück: „Irgendwann saß ich doch auch mal auf einem solchen Sessel und mir wurde geholfen, was mach ich denn falsch? Wo ist all das denn hin? - Weg. Alles weg, genauso wie der Schmetterling.“
Auf einmal erfüllt ein Schluchzen den kleinen Raum. Der Patient Peter G. weint, das Gesicht in den Händen vergraben. Eduard versucht sich an dessen letzte Worte zu erinnern und spricht:
„Es ist gut, Peter. Etwas in dir verändert sich. Du wächst.“ Peter schnieft. Eduard geht zum Schreibtisch, holt Taschentücher heraus und gibt sie ihm. „Deine Mutter ist jetzt nicht hier. Jetzt geht es nur um dich. Wir sind hier, damit es dir besser geht.“
Peter fängt sich, putzt sich die Nase. Er blickt auf, sein Therapeut lächelt ihm zu, „Hey! Große Jungs, große Tränen, oder ?!“ Sie schmunzeln beide. „Da bist du also“, denkt Eduard und sagt: „Die Welt ist so unendlich groß, Peter, so schön und so viel größer als unser aller Probleme zusammen.“
Peter und Eduard gehen zusammen raus. An der Tür zur Praxis hängt ein Schild, auf dem neben Eduards Namen und seinem Titel der Spruch steht: „In jedem Gespräch steckt ein Schmetterling.“
Als sie das Gebäude verlassen, fragt Peter: „Kann ich sie in die Stadt mitnehmen, Doc?“ Eduard will eigentlich sagen, dass er kein Doktor ist, aber ihm fällt etwas Wichtigeres ein: „Ja, gerne. Meine Frau meinte, ich soll noch einkaufen.“ Sie steigen ein, Peter setzt sich die Sonnenbrille auf. „So ein Pantoffelheld“, denkt er, grinst und fährt los.