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Familientreffen
Leicht zitternd – ob vor Wut oder Kälte – trete ich in das Schneetreiben. Der Schnee auf Straße und Gehsteig glitzert im Laternenlicht, wie gemahlenes Glas. Das dunkle Dorf erinnert mich an das Innere einer Schneekugel. Die kleinen Häuser drängen sich eng zusammen, so als würden sie ein Geheimnis teilen. Ich will dem Dorf zurufen: „Ihr müsst nicht mehr so geheimnisvoll tun, ich weiß es jetzt“ Während ich die verschneite Straße zum Friedhof entlang gehe, wünsche ich mir, sie hätten auch ihr Geheimnis für sich behalten und es mir nicht ins Gesicht gespieen. Ohne stehen zu bleiben schließe ich die Augen und lasse meine Erinnerungen noch einmal vor meinem inneren Auge auferstehen. Vorher schienen sie mir noch so nah, jetzt auf einmal sind sie furchtbar weit entfernt:
Mein Vater abends vor dem Fernseher. Er hat ein Weinglas in der Hand und Markus auf dem Schoß. Luise sitzt am Esstisch und macht ihre Hausaufgaben. Markus und ich haben sie um dieses Privileg immer beneidet. Wie herrlich kam es uns damals vor, in die Schule zu gehen! Ich sitze so eng an meinen Vater gedrückt wie möglich und habe meinen Blick auf den Bildschirm geheftet. In der Küche höre ich das Klappern des Abwaschs. Meine Mutter steckt den Kopf zur Tür hinein und sagt: „Max, es ist schon spät, die Kleinen sollten ins Bett.“
„Wir sind nicht klein!“, empören sich Markus und ich.
„Ach komm! Morgen ist Samstag.“, nimmt uns mein Vater in Schutz.
Ein breiter sandiger Wanderweg. Vor mir der hüpfende Hut meines Vaters, in meinen Ohren Luises Belehrungen über die Energieerhaltung. Obwohl weder Markus noch ich ein Wort verstehen, nicken wir andächtig und sagen „ja, ja“. Meine Mutter geht hinter uns dreien her und lacht. „Wie weit ist es noch?“, fragt Markus nach einer Weile
„Wir müssen genügend Lageenergie gewinnen.“, erklärt Luise.
„Nicht mehr so weit.“, sagt meine Mutter beschwichtigend.
„Mama, erzählst du eine Geschichte?“, frage ich schüchtern. Und wie sie es oft getan hat erzählt sie uns die Geschichte „Das Kalte Herz“.
Ich presse die Lippen fest zusammen. Die Erinnerungen, die mich für mich seit dem Tod meiner Eltern immer wie tröstende Ankerpunkte waren, gleichen jetzt eher den Scherben von etwas Zerbrochenen und sind schmerzhaft.
Viel deutlicher haften die Geschehnisse des heutigen Abends in meinem Gedächtnis. Das Geschehen, das ich erst vor ein paar Minuten verlassen habe. Ich seufze und versuche mich zu erinnern in welchem Moment sich der Abend in einen Albtraum verwandelt hat.
„Wann war eigentlich die letzte Taufe?“, fragt Emilie, die Schwester meines Vaters, in die Runde. Die anderen Gespräche am Tisch verstummen und alle Blicke richten sich auf Emilie. Die meisten zucken mit den Schultern.
„Das war Annikas“, sagt Brigitta. Obwohl Brigitta in die Familie eingeheiratet hat kennt sie sich mit den Daten besser als jeder andere von uns aus. Und ihr Tonfall suggeriert, dass Emilies Frage eine tödliche Beleidigung ist.
„Ja, stimmt, das war meine. Dann war ich eigentlich noch nie auf einer Taufe“, sage ich nachdenklich.
„Natürlich warst du auf einer Taufe: wie hätten wir dich taufen sollen, wenn du nicht da gewesen wärst?“ Ich sehe Brigitta an und suche in ihrem Gesicht ein Lächeln, wenigstens den Ansatz von Humor, aber ich suche erfolglos, sie meint es ernst. Ich lache trotzdem in die peinliche Stille hinein.
„Dann ist das ja schon neunzehn Jahre her!“, wirft Emilie verwundert ein.
„Achtzehn.“, korrigiert sie Brigitta vorwurfvoll.
„Wieso? Annika ist doch neunzehn?“
„Sie wurde aber erst getauft, als sie ein Jahr alt war!“
„Oh ja! Stimmt.“
„Wirklich schade, dass dein Vater bei deiner Taufe besoffen war.“, fügt Brigitta mit einem bösen Lächeln an mich gewandt hinzu. Die Stille, die sich jetzt über den Tisch legt, gleicht der in tausend Meter Meerestiefe, viel drückender kann es dort auch nicht sein.
„So was kann doch mal passieren!“, sage ich mit einem Lächeln. Ich habe inzwischen meine eigenen Erfahrungen mit Alkoholkonsum gesammelt und kann so einen Ausrutscher durchaus entschuldigen.
„Na, na pass nur auf, dass du nicht auch seinen Weg gehst.“, entgegnet Brigitta steif.
„Lasst es gut sein.“, bettelt meine Großmutter.
„Wie meinst du das?“, frage ich Brigitta mit erzwungener Ruhe, aber innerlich fühle ich mich so, als hätte ich ein Bienenvolk verschluckt.
Wie ein bleierner Vorhang senkt sich die Stille wieder über den Tisch. Selbst unsere Atemzüge sind leise, gedämpft.
„Brigitta, was wolltest du damit andeuten?“, frage ich.
„Nichts, es war nicht so gemeint.“, lenkt sie mit einem gezwungenen Lächeln ein. Mir fällt auf, dass sie meinem Blick ausweicht, sie weiß, dass sie zuviel gesagt hat und es tut ihr Leid.
„Oh Gott! Jetzt tun wir halt mal nicht so!“, sagt Emilie, ihre Stimme klingt aufgeregt und ich merke, dass sie erleichtert ist ein langes Schweigen brechen zu können und die Schuld dafür bei Brigitta zu finden. „Annika, dein Vater war ein Säufer. Was ist schon dabei! Man kann es ihm ja nicht verübeln, oder? Bei der Frau.“
Ich sehe wie Luisa die dunkelbraun geschminkten Lippen aufeinander presst und Markus seine Serviette umklammert, wie einen Rettungsring.
„Was soll das?“, will ich wissen. Ich kann ein leichtes Zittern nicht mehr aus meiner Stimme halten.
„Nichts!“, sagt Luise fest, bevor sonst irgendwer den Mund öffnen kann. „Nichts.“, murmelt auch Markus, allerdings scheinen seine Worte nicht mal ihn selbst zu überzeugen.
„Was soll das?“, wiederhole ich und sehe diesmal Emilie direkt in die Augen. „Hat meine Mutter ihn betrogen?“, bohre ich nach, als Emilie mir nicht antwortet. Auf einmal scheint sie nicht mehr den Mut haben weiter zu reden.
„Na wenn’s nur das gewesen wäre!“, sagt sie schließlich und obwohl sie sich um einen sachlichen Tonfall bemüht, schimmert doch Triumph hinter den Worten hervor.
„Emilie, jetzt ist aber Schluss.“, poltert mein Großvater los. In diesem Moment ist seine Stimme brüchig, aufgerieben nicht nur von den Jahren.
„Nein, lass. Ich will es wissen“, sage ich schwach.
„Also was ist?“, frage ich noch einmal und sehe nur Emilie an.
„Wenn deine Mutter ihren Mann wenigstens nur mit einem Mann betrogen hätte!“, sagt sie schließlich. Abscheu und Verachtung liegt schwer auf ihrer Stimme, kaum verdeckt von schüchterner Unsicherheit. Niemand scheint entsetzt oder verwundert, außer mir.
„Es reicht!“, sagt Markus noch einmal bestimmt und ich weiß, dass er mich schützen will, wie er es oft getan hat. Aber es ist schon zu spät.
„Warum? Soll sie es doch wissen. Dass Max ein Säufer war, das wird hier gerne erzählt. Und was ist schon dabei? Kein Wunder ist es! Aber was sie war, dass wird verschwiegen. Eine dreckige Hure. Aber scheiden lassen wollte sie sich nicht. Wegen der Kinder, hat sie gesagt, wegen dem Geld, sage ich. Feige ist das…“
„Ihr Mann hat sie am Ende im Vollrausch in den Graben gefahren! Du kannst nicht sagen, dass sie das verdient hat.“, fällt Brigitta Emilie ins Wort.
„So? Du kannst sie also verstehen! Ich sehe schon: Meine beiden Brüder haben Fehler mit ihrer „Partnerwahl“ gemacht. Der eine Gabrielle, der andere dich. Und schau dir an was dabei rauskommt.“
Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf. Ich spüre die Blicke meiner Verwandten auf mir, aber ich drehe mich nicht um. Leise schließe ich die Tür zu dem Nebenraum und durchquere die volle Wirtsstube. „Annika, wohin?“, ruft mir eine Bedienung zu. Ich weiß noch wie sie mir auf der Beerdigung meiner Eltern gezeigt hat, wie man Papierschiffe faltet. Ich gehe an ihr vorbei und stoße die Tür nach draußen auf.
Als ich endlich vor dem niedrigen Friedhofstor stehe, lege ich meine Hand auf das kalte Metall. Es gibt meinem Druck nicht nach. Ich schaue auf die Uhr, es ist nach zehn und der Friedhof schon abgesperrt. Ohne zu zögern schwinge ich mich auf das niedrige Tor und bleibe einen Moment so sitzen, hin und her gerissen zwischen meinen Erinnerungen und dem eben Gesagtem. Bevor ich auf die andere Seite springe, werfe ich noch einen kurzen Blick auf das Dorf im Laternenlicht. Das Dorf, in dem ich mein Leben verbracht habe, in dem meine Eltern gelebt haben, in dem mein Vater gesoffen hat, und meine Mutter ihn betrogen hat. Hinter der Friedhofsmauer wird der Lärm der Umgehungsstraße zu einem belanglosen Rauschen. Hier tritt die Gegenwart zurück und es zählt nur noch die Vergangenheit. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen und spiegelt den zögerlichen Rhythmus meiner Schritte wider, als ich den Weg entlang gehe. Der Wind heult in den Baumwipfeln und wirbelt die Schneeflocken durch die Dunkelheit. Nur das orangefarbene Licht der Laternen an der anderen Seite der Friedhofsmauer schimmert durch die Bäume. Es ist so kalt, dass ich das Gefühl habe, die Tränen gefrieren auf meinem Gesicht. Endlich stehe ich vor dem Grabstein meiner Eltern. Das Gesteck, das ich zu Allerheiligen hingelegt habe, ist eingeschneit. Im Licht der flackernden Kerze auf dem Nachbargrab schimmert nur noch wenig Rot durch den dünnen Schnee. Im matten Licht lese ich die altbekannten Worte auf dem Stein:
Hier ruhen in Frieden Gabrielle und Max Neuhof
Mit klammen Fingern suche ich meinen Geldbeutel in der Handtasche. Zitternd ziehe ich das verknickte und abgestoßene Sterbebild meiner Eltern hinter meinem Personalausweis hervor. Sie lächeln mir von der Fotografie entgegen, er hat einen Arm um sie gelegt und sie hat den Kopf an seine Schulter gelehnt. Daneben stehen die wenigen, vertrauten Worte, die meine Großmutter gewählt hat:
In unserer Erinnerung werden sie immer weiterleben.
Nein, das werden sie nicht, soviel ist mir heute Abend klar geworden. Eine Weile noch verweile ich an dem Grab. Wie viel Zeit zerrinnt, während ich da stehe und auf den Grabstein starre, weiß ich nicht. Schließlich drehe ich mich um und gehe. Nach ein paar Schritten wende ich mich noch einmal um. Das flackernde Licht am Nachbargrab ist inzwischen erloschen und die Gräber liegen im Dunkeln.
Und auch wenn ich sonst nichts weiß – nicht was ich tun oder denken soll – eines weiß ich: ich werde wiederkommen.