Familienfisten
Schreck lass nach, man wird ja so sensibilisiert, die ganze Gewalt, der Terror (auch: Krieg gegen den) die ganzen durchgeknallten Arbeitslosen. Also, was tun? Sich aufklären (geht das?), dem Volk auf’s Maul schauen, wie unsere Politiker das in schöner Wertschätzung für ihre Wähler ausdrücken? Wo? Im Fernsehen. Wir leben doch in einer Spaß- und Mediengesellschaft. Willst du wissen, was morgen passierst, schau es dir schon heute auf RTL II an, dem Sender für die ganze Familie. Also den Fernseher eingeschaltet, hurtig ein wenig hin und hergezappt und auf einmal gefriert mir vor Schreck der Daumen auf der Fernbedienung ein: „Familienfisten“ sagt eine mittelalte, in einen sportlichen lila-grünen, ihre Figur nicht auf das Vorteilhafteste betonenden, Trainingsanzug aus Ballonseide gewandte Frau. Nachdem ich mich von meinem ersten Schreck erholt, tief Luft geholt und den Blutdruck wieder annähernd auf normales Betriebsniveau gesenkt habe, versuche ich zu erkennen, um was es sich handelt. Anscheinend hat Arabella (warum überhaupt Arabella? War Annabella nicht exotisch genug?) Kiesbauer heute Gäste eingeladen zum nachmittags-kompatiblen Thema „Faust-Fick“ und die fröhlich-unförmige Frau im Trainingsanzug ist die zuständige Expertin. Als ich mich gerade frage ob sie wohl aktiv fistet oder gefistet wird, sagt die dicke Frau mit einem lustigen Lachen: „Ja sicherlich, (das „ch“ spricht sie „sch“ aus) Familien-Fisten, Fisten im Bekanntenkreis, öffentliches Fisten, überall eben.“ Mir wird kurzzeitig schwarz vor Augen, aber das strahlende Lächeln von Arabella holt mich in die harte Wirklichkeit zurück: „Ja toll und wo macht es am meisten Spaß?“ Das ist investigativer Nachmittags-Talk, wie ihn sich das Publikum wünscht. „Familien-Fisten“, schnauft die Dicke. Die Kamera macht einen kurzen Schwenk und man sieht einen kleinen schmächtigen Mann, auch er Im ballonseidenen Jogging-Anzug, der zustimmend nickt. Meine Gedanken spielen verrückt. Wenn die jetzt auch noch eine Tochter haben oder einen Sohn und eine Tochter und tatsächlich. "Ja Steffi und Thommi, ich sag einfach mal Thommi. Kommt rein!“ Die Show-Tür (Show-Tür meint eine Art Drehtür, mit silbern glänzenden Plastik-Applikationen, durch die die Gäste hereinkommen. Eine Show-Tür hat den unbestreitbaren Vorteil, dass die Gäste sie nicht herunterfallen können, wie es bei Show-Treppen das ein oder andere Mal passiert) dreht sich und da stehen sie. Steffi, ungefähr elf Jahre, in Schlaghosen und bauchfreien Top und Thomas (Thommi!), vielleicht 13, in Addidas-Trainigshose und einem XXXL-Shirt. Ich beginne an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Drogen? Ich nehme keine und Alkohol trinke ich zwar regelmäßig, aber niemals exzessiv. Was ist hier los, was ist passiert, denke ich, Grönemeyer im Sinn. Arabella strahlt mich an und sagt: „Da bin ich mal gespannt, wie ihr das macht, wollt ihr anfangen?“ Die dicke Frau nickt und quält sich aus ihrem Sitz; auch der schmächtige Mann erhebt sich, Herr hab‘ Gnade! Irgendwoher erklingt Musik, die Frau legt Thommi einen kurzen Arm um den Hals und beginnt zu... singen! Dann setzt der Rest ein. Als sie fertig sind (es war übrigens grauenhaft) sagt die dicke Frau unter Keuchen „Doch, Familien-Fisten macht mir am meisten Spaß.“ Oder? Nein, sie sagt: „Auf Familen-Festen macht’s mir am meisten Spaß“, das Singen mit ihrer Familie, meint sie.