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Familie S.
Eine Busstation vor dem Dorf steht das windschiefe Bauernhaus von Familie S.
Vor fünfzig oder sechzig Jahren war Simaleng (so lautet der Hofname) ein kleiner Bauer wie viele andere. Dann kamen der Fremdenverkehr und das Geld und die Nachbarn renovierten ihre Höfe. Nur der von Familie S. blieb etwas schäbig - und das mitten im Tal, an der Straße, wo alle Autos vorüberfuhren!
Ich kannte den jüngsten Sohn. Er war dick und ungewaschen und er machte Ärger. Mit vierzehn verprügelte er einen Lehrer und kam für ein Jahr in die Besserungsanstalt. Eigentlich war er ein netter Kerl und witzig. Nur reizen durfte man ihn nicht. Wie sein Vater und seine großen Brüder wollte er Fernfahrer werden. Als Grundschüler trug er oft eine Trainingsjacke mit Ferrari-Aufdruck. Einmal zerbiss ihm ein Pony den Ärmel. Er trug die Jacke weiter. Jahrelang.
In der Mittagspause zeichnete er Zugmaschinen: solche, wie sie oft vor dem Hof standen. Ich sah ihm zu und fragte, was das sei. Gemüsekisten? Das machte ihn fuchsteufelwild, er wurde rot und schmiss mir Farbstifte nach. Schon als Sechsjähriger war er den Leuten aufgefallen. Bei der Schuluntersuchung schrie er: "Ich bin ja nicht deppat, und lass mich da untersuchen!"
Ich erzählte das oft. Es kam gut an, bei den Erwachsenen. In er ersten Klasse saß er neben mir. Manchmal spitzte er den Bleistift und stach mich.
Als Hauptschüler, in der dritten Klasse, verprügelte er dann, wie gesagt, den Turnlehrer. Herr Fachlehrer D. war ein hoch aufgeschossener Mann mit dunklen Locken, politisch für die Grünen tätig und als Pädagoge erschreckend unfähig: Er wollte Schüler motivieren, indem er sie heruntermachte. Besonders bei dicken Jungen tat er das gern. Einmal gingen wir langlaufen und er sagte zu dem jungen S., er sollte sich gefälligst mehr anstrengen. Da rastete er aus und schlug nach ihm! Das gönnerhafte Gerede zur Beschwichtigung machte ihn erst recht wild. Ein paar der Schläge trafen. Der Turnlehrer flüchtete außer Reichweite und immer wieder sagte er, die Hände schützend vor sich erhoben: "Markus, bitte! Hör jetzt auf!"
Wir anderen standen dabei und genossen es.
Nicht nur der Jüngste war so. Das sah man zum Beispiel im Sommer, wenn die Mitglieder der Familie S. aufs Feld gingen, um das Heu zu wenden. Alle waren dick und die ganze Zeit fluchten sie laut, sodass man sie weitum hören konnte. Der Mutter fiel der Rechen aus der Hand. Sie bückte sich, doch es gelang ihr nicht, ihn aufzuheben. So fett war sie. Diese Frau sah verhärmt aus. Sie ging oft in die Kirche. Andere Frauen saßen nicht gern in ihrer Nähe. Dieser Gestank! Es hieß, sie hätte Blasenprobleme. Inkontinenz. Bei einem Weihnachtsbazar aß ich einmal drei dick mit Butter bestrichene Kletzenbrote. Sie waren köstlich! Als mir jemand sagte, dass Frau S. sie gemacht hatte, kamen sie mir fast hoch.
Ihr Mann, der alte S., saß oft auf der Bank vor dem Haus. Ich sah ihn manchmal, wenn ich im Bus vorüberfuhr. Ein wenig verloren sah er aus. Ein dicker Mann mit Glatze. Im Dorf war er berühmt für seinen eigenartigen Humor. So bezeichnete er die Braunschweiger, die er kiloweise bei Herrn F. dem Metzger kaufte, als Sport-Diätwurst ("damit seine Leute sie leichter fressen"). Den Metzger nannte er Pinocchio. Eine treffende Bezeichnung für den drahtigen Mann, der sich hölzern bewegte. Auch für seinen jüngsten Sohn hatte er so einen Namen: Der hieß Entenarsch, weil er beim Gehen die Hüften überdrehte. Einmal pro Woche rief der alte S. den Metzger an und gab seine Bestellung durch. Etwa so: "Hallo Pinocchio! Leg mir ein Kilo Sport-Diätwurst auf die Seite. Der Entenarsch holt sie dann."
Meine Mutter erzählte einmal, dass sie ihn im Krankenhaus getroffen hatte. Er sagte zu ihr: "Du bist auch einmal eine flotte Biene gewesen." Aus Gründen, die ich nicht verstand, fand sie das witzig und charmant.
Jahre später, als der alte S. längst tot war, hörte ich eine andere Krankenhausgeschichte: Der uneheliche Sohn von Frau S., Gust hieß er, lag mit einem Freund des Lebensgefährten meiner Mutter namens Ernst im selben Zimmer im Krankenhaus. Er hat mehrere Freunde, die so heißen. Alles respektable und tüchtige Männer. Dieser Ernst hörte den jungen S. etwas am Telefon sagen, was ihn sehr aufbrachte: Der Anrufer fragte vermutlich, wer sonst noch auf dem Zimmer lag. Und Gust sagte: "Ein paar so Friedhoftiger sind halt da."
Der Grund, warum mir alle diese Anekdoten wieder in den Sinn kommen, ist eine Geschichte, die ich erst kürzlich gehört habe: Die Brüder S. bewirtschaften ihren Hof längst nicht mehr. Die Felder haben sie an Nachbarn verpachtet. Vor dem Haus steht immer noch manchmal eine Zugmaschine. Angeblich speichern sie jetzt Müll im Wirtschaftsgebäude, um das Geld für die Müllabfuhr zu sparen. Typisch...