- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Zuletzt bearbeitet:
Familientreffen
Williams stand in fetten Buchstaben auf der Klingel neben dem Postkasten an der Haustür. Der Postbote hatte heute keine Post gebracht, nur der Zeitungsjunge war bis jetzt da gewesen. Im Esszimmer saß die Familie um einen ovalen Buchenholztisch herum. Sechs Leute. Mike, Sandy, Andy, Max, Jack und William Williams. William Williams. Hatte sich das Mike oder Sandy ausgedacht?
Mike Williams ist Cop bei der Raddock City Police. Kein Familienmitglied hatte bis jetzt einen Fuß aus Raddock City heraus gesetzt. Alle umliegenden Städte waren scheinbar für jeden Bewohner unerreichbar. In der Mitte des Tischs lag die vom Boten gebrachte Zeitung:
Unerklärliche Todesfälle in Raddock City
Sandy sah Mike an, der inzwischen aufgestanden war und jedem am Tisch einen verheißungslosen Blick zuwarf. Erst seinen vier Söhnen, dann seiner Frau.
„Ein Monat“, sagte er schließlich und sein Blick ruhte auf Max, „ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Was habt ihr so angestellt in dieser Zeit?“
Sein Blick klebte immer noch an Max Williams, der plötzlich nicht mehr vollkommen still sitzen konnte. Sein Mund fühlte sich trocken an und seine Zunge klebte am Gaumen. „Na ja“, antwortete er, „ich habe das getan, was du mir geraten hast.“
„Stimmt“, entgegnete Mike, „mein Urgroßvater hat meinen Großvater so erzogen, mein Großvater hat meinen Vater so erzogen und mein Dad hat euren Dad so erzogen und ich bin dran euch so zu erziehen. Also, habt ihr meinen Rat befolgt?“ Mit hochgezogener Augenbraue musterte er noch einmal die ganze Runde. Diesmal blieb sein Blick an Andy haften. „Wie viele?“
„Zwei“, antwortete Andy mit rauer Stimme. Er hatte erkannt, dass sein Dad inzwischen älter geworden war und er sah krank aus, aber er wusste nicht, wie es um Mike stand. Er wollte nicht mutmaßen, aber was blieb ihm übrig? Mike sprach nicht oft über sein gesundheitliches Wohlbefinden.
„Nun“, sagte der Vater der vier Jugendlichen nachdenklich, „wer will ein Bier?“
Alle hoben die Hand, auch Sandy. Er verschwand kurz in der engen Küche und kam mit sechs Bier, in jeder Hand drei, zurück. Den Bieröffner hatte er in der rechten Hosentasche seiner Khakiuniform verstaut. Ab und zu war es vielleicht ein Privileg ein Polizist zu sein, aber meistens hasste er den Job. Er wäre lieber ein Drogendealer als das. Jedem öffnete er die Flasche und stellte sie vor die entsprechende Person.
„Zwei“, wiederholte Andy.
„Drei“, folgte Max’ Stimme.
„Fünf“, sagte William.
Jack sagte nichts.
„Hm-Hmm“, gab Mike von sich und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die er mit einem kurzen Poltern wieder auf dem Tisch abstellte. „Eure Mom hat zwei und ich einen diesen Monat.“
Stille herrschte in dem Raum, in dem hin und wieder jemand einen Schluck Bier trank. Die Zeitung lag leblos in der Mitte des ovalen Tischs. Die Vorhänge vor dem Fenster waren beige und der Teppich grau mit Flecken übersät. Waren davon nicht ein paar rostbraun? Tatsächlich.
„Andy“, sprudelte es plötzlich aus Mikes Mund heraus, „komm, lass hören! Wir sind alle wahnsinnig neugierig.“
„Na ja, ich bin jetzt sechzehn“, begann er zu erzählen. „Sechzehn Jahre, aber man könnte meinen ich wäre acht- oder neunzehn. Jedenfalls dachte das eine.“ Man konnte ihm die Unbehaglichkeit ansehen.
„Lass mich raten, sie hat dich angebaggert und versucht dich zu ficken, aber du hast sie abblitzen lassen?“, fragte Sandy neugierig und mit ein wenig Zorn in der Stimme. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seid alle eingetroffen waren.
„Nein. Ich habe sie nicht abblitzen lassen und sie hat mich auch nicht angebaggert, aber sie wollte mich ficken. Da hast du Recht, Mom. Ich ging den Edison Boulevard entlang und sah dort Dinge, die ich eigentlich nicht sehen wollte.“
„Was hattest du auf dem Edison Boulevard verloren?“, fragte Mike aufbrausend.
„Nix.“
„Glaub ich dir nicht!“
Andy war ins Kreuzverhör geraten. „Ehrlich, ich war nur zufällig dort.“
„Zufällig? Was hast du vorher gemacht?“
„Ich war was trinken.“
„Dann warst du also doch nicht zufällig dort.“
„Doch…mehr oder weniger. Kann ich bitte ausreden?“
„Ja, `tschuldigung, tut mir echt leid.“ Sarkasmus, der schlimmste, den Andy je hörte.
Der Edison Boulevard war die so genannte Pornostraße oder Pornoabteilung von Raddock City. „Ich war dort und plötzlich spricht mich so ein Weibsbild von einer Nutte an. Hast du ein paar Dollar kannst du mich haben“, äffte er sie nach, „aber ich sagte nein. Sie ließ aber nicht locker und blieb hartnäckig. Nur ein paar Piepen, ist echt ein Scheißabend heute, sorg doch dafür, dass er besser wird. Da dachte ich daran, dass du uns aufgetragen hattest, Männer zu werden. Na ja, es wäre mein erstes Mal gewesen. Das wisst ihr alle. Ich nahm ihr Angebot an und ging mit ihr. Ihr Zimmer war dunkel, aber Schwarzlicht war eingeschaltet, sodass meine Turnschuhe leuchteten. Echt cool, muss ich mir auch mal besorgen, so ein Ding. Sie fragte mich: kuscheln, Sex oder SM. SM, ich wusste nicht, was es bedeutet. Hörte sich lustig an, also wählte ich die dritte Möglichkeit die sie mir bot aus. Plötzlich kam sie mit Lederklamotten, Peitsche, Handschellen und so komischem Zeug. Sie wollte mich ans Bett fesseln, aber ich ließ es nicht zu. Stattdessen fesselte ich sie ans Bett, zog sie aus und tat, was ein Mann mindestens einmal in der Woche tun muss, und wenn er’s selbst macht. Schließlich nahm ich einen Schal, steckte ihr eine Socke in den Mund und erwürgte sie mit dem Duschschlauch, den ich herausgeschnitten hatte, nachdem sie endlich ruhig geworden war. Dann bin ich einfach gegangen. Einfach so rausspaziert. Niemand hielt mich auf, niemandem fiel etwas auf. Verrückte Welt. Aber wie sagst du immer, Dad? Das Leben ist das Heranschleichen einer Schlange und der Tod ihr giftiger, tödlicher Biss. Dein Sprichwort. Nur hatte sich in ihrem Fall die Schlange etwas schneller bewegt, sie war um die zwanzig Jahre alt.“ Andy senkte den Kopf ein wenig, schien nachzudenken und nahm dann einen Schluck Bier. Billigbier, es schmeckte scheußlich.
„Hattest du besondere Gefühle oder Empfindungen dabei?“, fragte Mike, wie ein Lehrer, der einen Schüler abfragt.
„Nein, ich meine, sie war mir nicht wichtig. Na gut, ich hatte sie kurz zuvor gebumst, aber sie war nur irgendeine Schlampe, deren Namen ich noch nicht einmal kannte. Sie hatte mir noch nicht einmal ihren verdammten Spitznamen gesagt. Schlampen bleiben am liebsten anonym und sie sterben anonym.“ Er machte eine kurze Pause. „Die zweite …"
„Was hast du noch mal mit ihr gemacht?“, fragte Jack plötzlich.
„Wieso? Du hast es doch gerade gehört.“
„Ich muss irgendwie geschlafen haben, komm bitte, tut mir echt leid, erzähl es noch mal für deinen Bruder“, sagte Jack.
„Ich hab sie erwürgt“, wiederholte Andy.
„Erwürgt.“ Jacks Stimme klang wie ein Echo. Jedes einzelne Körperteil an ihm fühlte sich seltsam an, so als hätte er einen fünf Kilometer Sprint hinter sich, nur das er nicht außer Atem war. „Warum erzählt ihr so viele Einzelheiten?“
„Weil es dazu gehört“, wies ihn Mike zurecht.
„Aber nicht so viele gottverdammte Einzelheiten!“
„Warum nicht, Jack?“, fragte Sandy liebevoll.
„Weil wir eine Familie sind und wir uns bei einem Treffen unsere Mordgeschichten erzählen, das ist doch krank!“
„Aber das habe ich euch aufgetragen“, erklärte Mike Williams.
Jack sah ihn mit einem zu einem Spalt geöffneten Mund an. „Aber es ist nicht richtig.“
„Ich habe euch aufgetragen so viele wie möglich zu töten. Andy hat sich zwei unter den Nagel gerissen, Max sind drei zum Opfer gefallen und William hat fünf! Wie viele hast du, Jack?“
Schweigend saß Mikes sechzehnjähriger Sohn auf dem Stuhl.
„Wie viele? Wir wollen es alle wissen!“, fragte Mike erneut, diesmal allerdings aufbrausender. „Komm schon! Wie viele? Wie viele? Ich hab dir einen Auftrag gegeben. Ich bin dein Vater. Also bin ich dein Gott! Stellst du etwa mein Urteilsvermögen in Frage? Oder vielleicht noch besser, auf die Probe? Wie viele?“
„Fünf“, antwortete Jack und grinste.
„Ich dachte es ist so schlimm, wenn wir uns hier unsere Mordgeschichten erzählen, wolltest wohl nur als erster dran kommen, oder? Komm, erzähl!“
Duell. Es war ein Wortduell zwischen Vater und Sohn. Keiner der beiden wollte aufgeben. Der Vater, ein mordender Cop, der seine Kinder dazu erzog, es ihm gleich zu tun, der Sohn, ein Schüler, der seinem Daddy widersprach.
„Also gut“, sagte Jack schließlich. „Ich erzähl euch die kleine Fünfer-Story, okay?“
Mike grinste, nickte und lehnte sich zurück. Er schob seinen Unterkiefer hin und her, hin und her.
„Wir spielten Poker“, begann Jack. „Sechs Leute waren wir und wir saßen an einem Tisch, so wie wir jetzt. Der einzige Unterschied waren die Karten auf dem Tisch. Ich hatte mir eine Waffe besorgt. Fragt jetzt ja nicht wie, ich musste dafür durch die Hölle gehen. Egal. Wir saßen da, ich war am Zug, sollte meine Karten auf den Tisch legen, was ich dann tat. Alle sahen mich an, als ich offenbarte, was sich auf meiner Hand befand. Eine Dame, ein König und vier Buben.“
„Hey, hey, hey!“, fiel William ihm ins Wort. „Wie soll das gehen?“
„Egal, es war einfach so“, erklärte Jack. „Jedenfalls legte ich die Karten auf den Tisch. Alle sahen mich an. Unglaube stand in ihren Augen geschrieben. Nein, noch mehr, Wut. Dann zog ich die Waffe aus meiner Hose, spannte den Hebel, erschoss den Mann, dann die drei anderen Typen und zum Schluss die Frau. Ich steckte die Kanone weg, niemand schien die Schüsse gehört zu haben. Ich ging. Niemand hielt mich auf.“
Alle am Tisch sahen Jack gespannt an. Mikes Blick sah so aus, als erwartete er, die Geschichte würde weitergehen, aber sie war zu Ende.
Jack stand auf, griff sich unter das T-Shirt das er trug, zog einen Revolver heraus und zielte auf seinen Vater.
„König“, sagte er und drückte ab. Ein lauter Knall dröhnte in seinen Ohren. Er hatte noch nie mit einer Waffe geschossen, hatte mit einem mächtigen Rückstoß gerechnet, aber es kam keiner. Dann zielte er auf seine Mutter. „Dame.“ Noch ein ohrenbetäubender, dumpfer Knall. Schließlich zielte er auf Andy. „Bube.“ Das laute Knallen hallte durch die gesamte Wohnung. „Bube.“ Er richtete die Waffe auf Max. Mit diesem ohrenbetäubenden Schuss spritzte Gehirnmasse an die Wand, Max kippte samt Stuhl nach hinten und landete mit einem Poltern auf dem Teppich mit rostbraunen Flecken. Jack wusste, woher sie stammten. Er drehte sich um zehn Grad und die Mündung deutete auf William. „Bube.“ Mit dem letzten betätigen des Abzugs, wurde auch die letzte Kugel verbraucht. Blut spritzte aus einer Wunde in Williams Kehlkopf. Volltreffer
Ein dünner Dampf strömte aus dem Lauf der Waffe. „Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt“, flüsterte er.
Die rostfarbenen Flecken auf dem Teppich waren sein Blut. Mike hatte ihn mit dem Griff seines Revolvers geschlagen, immer und immer wieder.
Warum?
Weil er nicht töten wollte, die Tradition es aber verlangte.
Jack steckte die Kanone wieder dahin zurück, wo sie herkam. Die Mündung war heiß und brannte ein wenig, aber er durfte sich nicht erwischen lassen, schließlich war sein Plan, dass niemand etwas bemerkte.
Dreckspack, dachte er, als er hinter sich die Tür schloss und auf die verregnete Straße hinausging. Raddock City war seine Heimat und Raddock City blieb seine Heimat.