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Familie S.

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12.02.2004
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Familie S.

Eine Busstation vor dem Dorf steht das windschiefe Bauernhaus von Familie S.
Vor fünfzig oder sechzig Jahren war Simaleng (so lautet der Hofname) ein kleiner Bauer wie viele andere. Dann kamen der Fremdenverkehr und das Geld und die Nachbarn renovierten ihre Höfe. Nur der von Familie S. blieb etwas schäbig - und das mitten im Tal, an der Straße, wo alle Autos vorüberfuhren!

Ich kannte den jüngsten Sohn. Er war dick und ungewaschen und er machte Ärger. Mit vierzehn verprügelte er einen Lehrer und kam für ein Jahr in die Besserungsanstalt. Eigentlich war er ein netter Kerl und witzig. Nur reizen durfte man ihn nicht. Wie sein Vater und seine großen Brüder wollte er Fernfahrer werden. Als Grundschüler trug er oft eine Trainingsjacke mit Ferrari-Aufdruck. Einmal zerbiss ihm ein Pony den Ärmel. Er trug die Jacke weiter. Jahrelang.

In der Mittagspause zeichnete er Zugmaschinen: solche, wie sie oft vor dem Hof standen. Ich sah ihm zu und fragte, was das sei. Gemüsekisten? Das machte ihn fuchsteufelwild, er wurde rot und schmiss mir Farbstifte nach. Schon als Sechsjähriger war er den Leuten aufgefallen. Bei der Schuluntersuchung schrie er: "Ich bin ja nicht deppat, und lass mich da untersuchen!"
Ich erzählte das oft. Es kam gut an, bei den Erwachsenen. In er ersten Klasse saß er neben mir. Manchmal spitzte er den Bleistift und stach mich.

Als Hauptschüler, in der dritten Klasse, verprügelte er dann, wie gesagt, den Turnlehrer. Herr Fachlehrer D. war ein hoch aufgeschossener Mann mit dunklen Locken, politisch für die Grünen tätig und als Pädagoge erschreckend unfähig: Er wollte Schüler motivieren, indem er sie heruntermachte. Besonders bei dicken Jungen tat er das gern. Einmal gingen wir langlaufen und er sagte zu dem jungen S., er sollte sich gefälligst mehr anstrengen. Da rastete er aus und schlug nach ihm! Das gönnerhafte Gerede zur Beschwichtigung machte ihn erst recht wild. Ein paar der Schläge trafen. Der Turnlehrer flüchtete außer Reichweite und immer wieder sagte er, die Hände schützend vor sich erhoben: "Markus, bitte! Hör jetzt auf!"

Wir anderen standen dabei und genossen es.

*​

Nicht nur der Jüngste war so. Das sah man zum Beispiel im Sommer, wenn die Mitglieder der Familie S. aufs Feld gingen, um das Heu zu wenden. Alle waren dick und die ganze Zeit fluchten sie laut, sodass man sie weitum hören konnte. Der Mutter fiel der Rechen aus der Hand. Sie bückte sich, doch es gelang ihr nicht, ihn aufzuheben. So fett war sie. Diese Frau sah verhärmt aus. Sie ging oft in die Kirche. Andere Frauen saßen nicht gern in ihrer Nähe. Dieser Gestank! Es hieß, sie hätte Blasenprobleme. Inkontinenz. Bei einem Weihnachtsbazar aß ich einmal drei dick mit Butter bestrichene Kletzenbrote. Sie waren köstlich! Als mir jemand sagte, dass Frau S. sie gemacht hatte, kamen sie mir fast hoch.

Ihr Mann, der alte S., saß oft auf der Bank vor dem Haus. Ich sah ihn manchmal, wenn ich im Bus vorüberfuhr. Ein wenig verloren sah er aus. Ein dicker Mann mit Glatze. Im Dorf war er berühmt für seinen eigenartigen Humor. So bezeichnete er die Braunschweiger, die er kiloweise bei Herrn F. dem Metzger kaufte, als Sport-Diätwurst ("damit seine Leute sie leichter fressen"). Den Metzger nannte er Pinocchio. Eine treffende Bezeichnung für den drahtigen Mann, der sich hölzern bewegte. Auch für seinen jüngsten Sohn hatte er so einen Namen: Der hieß Entenarsch, weil er beim Gehen die Hüften überdrehte. Einmal pro Woche rief der alte S. den Metzger an und gab seine Bestellung durch. Etwa so: "Hallo Pinocchio! Leg mir ein Kilo Sport-Diätwurst auf die Seite. Der Entenarsch holt sie dann."

Meine Mutter erzählte einmal, dass sie ihn im Krankenhaus getroffen hatte. Er sagte zu ihr: "Du bist auch einmal eine flotte Biene gewesen." Aus Gründen, die ich nicht verstand, fand sie das witzig und charmant.

Jahre später, als der alte S. längst tot war, hörte ich eine andere Krankenhausgeschichte: Der uneheliche Sohn von Frau S., Gust hieß er, lag mit einem Freund des Lebensgefährten meiner Mutter namens Ernst im selben Zimmer im Krankenhaus. Er hat mehrere Freunde, die so heißen. Alles respektable und tüchtige Männer. Dieser Ernst hörte den jungen S. etwas am Telefon sagen, was ihn sehr aufbrachte: Der Anrufer fragte vermutlich, wer sonst noch auf dem Zimmer lag. Und Gust sagte: "Ein paar so Friedhoftiger sind halt da."

*​

Der Grund, warum mir alle diese Anekdoten wieder in den Sinn kommen, ist eine Geschichte, die ich erst kürzlich gehört habe: Die Brüder S. bewirtschaften ihren Hof längst nicht mehr. Die Felder haben sie an Nachbarn verpachtet. Vor dem Haus steht immer noch manchmal eine Zugmaschine. Angeblich speichern sie jetzt Müll im Wirtschaftsgebäude, um das Geld für die Müllabfuhr zu sparen. Typisch...

 

Hey Berg,

das hat mir nach einem harten Arbeitstag die Laune versüßt. Eine Geschichte wie das Gespräch im Hausflur. Wussten Sie schon ... Die Familie S.
Diese Stammtisch, Dorftratschsache leitest du schon hiermit

und das mitten im Tal, an der Straße, wo alle Autos vorüberfuhren!
wunderbar ein.

Trotz des eigentlich schon ernsten Themas, denn natürlich steckt hinter all diesen schrägen Typen auch ein menschliches Wesen mit dem dazugehörigen Leben, war ich doch eigentlich mehr amüsiert. Das liegt wohl an dem für dich typischen trockenen Erzählton.

Hat mir gut gefallen, eine runde Sache und bestimmt nicht das, was ich heute Abend gedacht hatte hier vorzufinden.

Gruß
krilliam

 

Salve Berg,

normalerweise mag ich solche "Schwänke, die das Leben schrieb" nicht besonders. Meist werden im onkeligen Erzählton eines mediokren Dorfschullehrers Anektote wiederbelebt, die witzig sein sollen, und es nur sind, wenn man selbst dabei war, als es geschah.

Daher musste ich ernsthaft überlegen, woran es lag, dass mir Deine Geschcihte gefiel. Vielleicht, weil dein Erzählton ein anderer ist. Wahrscheinlich aber, weil die geschilderten Begebenheiten nicht für sich bemüht, und nur mit Pappkameraden gefüllt werden, damit sie nicht umfallen, sondern weil sie dazu dienen, die Personen zu charakterisieren.
Nachdem ich Deine Geschichte gelesen habe, sehe ich die Familie S. leibaftig vor mir, und noch schlimmer, umgeben von realen Beispielen dieses Typus.

Insofern setze ich mich zu Deinem Erzähler an den Stammtisch, ordere ein Pils und sage: "Bei den Xens aus Yingen war's ganz genauso, nur dass ..."

Dafür: :thumbsup:!

Pardus

 
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Hallo Berg!

Das sind schon ganz nette Eindrücke in deiner Geschichte. Wirklich viel anfangen konnte ich mit dem Text jedoch nicht. Dazu war mir alles zu entfernt, zu unlebendig.

Krill hats gefallen, darum mag ich auch nicht mehr dazu sagen - vielleicht einfach nicht mein Geschmack.

"Hallo Pinocchio! Leg mir ein Kilo Sport-Diätwurst auf die Seite. Der Entenarsch holt sie dann."

Das allerdings hat mir gefallen. :) Denn genau so ist es wirklich auf dem Land.

Schöne Grüße,

yours

 

Vielen Dank für Eure Anmerkungen! :)

@Master William: Es freut mich, dass Du diese Klatschgeschichten und den schmucklosen Erzählton genießen konntest! :)

@Pardüs: Ja, es gibt viele solche Menschen. Zum Beispiel: http://www.dieludolfs.de/

@yours: Sicher teilen viele andere Deine Einschätzung.

Beste Grüße,

Berg

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Berg!

Deine amüsante, bäuerliche Anekdote hab ich gern gelesen. Mir gefiel der einfache, lockere Plauderton, in dem sie rüberkam. Wie andere schon anmerkten, könnte sie ebensogut irgendwo beim Stammwirt erzählt werden. ;)
Ein paar Sachen sind mir aufgefallen. Pick dir raus, was du brauchen kannst.

Dann kamen der Fremdenverkehr und das Geld und die Nachbarn renovierten ihre Höfe.
Da würde ich nach dem Geld ein Komma setzen.

Mit vierzehn verprügelte er einen Lehrer und kam für ein Jahr in eine Besserungsanstalt. Eigentlich war er ein netter Kerl und witzig.
Besser wäre: in die Besserungsanstalt
Noch besser, bei den vielen "ein" wäre: für längere Zeit in die Besserungsanstalt.

Es hieß, sie hatte Blasenprobleme.
Da würde ich den Konjunktiv vorschlagen: sie hätte Blasenprobleme

Eine treffende Bezeichnung für den drahtigen Mann, der sich so hölzern bewegte. Auch für seinen jüngsten Sohn hatte er so einen Namen

Er hatte mehrere Freunde, die so heißen.
hießen.


Lieben Gruß, bis zum nächsten Stammtisch, hoffentlich,
Manuela :)

 

Hallo Berg,

hier greifen Stil und Story gut ineinander. Das passt. Trotz der knappen Erzählweise gelingt es dir, Menschen zum Leben zu erwecken, man sieht sie förmlich vor sich und meint fast, sie zu kennen, weil man doch selbst auch schon ähnliche Bekanntschaften machte. Und fast ist es so, als würde dein Stil so ein wenig die Tonart treffen, in der man selbst sich an solche Typen und kleinen Ereignisse erinnert, oder durch jemand anderen, der davon spricht, daran erinnert werden. Uff, das war jetzt etwas schachtelig, hoffentlich wird trotzdem klar, wie ich's meine.

Sehr schön, hat mir gefallen.

Rick

 

Hallo Manuela K.,

vielen Dank für die nette Art, Verbesserungen vorzuschlagen! ;)
Drei oder vier kleine Änderungen werden schon drin sein.


Hallo Rick,

ein Lob freut einen natürlich. :) Ich hatte gefürchtet, diese Anekdoten könnten etwas dünn sein, wollte aber nichts dazuerfinden oder sie zu sehr ausschmücken.

Liebe Grüße,

Berg

 

Yo Berch,

netter kleiner Happen. Mehr nicht, aber wahrscheinlich wolltest du auch nicht mehr erreichen.
Mir ging es ein bisschen so wie Pardus, eigentlich mag ich solche Schwänke auch nicht, aber hier wird das authentisch lebhaft rübergebracht. Ich hätte mir zwar ein runderes Ende gewünscht, aber wie gesagt, es hat auch so seinen Charme, hauptsächlich durch deine Erzählerstimme.

Einzig ungelenke Stelle:

dass diese Frau sie gemacht hatte, kamen sie mir fast hoch.
Diese Frau auf jeden Fall ersetzen. Vll Mama S od schlicht Frau S
gemacht klingt auch nicht einwandfrei
zubereitet?

grüßlichst
weltenläufer

 

Genauso war es gemeint, weltenläufer. :) Auf Deine Anregung hin habe ich "diese Frau" durch "Frau S." ersetzt.

lg Berg

 

Hallo Berg,
hat mir auch gut gefallen, vom simplen Titel über die Anekdoten, die ineinander übergehen wie die Schnäpse am Stammtisch. Du hättest alles noch ausschmücken können, hättest uns seitenlang die Geschichten ausbreiten können – allein die Lehrer-Anekdote hat mich zum Kichern gebracht. Aber Du hast Dich entschieden, es im oberflächlichen Tratsch-Stil abzureißen, das passt.
Herzlich
TeBeEm

 

Hi Berg,

die Story ist echt witzig geschrieben, das mit dem Lehrer triffts echt :-)
ich hab zwar den Sinn (gibts einen?) nicht ganz gerafft, aber es hat Spass gemacht, sie zu lesen.

Schönen Gruss

 

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