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Fanidia
Mitten auf einer von Wäldern durchzogenen Ebene trafen die zwei ungleichen Heere aufeinander. Eine gespenstische Stille breitete sich im ganzen Land aus, als ob alle Lebewesen vor Spannung den Atem anhalten würden. Doch die Spannung währte nicht lange, schon gellte ein Kampfschrei durch das Land und die beiden Streitmächte rannten los, verkeilten sich ineinander und die sinnlose Schlacht begann.
Levi wendete die Laufechse und ritt zurück; der Anblick war einfach zu schrecklich. Von der Anhöhe aus, auf der er mit seinem Tier gestanden hatte, konnte er zwar keine Einzelheiten erkennen, doch reichte ihm schon das, was er gesehen hatte. Noch vor einem Jahr hatte er nicht einmal gewusst, was Krieg war, und nun musste er miterleben, wie Menschen, die er liebte und die er seit frühester Kindheit kannte, versuchten, sich gegenseitig umzubringen. Darunter auch sein Vater und zwei seiner Brüder. Nicht nur das schmerzte ihn; es war das Land, Fanidia. Irgendetwas wurde daran zerstört. Er konnte nicht genau sagen was, aber irgendetwas hatte sich daran verändert, es strahlte nicht mehr das Zufriedene und die Sicherheit von früher aus. Ein vertrautes Gesicht riss ihn aus seinen Gedanken. Sena kam ihm entgegen, wie immer mit ihrem zerzausten, roten Haar, in dem eine Blume steckte - dieses Mal war es eine gelbe. Doch ihr ansonsten so verschmitztes Lächeln fehlte und hatte einem Ausdruck von Unsicherheit und Furcht Platz gemacht. Levi brauchte nichts zu sagen, sie hatte es schon gespürt und konnte es auch von seinem Gesicht ablesen: Es hatte begonnen.
Gemeinsam ritten sie auf der Laufechse ins Dorf. Levi tätschelte Chitonas Hals und kraulte ihn zwischen den Schuppen. Dies mochte er besonders gern und quittierte es auch wie sonst mit einem wohligen Grummeln. Seit Levi denken konnte, gehörte die Echse zu seinem Leben und über die Jahre hinweg waren sie zu einem unzertrennbaren Team zusammengewachsen. Als später Sena dazukam, entwickelten sich kleinere Machtkämpfe um ihre Gunst, die aber nur spielerisch gemeint waren und von allen drei genossen wurden.
Doch an diese Spiele war jetzt nicht zu denken, dafür war die Lage zu ernst und zu gespannt. Schon kurz nachdem sie das Festungstor passiert hatten, kamen Frauen und Kinder aus den Häusern angerannt und wollten wissen, wie es ihren Männern oder Brüdern ginge. Levi konnte nur traurig den Kopf schütteln; solange er es nicht aussprach, hatte es noch etwas Unwahrscheinliches für ihn und er wollte es einfach noch nicht richtig wahrhaben. Den Leuten reichte dieses Kopfschütteln aber schon. Sie verstanden und viele fielen sich schluchzend in die Arme oder starrten wie versteinert ins Leere. Levi und Sena wären gerne geblieben und hätten sie getröstet oder gute Worte zugesprochen, aber sie hatten eine wichtigere Aufgabe.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Gruppe und ritten dann schnell, damit sie nicht noch länger aufgehalten wurden, zur Mitte des Dorfes hin. Sie kamen sehr rasch vorwärts, das Dorf war ohne die Männer, die sonst mit ihren Fuhrwerken durch die Gassen zogen oder lautstark ihre Ware anboten, fast wie ausgestorben. Auch die vielen kleinen Kinder, die man sonst immer über die Strasse rennen oder lachen hörte, sah man nur noch mit grossen, angsterfüllten Augen am Fenster stehen.
Im Zentrum angekommen, erschien ein imposantes Schloss vor ihnen, dessen Anblick in Levi sonst, auch wenn er es fast jeden Tag sah, doch immer wieder tiefe Ehrfurcht auslöste. Im Gegensatz zu den eher einfachen und zweckdienlichen Holz- oder Lehmhäusern im Dorf bestand das Gebäude vor ihnen aus reinem Glas. Aber kein normales Glas. Man hatte das Gefühl, dass man die Häuser dahinter sehen konnte, doch erkannte man nichts aus dem Innern des Gebäudes. Ausserdem ging vom ganzen Schloss ein seltsames Strahlen aus, das die Scheiben undurchsichtig erscheinen liess. Obwohl das Bauwerk die übrigen Häuser um ein vielfaches überragte, war es von weitem schlicht unsichtbar.
Doch heute hatte auch das Schloss etwas von seinem Glanz eingebüsst. Levi lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die Geborgenheit, die sonst immer von diesem Ort ausging, war entwichen und eine Kälte war zurückgeblieben. Sena schmiegte sich zitternd an Levi. „Spürst du das auch?“ Erschrocken zuckte Levi zusammen. Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert, das Menschliche darin war verschwunden. Sena schien es selbst gemerkt zu haben, denn sie starrte Levi aus weit aufgerissenen Augen an. „Was geschieht hier?“, flüsterte er. Sie zuckte nur mit den Schultern, zu ängstlich, ihre Stimme nochmals zu hören. Selbst Chitona fühlte sich nicht mehr wohl unter seinen Schuppen. Er tänzelte nervös auf der Stelle und schlug immer wieder aufgeregt mit seinem Schwanz, so dass sich die zwei Jugendlichen nur noch mit aller Mühe auf seinem Rücken halten konnten. Levi gab seiner Echse die Zügel frei, die er bis anhin vor Schreck über das erdrückende Gefühl, das sie auf dem Platz empfing, festgehalten hatte. Erleichtert rannte die Laufechse los und direkt auf das Schloss zu. Kurz bevor sie in die Scheibe zu prallen drohten, tat sich eine Öffnung vor ihnen auf, die sich nach ihrem Hindurchreiten gleich wieder schloss und nicht mehr sichtbar war. Für einen Aussenstehenden sicherlich ein merkwürdiges Gefühl, doch die Drei hatten es schon so oft erlebt und schenkten ihm keine Beachtung.
Kaum waren Sena und Levi von Chitona herunter gesprungen, liessen sie ihn stehen und rannten die ebenfalls gläserne Treppe hinauf, die sich in asymmetrischen Windungen durch das Schloss schlängelte. Sie war zwar sehr steil, doch kostete es keine Anstrengung, sie zu erklimmen. Eine weitere Besonderheit dieses Schlosses.
Sie mussten bis ganz nach oben. Doch kurz vor ihrem Ziel blieb Levi abrupt stehen und starrte durch die Scheiben nach draussen. Sena folgte seinem Blick und erschrak ebenso wie er. Der Himmel hatte sich verdüstert. Graue und schwere Wolken hatten sich zusammengeballt, doch das war nicht das Schreckliche. Es schien, als ob sich der Himmel selber verdunkelt hatte, das Blau, das zwischen den Wolken durchscheinen sollte, war einem alles in sich aufsaugenden Grau-Schwarz gewichen. Und doch war es nicht dunkel, ein unnatürlich dumpfes Licht erhellte die Ebene und gab ihr eine gespenstische, fast leblose Erscheinung. „Es ist schrecklich, Kinder, ich weiss.“ Sena stiess vor Schreck einen spitzen Schrei aus, doch Levi hatte seine Anwesenheit schon gespürt. „Was geschieht hier, Grossvater? Wie konnte es so weit kommen?“ Der trotz seines hohen Alters sonst sehr eindrucksvolle Mann, mit seiner grossen Statur, dem vollen weissen Haar und den ebenso hellen Augen, stand nun gebückt vor ihnen und schien im nächsten Augenblick zusammenzubrechen. Die Augen schienen nicht mehr mächtig und gütig, sondern nur noch unendlich müde. „Kommt hinauf in mein Zimmer, ich werde versuchen, es euch zu erklären.“ Sogar die Treppe schien dem Herrscher Lendor Anstrengung zu bereiten. Im Zimmer angekommen liess er sich erschöpft auf den einzigen Stuhl im ganzen Raum fallen. Levi liess seinen Blick durch das Turmzimmer schweifen; wenigstens hier drin hatte sich nichts verändert. Ausser dem Stuhl gab es an Möbeln nur noch das grosse, einladende Bett und der wuchtige Schreibtisch mit Unmengen an aufgerollten Pergamenten. Sie setzten sich auf die Bettkante und schauten den alten Herrscher erwartungsvoll gespannt an. Mit einer zittrigen Stimme, in der nichts mehr von ihrer einstigen Kraft und ihrem Hall übrig geblieben war, begann er, den Jugendlichen die ganze Geschichte zu erzählen. „Wie ihr ja beide wisst, ist Fanidia kein gewöhnliches Land. Vor vielen hundert Jahren herrschte hier ein mächtiger doch gutherziger Zauberer mit dem Namen Herwar über das Reich. Sein Volk liebte ihn über alles und diese Liebe ermöglichte es ihm, auch nach seinem Tod weiter zu existieren. In der Erde, in den Pflanzen, in den Tieren und auch in den Menschen. Er gab somit zurück, was er über all die Jahre erhalten durfte. Er schenkte den Menschen Geborgenheit, die Gabe zu lieben und Vertrauen zu empfinden. Und das wichtigste, das er ihnen schenkte, war die Fantasie. Ohne die Fantasie konnte die Magie nicht bestehen; die ganze Macht baute allein auf ihr auf.
Doch die Menschen konnten dieses Geschenk nicht lange wahren. Da sie nichts dafür taten, nahm die Fantasie mit Zunahme des Lebensalters ab, bis sie schliesslich ganz versiegte. Sie begannen, einander zu misstrauen, behandelten Tiere und Pflanzen schlecht. Einzig den Kindern blieb die Fantasie erhalten, doch auch sie konnten es nicht verhindern.“ Der Herrscher war an die Glasscheibe herangetreten und betrachtete sein Land. „Was konnten sie nicht verhindern, Herr Lendor?“ fragte Sena. Sie und Levi waren ebenfalls aufgestanden und traten neben dem alten Mann ans Fenster. Er erzählte leise, doch schon sicherer, weiter. Die Kinder gaben ihm Kraft. „Vor ein paar Wochen gelang es einem fremder Herrscher, in unser Land einzudringen. Wo er hinkam, gab es Streit und Unzufriedenheit. Dadurch, dass den Menschen die Fantasie verloren ging, entstand in ihrem Herzen eine Lücke, die der Fremde mit Hass und Wut ausfüllte. Dies führte, wie wir heute mit ansehen mussten, bis zum sinnlosen Krieg. Der Herrscher brachte unsere Männer und Jungen dazu, gegen sein Heer anzutreten, doch können sie dabei nur verlieren. Je mehr Hass zwischen den Menschen versprüht wird, desto mächtiger wird der Fremde!“ „Konntest du denn nichts dagegen unternehmen, Grossvater?“ Levi starrte fassungslos in das mit Runzeln und Falten durchzogene Gesicht. „Leider nein“, Lendor legte die Arme um die zwei Kinder, „wie ja schon gesagt, kann ich ohne die Fantasie in den Menschen nichts ausrichten. Wenn man nicht an mich glaubt, bin ich machtlos. Doch nicht nur meine Kraft leidet darunter, auch die der Natur, der Tiere und die des ganzen Reiches. Die Magie erlischt langsam; das üppige Grün der Wälder und Wiesen wird einer kahlen Einöde Platz machen. Dort hinten hat es schon begonnen.“ Er zeigte mit der Hand auf eine weit entfernte Stelle der Ebene. Und wirklich, Levi wollte seinen Augen nicht trauen, anstatt wie gewöhnlich Bäume waren nur noch Geröll und Lehm zu erkennen. „Es ist wirklich traurig“, fuhr der alte Mann fort, „Fanidia wird zu Grunde gehen; langsam doch unaufhaltsam. Zuerst wird die Natur ihre Magie verlieren und absterben und den Tieren wird das…“ „Den Tieren?“ Sena sah erschrocken zu Levi hinüber. Dieser begriff genau so schnell: „Chitona!“ Ohne den Herrscher ausreden zu lassen, stürmten die beiden die vielen Treppen hinunter. Sie rannten so schnell sie konnten, doch kam ihnen der Abstieg endlos vor. Sie erreichten schliesslich doch die Eingangshalle und eilten sofort auf das am Boden liegende Tier zu. „Chitona, Chitona, du darfst nicht sterben!“, schluchzte Levi und schlang seine Arme fest um den massigen Kopf des Tieres. Sena kniete sich vor die Echse hin und streichelte ihm sanft über die Stirn. Chitona hob kraftlos den Kopf und versuchte zu grummeln, woraus aber nur ein heiseres Krächzen wurde. Die zwei Jugendlichen blickten sich stumm in die Augen und wussten, dass sie das Gleiche dachten: Sie mussten etwas unternehmen.
Gemeinsam traten sie aus dem Schloss heraus. Die Wolken hatten sich weiter verdichtet, vereinzelt zuckten schon gleissende Blitze am Himmel. Die Zeit wurde langsam knapp.
Sie gingen durch die vielen Gassen und Strassen Richtung Festungstor und riefen überall die Menschen auf, ihnen zu folgen. Diese waren zuerst etwas skeptisch, doch mit der Zeit folgte ihnen doch eine recht grosse Schar, die sich immer wieder aufteilte, um noch mehr Menschen davon zu unterrichten. Beim Tor angekommen, hatte sich eine Gruppe aus zwei- bis dreihundert Personen gebildet, die jetzt alle neugierig zu Levi und Sena blickten. Die Zwei kletterten auf einen kleinen Felsblock, der neben dem Weg stand, und verschafften sich dadurch leicht Gehör. Dann erzählten sie zusammen die Geschichte nach, die sie eben von Levis Grossvater gehört hatten. Am Anfang hörten alle gebannt zu, doch sobald die Rede auf die Fantasie kam, schüttelten viele der Erwachsenen den Kopf und die meisten gingen mit gemurmelten Worten wie „Kinderkram“ wieder zurück zu ihrem Haus. Auch die Kinder waren ein wenig unschlüssig nach dieser Reaktion der Erwachsenen. Plötzlich zeigte Sena mit dem Arm zur Dorfmitte und rief entsetzt: „ Seht doch, das Schloss…“ Weiter kam sie nicht, ihre Stimme ging im allgemeinen Tumult der Kinder und der vereinzelten Erwachsenen unter. Der Anblick löste in allen grosse Furcht aus und liess sie den Ernst der Lage realisieren. Das Schloss hatte sich verändert. Sonst von ihrem Standort nicht sichtbar, zeichnete es sich jetzt klar gegen den düsteren Himmel ab. Das Glas war verschwunden und an seine Stelle nackter Fels und Lehm getreten. Nun war die Gruppe überzeugt und bestürmte Levi und Sena von allen Seiten um herauszufinden, wie sie helfen konnten, oder was sie dagegen tun sollten. Was genau zu tun war, wusste Levi selber nicht, doch hatte er das Gefühl, dass so viele Personen wie möglich daran beteiligt sein sollten. Darum teilte er die Kinder in kleine Gruppen auf und schickte sie in die verschiedenen Dörfer um noch andere Kinder dazuzuholen. „Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier. Und beeilt euch, die Zeit drängt!“ Wie Recht er damit hatte, sah er, als er aus dem Tor heraustrat. Die Grenze zwischen dem noch saftigen Grün und der Geröllhalde war merklich näher gerückt. War sie vorhin im Schloss noch weit weg am Horizont, so schien sie jetzt fast schon greifbar. Auf dem Weg zum Dorf, auf den er sich mit Sena und ein paar Kindern gemacht hatte, kamen sie immer wieder an verendenden Tieren oder Pflanzen vorbei. Der Anblick war schrecklich, doch spornte er sie auch zur Schnelligkeit an. Früher als erwartet, kamen sie im Nachbarsdorf an, wo ihnen die Kinder schon entgegen kamen. Die Veränderungen waren hier schon weiter fortgeschritten und scheuchten die Menschen aus den Häusern. Es blitzte nun unaufhörlich und das unnatürliche Licht verblasste zusehends. Die Zeit rann ihnen durch die Finger, doch liefen sie schon an ihrem Limit. Die Verzweiflung gab ihnen aber nochmals Kraft und erschöpft kamen sie vor dem Festungstor an. Einige Gruppen erwarteten sie bereits ungeduldig, andere kamen auch gerade angerannt. Schätzungsweise fanden sich hier um die zweitausend Kinder und auch Erwachsene ein um Fanidia zu retten. Levi gönnte ihnen keine Verschnaufpause. Er drängte sie weiter zum Hügel, auf dem er am Morgen schon mit Chitona den Beginn der Schlacht mitverfolgt hatte. Der Weg war nicht sehr weit, doch die Angst vor dem, was sie erwarten würde, liess ihn kilometerlang und unbegehbar erscheinen. Mit einer Kraft, die sich niemand zugetraut hatte, kämpften sie sich vorwärts und erstaunlich schnell sahen sie die Anhöhe vor sich. Auf dem Hügel angekommen verstummte jegliches Gespräch. Alle blickten hinunter auf die Ebene, auf der immer noch die Schlacht tobte. Viele Körper lagen bewegungslos am Boden doch schien noch lange kein Ende in Sicht. Entsetzt verfolgten sie auch das unaufhaltsame Näherkommen der Grenze zwischen Natur und Einöde, über dessen gewaltiges Ausmass sie sich jetzt erst bewusst wurden. Fast die Hälfte der Ebene war verschwunden, so weit sie sehen konnten, waren überall nur noch Steine und Schlamm. Levi konnte sich nur schwer vom Anblick der heranrollenden Grenze losreissen. Dieses Zerstörerische übte eine starke Anziehung und Faszination auf ihn aus und er wollte es einfach nur noch anschauen. Doch dann geisterte plötzlich der sterbende Chitona durch sein inneres Auge und Levi fand wieder zurück zur Wirklichkeit und dem Grund, warum sie alle hier waren. „Bewohner von Fanidia“, rief er, „das, was wir hier sehen, ist schrecklich, doch noch ist nicht alles verloren. Es gibt eine Hoffnung und die steckt in uns, in uns allen. Vor hunderten von Jahren wurde uns eine Kraft geschenkt. Eine Kraft, die alleine in einer einzelnen Person nicht viel ausrichten wird, aber in allen zusammen zu einer gewaltigen Macht heranwachsen kann. Gemeinsam können wir etwas verändern und den Untergang von Fanidia verhindern, wenn wir nur daran glauben. Die Fantasie war schon immer in uns, wir konnten bloss ihre Kraft nicht erkennen. Lasst uns jetzt alle an den Händen halten und stellen wir uns gemeinsam, mit Hilfe unserer Fantasie, vor, wie Fanidia wieder aussehen soll, ohne Hass, ohne Zerstörung!“
Zuerst geschah nichts. Weiterhin war der Lärm der Schlacht zu hören, die Grenze kam beständig näher und ein Blitz folgte auf den nächsten. Doch dann geschah das Unglaubliche. Die Wolken lichteten sich und einem einzelnen Sonnenstrahl gelang es, durch die Wolkendecke zu stossen; er schien mitten auf die Gruppe hinunter. Der Kampf unten in der Ebene stoppte und die Krieger schauten teils ehrfurchtsvoll, teils erschrocken oder ängstlich zu ihnen hoch. Die Gruppe bewegte sich langsam vom Hügel hinunter auf den Kriegsplatz zu, wobei sie der Sonnenstrahl immer begleitete und sich laufend weitere dazu gesellten. Mit jedem Schritt, den sie weiter in Richtung Ebene machten, zog sich die Grenze weiter zurück und die Pflanzen und Bäume wuchsen von neuem. Der Himmel hellte sich auch zusehends auf. Immer mutiger schritt die Gruppe aus, doch plötzlich tauchte von der Einöde her ein ganz in schwarz gekleideter Reiter auf einem Furcht einflössenden Drachen auf: der fremde Herrscher. Er landete auf der anderen Seite des Schlachtfeldes, so dass er die Krieger zwischen sich und der Gruppe hatte. Einige Kinder erschraken sehr und strauchelten, wodurch die Macht auseinander zu fallen drohte. Der schwarze Reiter nutzte diese kurze Schwäche und gab seinem Heer den Befehl, die Kinder anzugreifen. Einige aus der Gruppe wichen ängstlich zurück, als das schwarze Heer auf sie zukam, aber Sena sprach ihnen Mut zu: „Fürchtet euch nicht, ihre einzige Waffe ist der Hass und mit dem können sie bei uns nichts erreichen. Unsere Macht ist stärker, gebt nicht auf!“
Einige Wochen später ritten Levi und Sena auf Chitona durch die Wälder. Nichts erinnerte mehr an das schreckliche Erlebnis, an das Geröll und die Einöden. Das Land war wieder traumhaft schön wie eh und je. Den Bewohnern von Fanidia wird es jedoch für immer in Erinnerung bleiben. Niemals hätten sie sich träumen lassen, dass es möglich wäre, ein ganzes Heer samt Herrscher allein durch gemeinsame Gedankenkraft verschwinden zu lassen.
Als sie zurück ins Dorf ritten, wanderte ihr Blick wie zufällig dorthin, wo sie das Turmzimmer des Schlosses vermuteten. Glücklicherweise war da nur der strahlendblaue Himmel sichtbar, doch trotzdem winkten sie kurz hinauf, da, wie sie richtig vermutet hatten, Lendor am Fenster stand und stolz auf seine zwei kleinen Helden herunterblickte. Er winkte zurück und lächelte. Die Fantasie hatte wieder einmal gesiegt.