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Farbentaucher
üerarbeitet (2005-03-06)
Dünn und farblos verlief das feine Geäst innerhalb der kugelgleichen Form. Jede Verstrebung wand sich kunstvoll durch ihr Inneres und teilte sich immer wieder in weitere, gezackte Arme, die nach allen Seiten griffen. Die Struktur begann zu flackern und ihre Farbe zu ändern. Weiß wandelte sich in helles Blau und verschwand schließlich in der eigenen Transparenz. Immer wieder ging ein Ruck durch die raue Kugel und jeder Stoß zerstörte ein Teil ihrer absoluten Form. Die Arme brachen und fielen herab in den schwarzen, scheinbar grundlosen Boden, wo sie direkt ihre Form verloren. Manche vereinten sich mit anderen Bruchstücken und verflüssigten sich. Manche wurden der aus der Tiefe aufsteigenden Wärme übergeben und verflüchtigten sich gasförmig in den weiten Raum, aus dem sie gekommen waren.
Unzählige Eiskristalle glitzerten im Fell der Katze und mit jeder ihrer Bewegungen wurden sie weniger. Sie rutschten in ihr warmes Fell und schmolzen, oder wurden durch die Haken, die sie schlug, einfach davon geschleudert, bis das Tier plötzlich inne hielt. Die kleinen, kegelförmigen Ohren kreisten in entgegengesetzte Richtungen und tasteten die Umgebung ab. Ihre Augen hefteten sich auf jede flüchtige Bewegung, die sie auf den gefrorenen Schneeflächen entdecken konnte. Unter dem schwarzen Fell waren die angespannten Muskeln zu sehen und aus ihrem Maul drang die dünne Atemluft in Wolken hervor. Ihre Schnurrhaare zitterten und dann sprang sie los, jagte über den angehäuften Schneehaufen zu ihrer Rechten und hielt zielstrebig auf die grüne Mülltonne zu, die sich an der Wand eines kleinen Hauses drohend erhob. Die Maus hörte den knisternden Schnee und hechtete aus ihrer Deckung heraus, während sich ihr graues Haar vor Angst und Kälte kurz aufrichtete. Das kleine Tier änderte andauernd seine Richtung und wurde immer schneller. Doch die Katze ließ sich nur selten täuschen und blieb direkt hinter ihrem Opfer. Ein einziger Prankenhieb beendete die Jagd und die Maus zuckte hilflos unter den tödlichen Krallen. Noch ein Hieb; ein Biss und das Leben der Maus verschwand in der kalten Luft. Die Katze machte ein paar Schritte rückwärts und betrachtete ihr Werk. Die Gier in ihren gelblichen Augen wich einer stillen Lust, einer Vorfreude.
„Was machst du denn hier draußen? Es ist doch viel zu kalt.“
Die Katze wurde von ihren Pfoten gehoben, die nun hilflos in der Leere baumelten. Sehnsüchtig blickte sie auf den toten, noch warmen Körper der Maus, der sich immer weiter von ihr entfernte. Das Tier war dem Willen der Frau, die sie über den steinernen Weg zum Haus trug, ausgeliefert.
Einen kurzen Augenblick stand Kathrin gedankenverloren vor der verschlossenen Haustür und blickte zwischen der Katze unter ihrem linken Arm und dem großen, flachen Paket unter ihrem rechten hin und her. Sie brauchte eine freie Hand um die Tür zu öffnen. Sollte sie nun die Katze wieder absetzen, woraufhin sie sicherlich wieder im Schnee verschwinden würde, oder sollte sie das Paket dem Gemisch aus Schlamm, Wasser und Eis überlassen, das sich vor dem Eingang gebildet hatte? Ein eisiger Windhauch riss sie aus ihren Überlegungen. Sie stellte das Paket auf ihrem angewinkelten Fuß ab und klemmte die Katze unter ihrer Schulter fest. Sie miaute klagend, doch Kathrin ließ sich nicht ablenken. Filigran fischte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüsseln und öffnete damit die Tür. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen, der einen wohligen Schauer durch ihren Körper jagte.
„Hau schon ab.“ Die Katze landete auf dem Boden, schnurrte kurz und verschwand dann in dem langen Flur, der vor ihr lag. Ihre Wohnung erinnerte Kathrin immer wieder an eine Höhle, die zwar einige kleine Hohlräume zu beiden Seiten besaß, aber in einer einzigen großen Kammer an ihrem Ende mündete. Sie warf die Haustürschlüssel in ein Körbchen, das auf einem kleinen Tisch neben der Tür stand. Neben dem Schlüssel landeten auch ein wenig Kleingeld und eine Packung Taschentücher darin. Darüber warf sie ihren Schal und ihre Handschuhe. Die dicke Daunenjacke hängte sie aber an einen Hacken, damit der Tisch nicht überquoll. Das passierte oft und jedes Mal beschwerte sich Manu darüber. Sie hasste diese Unordnung.
„Ich bin wieder da“, rief sie in die Tiefe des Flures und zog gleichzeitig einige Strähnen ihrer blonden Haare aus dem Rollkragenpullover. Kathrin lauschte, hörte aber keine Antwort. „Perfekt“, flüsterte sie und schlich den Flur mit seinen unzähligen kleinen Lampen entlang.
Immer wieder wickelte Manu ihre ansonsten glatten, braunen Haare zu einer Locke auf, während sie angestrengt im Schein der Schreibtischlampe das Buch vor ihr studierte. Die Buchstaben verschwammen zu einem Farbenbrei, als weigerten sich ihre Augen sich noch länger mit der Kunstgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts zu beschäftigen. Sie rieb sich die Schläfen. „Komm schon. Noch eine halbe Stunde. Dann wars das.“ Sie konzentrierte sich wieder, legte ihren ganzen Verstand an die Aneinanderreihung von Fachbegriffen und versuchte sich daraus einen Reim zu machen. Manu blendete alles aus und in diesem Moment tauchte Kathrins Gesicht neben ihrem auf und blickte sie mit einer Grimasse an, die einer Maske glich. Dabei heulte sie wie ein Wolf und haute ihrer Freundin gleichzeitig auf die Schulter.
Manuela reagierte nicht; blickte nur gelangweilt vor sich hin.
„Du hast Tigger reingelassen.“ Dabei deutete sie auf die schwarze Katze, die in der hinteren Wohnzimmerecke hockte, direkt neben dem Fernseher. „Ich wusste, das du hier bist.“
Kathrin Grimasse verschwand hinter einem Ausdruck der Enttäuschung.
„Blödes Vieh!“ schmollte sie. „Schau mal. Ich hab was mitgebracht.“
Sie präsentierte das Paket wie eine dieser Frauen aus dem Werbefernsehen.
„Wieder ein Bild?“ fragte Manu immer noch gelangweilt.
„Ja genau, ein Bild, Manu. Komm schon! Probier es einfach mal.“
Der weiße Schreibtischstuhl quietschte kurz, als sie sich herumdrehte und das in grobes Leinen verpackte Bild anstarrte. Sie zögerte; dachte nach.
„Nein. Ich will einfach nicht. Außerdem muss ich das hier noch lernen.“
Kathrin beäugte das aufgeschlagene Buch.
„Wenn mich nicht alles täuscht, warst du auf der selben Seite, bevor ich weggefahren bin.“
„Na und?“ Sie schlug das Buch zu.
„Hey. Entspann dich endlich mal. Wenn du dir das immer reinzwingst, klappt es nie. Komm mal her.“
Kathrin lehnte das immer noch verpackte Bild gegen den Schreibtisch und setzte sich rittlings auf die Knie ihrer Freundin, wobei sie ihren rechten Arm um ihre Hüften schlang. Langsam näherte sie sich ihrem Gesicht, die Augen dabei immer auf die ihren gerichtet. Und als Manu den warmen Atem auf ihren Lippen spürte, legte sie das letzte Stück des Weges zurück und küsste sie. Kathrins Lippen waren warm und feucht und sie schmeckte einen Hauch von Eukalyptus; von den Bonbons die sie immer aß. Manu spürte, wie die Gedanken an Kunst und Geschichte aus ihrem Kopf verschwanden und sie spürte, dass auch Kathrin voll und ganz nur bei ihr war. Sie liebte dieses Gefühl der Geborgenheit, war es doch alles was sie über Jahre hinweg gesucht hatte und schließlich bei einer anderen Frau gefunden hatte. Liebe. Sie lösten sich.
„Komm schon, Farbentaucher. Probier es.“ Augenblicklich kehrte die Anspannung zurück.
„Nein. Warum sollte ich es tun. Du sagst doch selbst immer, es ist als ob, man sich im Kopf eines anderen befindet.“
„Warum? Weil kaum jemand dieses Talent, diese Fähigkeit besitzt. Ich kenne niemanden außer uns beiden. Und überhaupt ist es nicht so wie du es darstellst. Stell es dir vor wie ein Stück Musik. Wie ein Lied. Jemand, der es spielt kann einfach die Noten hinunterspielen, aber jemand, der es mit Gefühl spielt, mit Leidenschaft“, sie unterbrach ihren Satz, als sie sah, dass Manu überlegte, „kann sein Leben darin wiederfinden!“
„Ja genau. Und jetzt nimm dieses Bild. Wenn du in es hineingehst, ist es, als ob sich eine zweite Realität über die erste legt. Du befindest dich in den Gedanken des Malers, aber nicht in seinem Kopf. Es ist keine Horrorvorstellung. Es ist ein einmaliges Erlebnis.“
Manu schüttelte ihren Kopf. „Ich weiß nicht.“
„Du kannst die Kunst greifen, wenn du es tust.“
In den Fenstern spiegelte sich das letzte Licht des Abends und einzelne Schneeflocken fielen wieder herab. Sie legten sich auf das kalte Glas und blieben eine Sekunde daran hängen, bevor sie wieder der Schwerkraft folgten.
„Na komm schon. Tu es endlich mal. Oder guck dir erst mal das Bild an.“
Kathrin erhob sich von ihrem Schoß und nestelte an der Verpackung herum. Schließlich fiel der Stoff wie ein Kleid und entblößte das nackte Gemälde. Es wurde nur von einigen Streben gehalten und besaß keinen Rahmen.
Es war ein dunkles Bild, in dessen Vordergrund ein Fluss zu sehen war. Dahinter erstreckte sich lichter Wald und im Hintergrund erhob sich eine alte Hütte, dem Zerfall nahe. Vor ihrer Tür stand eine Frau ohne Gesicht, den Arm erhoben, auf die Hütte deutend. Kein einziger Lichtstrahl schien sich in den Wald zu verirren und so sah alles düster, fast schmutzig aus. Manu fühlte sich nicht wohl bei dem Anblick der Malerei. Sie fühlte sich bedrückt, als läge ein Stein auf ihrem Herzen.
„Da soll ich rein?“ Sie blickte Kathrin entgeistert an. „Hättest du dir für mein erstes Mal nicht etwas Schöneres aussuchen können? Vielleicht eine grüne Wiese, oder ein Strand?“
Ohne zu antworten eilte Kathrin zur anderen Seite es Wohnzimmers, da wo die große, schwarze Ledercouch genau gegenüber des Fernsehers stand und holte die hölzerne Staffelei. Sie stellte sie neben dem Schreibtisch auf und platzierte das Bild darauf.
„Strände und Wiesen sind langweilig. Du läufst über nichts anderes als glatte Flächen, wenn du in solchen Bildern bist. Doch das hier ist geheimnisvoll und außerdem gibt es viel zu sehen. Die Hütte, den Fluss und vor allem die Frau. Schau sie dir an. Sie blickt dich direkt an, ohne Gesicht. Derjenige, der das gemalt hat, wusste was er tat. Und jetzt mach schon. Rein mit dir!“
Manu widersprach nicht und Kathrin wusste, dass sie diesmal gewonnen hatte.
„Ich lass dich auch alleine. Du weißt ja wie es geht. Immerhin hast du es ja fast schon einmal gemacht. Geh einfach hinein. Tauche in die Farben.“
Mit diesen Worten verließ sie das Wohnzimmer und schlenderte durch den langen Flur zum Badezimmer.
Das Wasser war wunderschön warm und Kathrin genoss das Gefühl, der an ihr herunterlaufenden Bäche. Wie sie sich über ihre weiße Haut schlängelten und die Rundungen ihres Körpers betonten. Sie liefen um ihre Brüste, sammelten sich auf ihrem Bauch und flossen dann über das blonde Dreieck zwischen ihren Beinen weiter hinab, bis sie sich alle an ihren Füßen trafen und auf dem Boden zusammen tanzten. Sie drehten Pirouetten, bildeten Kreise und verschwanden schließlich in dem schwarzen Loch, das wie ein blindes Fenster wirkte. Sie schloss die Augen und sog die dampfgeschwängerte Luft tief in ihre Lungen. Sie roch nach Aprikose. Dann strich sie sich ihr Haar glatt und stellte sich das Prasseln der Dusche als ein sanftes Rauschen des Meeres vor. Sie befand sich mitten in einem Paradies voll exotischer Düfte. Überall standen Palmen und das Meer brandete immer wieder auf den weißen, perfekten Strand. Es war ein überwältigendes Gefühl, ein überwältigendes Bild und vielleicht hatte sie Manu unrecht getan. Vielleicht war ein solches Bild nicht so langweilig wie sie es beschrieben hatte. Und mit einem Mal übermannte die junge Frau eine Sehnsucht,
während sich die Badezimmertür mit einem kaum hörbaren Knarren öffnete. Eine Sehnsucht nach einem warmen, molligen Bademantel, einer warmen Tasse Kakao und nach dem Bild. Sie würde es sich vor dem Gemälde gemütlich machen und es lange anstarren. Sie würde sich in der Vorfreude baden und dann würde sie hinabtauchen in die Farben, in die Formen und jede Nische des Gemalten erkunden.
Der Duschvorhang wurde weggerissen und die vom Dampf getrübte Luft entwich nach draußen. Erschrocken blinzelte sie gegen die wolkige Wand an, konnte aber nichts erkennen. Sekunden verstrichen, dann malte sich eine Silhouette ab. Es war die Gestalt einer Frau, deren Gesicht nicht zu erkennen war. Die warme Luft zog weiter ab. Nach und nach legte sie das Gesicht frei. Ein Gesicht, das als solches nicht zu erkennen war, denn nie hatte Kathrin einen solchen Ausdruck darauf gesehen. Manus Augen glänzten vor Tränen und ihre Lider zitterten. Ihre Arme hatten sich dicht um sie geschlungen und alles erweckte den Anschein, als friere sie, doch im Haus war es warm.
„Hey Süße, was ist denn los?“ Kathrin sprang aus der Dusche und drückte ihre Freundin an sich. Keiner von beiden schien sich an ihrem nassen Körper zu stören.
„Das Bild“, stotterte sie.
„Was ist damit?“ Sie ließ sie wieder los und nahm sich gleichzeitig ein Handtuch, in das sie sich einhüllte.
„In der Hütte ist etwas.“
„Wie in der Hütte? Das kann nicht sein. Es ist nur das Gemalte da. Sonst nichts.“
Manu machte einen schnellen Schritt rückwärts. „Doch! Da war etwas!“ schrie sie hysterisch.
„Hey, hey. Ganz ruhig. Was soll da gewesen sein?“
Beide standen vor dem Bild und starrten auf die Hütte. Jetzt erkannten sie, welche Mühe der Maler sich mit ihr gegeben hatte. Überall auf den alten Brettern, aus denen sie anscheinend erbaut war, wuchsen Moose und zwischen den dreckig grünen Inseln krabbelten kleine Käfer. An der Tür hing ein kleines, aber kräftiges Schloss. Ungeöffnet.
„Das war vorher nicht da.“
„Du musst dich einfach irren, Manu.“
„Nein. Das tu ich nicht. Die Frau hat vorher genau auf die Tür gezeigt. Jetzt zeigt sie auf das Schloss. Außerdem war ich in der Hütte und hab da...“
„Ja. Ich weiß was du gesehen hast. Aber ich kann es nicht glauben. Und ob die Frau jetzt auf die Tür, oder das Schloss zeigt, ist wohl kaum zu erkennen.“
„Dann geh hinein und guck dich um!“ Manu wurde trotzig. Sie reagierte immer auf diese Weise, wenn ihr jemand nicht glaubte, oder nicht das tat, was sie wollte. In diesem Punkt war sie typisch Frau. Ein Punkt, wo sich Kathrin manchmal wünschte doch die Männer zu lieben.
„OK. Ich mach es.“ Sie hatte sich mittlerweile eine Jogginghose und ein dünnes, kurzärmeliges Hemd angezogen.
„Du wirst es sehen. Mit diesem Bild stimmt etwas nicht.“
Kathrin ging nicht mehr darauf ein. Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl und konzentrierte sich auf das Bild. Sie sah den Fluss, den Wald, die Hütte und die Frau. Dann schloss sie die Lider; das Bild immer noch vor Augen. Im Gedanken schuf sie ein zweites Bild. Das Gemälde wuchs. Wurde größer und breiter und gewann auch an Tiefe. Sie stand direkt davor und machte nur einen einzigen Schritt. Einen Schritt durch die Barriere der Leinwand hindurch. Und das war der Moment, wo sich die zweite Realität über die erste Legte. Wo die Welt aus zwei Ebenen bestand, die gleichzeitig existierten.
Kathrin stand genau am Ufer des Flusses, der ohne Bewegung vor ihr lag. Man sah weder den Grund, noch etwas anderes in ihm. Alles was das Auge erblickte waren unzählige Rillen, die einst ein Pinsel gemalt hatte, um das Kräuseln der Wassers darzustellen. Waldboden und Fluss waren eine Fläche, ohne Hügel. Nur hier und dort, wandelte sich die Ebene in ein miniturisiertes Gebirge. Dort wo der Maler zuviel Farbe verwendet hatte, ragten kleine Spitzen heraus. Kathrin selber warf einen langen Schatten in die stille Szene, denn alles Licht drang von draußen, aus der anderen Realität, hinein. Wenn sie sich umdrehte, war da kein Wald, oder etwas Vergleichbares, sondern nur eine weiße, teils durchsichtige Wand, hinter der all das passierte, was wirklich geschah. Dort saß ihre aufgelöste Freundin und als sie genau hinsah, glaubte sie sogar ihre schemenhaften Umrisse erkennen zu können. Selbst dieser Schatten weckte in ihr die so geliebten Gefühle. Sie wollte sich an sie drücken. Sie trösten. Sich entschuldigen. Doch zuerst musste sie zu dieser Hütte. Kathrin ging in das Bild hinein und setzte einen Schritt vor den anderen, während sie versuchte den beißenden Geruch der Farbe nicht zu bemerken. Ihr erster Schritt führte sie noch über den Waldboden, der nichts anderes war als unterschiedlich getönte Farben. Ein helles Braun folgte einem dunklen und dazwischen war ein wenig grün zu erahnen. Ihr zweiter Schritt führte sie über das Ufer des Flusses und ein dritter direkt auf seine Oberfläche. Sie ging über das Wasser hinweg und tauchte ein in den Wald. Wenn sie an einem Baum vorbeiging, war er kaum zu sehen. Von der Seite war er nicht vielmehr als ein Strich, ein Balken aus Farbe. Zwischen das Braun der Erde mischte sich nun ein zartes Gelb. Dies waren die Blätter des Waldes, die einst grün und saftig an den dicken Ästen gehangen haben mussten. Die Hütte und die Frau rückten näher, und schon aus der Ferne sah Kathrin, dass an ihnen etwas anders war. Der Fluss und die Bäume waren nichts weiter als Platzfüller gewesen. Der Maler hatte sie nur hineingemalt, um das Bild lebendiger wirken zu lassen, um die Leere zu bekämpfen. Aber die Frau und die Hütte, hatte er mit seinem Herzen gemalt. In diesen beiden Dingen lag sein Gefühl. Ein Gefühl, das ihm beim Malen begleitet hatte. Ein Gefühl, das den Anlass gegeben hatte, das Bild zu malen. Aus diesem Grund war die Hütte mehr, als eine bloße Aneinanderreihung von Pinselstrichen. Sie war realer, besaß Breite, Länge und eine echte Tiefe. Genau wie die Hütte entsprang auch die Frau ohne Gesicht der Seele des Malers. Sie besaß eine Form, aber ihre Weiblichkeit war mehr zu erahnen, als zu sehen. Brust und Hüften waren auch hier nur Nuancen der Farbgebung.
Kathrin ging weiter auf sie zu und sie musste schwer schlucken, denn je näher sie der Frau kam, desto unheimlicher wurde sie ihr. Sie war düster und wirkte trotz ihres fehlenden Gesichtes unheimlich lebendig. Als Kathrin direkt vor ihr stand, sah sie in eine schwarze Scheibe. An ihrem Kopf gab es nicht einmal eine Andeutung von Augen, oder einer Nase. Es war einfach nur ein schwarzer Fleck.
Ihr Blick fiel nun auf den ausgestreckten Arm und ohne es zu wollen wanderten ihre Augen in die Richtung, in welche die Frau deutete. Kathrin schritt auf die Hütte zu und betrachtete das Schloss. Alles in diesem Bild war dreckig und überall war das Alter förmlich zu greifen, nur dieses Schloss passte nicht zu dem gesamten Eindruck. Es war neu. Sie konnte es deshalb mit Bestimmtheit sagen, weil der Maler hier anscheinend noch mehr Sorgfalt verwandt hatte, als bei allem anderen. Die Konturen des Schlosses wirkten wie mit einem Lineal gezogen und nicht an einer einzigen Stelle überschritt die metallene Farbe diese Grenzen.
Kathrin sah sich nervös um, denn ein nagendes Gefühl machte sich in ihrem Inneren breit. Es war weit mehr als ein unbestimmtes Gefühl. Irgendetwas in diesem Bild beobachtete sie und folgte jeder ihrer Bewegungen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde ihr unwohler. Die Grenzen des Bildes rückten auf sie zu und alles schien sich auf diese Hütte zu konzentrieren. Sie musste herausfinden, was Manu so verschreckt hatte. Beherzt griff sie sich das Schloss. Es fühlte sich feucht an und als sie ihre Handflächen betrachtete, waren sie grau. Das Schloss war noch nicht trocken und sie konnte die Spuren ihrer Finger deutlich darauf erkennen. Es war tatsächlich neu. Manu hatte nicht gelogen. Noch einmal griff sie zu; zerrte daran, bis es sich einfach löste. Es brach nicht, sondern veränderte seine Form. Es war nichts, als eine zähflüssige Masse; trocknende Farbe und als sie immer stärker daran zog, wurde das Schloss länger und dünner, bis es zerriss. Sie drückte es zu einem Klumpen zusammen und warf es hinter sich in den Wald. Kathrin atmete tief durch. Der Geruch der Farbe trübte ihren Blick und die Hütte verschwand kurz hinter einem schwarzen Vorhang. Sie konzentrierte sich und gab der Tür vor ihr gleichzeitig einen kleinen Stoß, so dass sie geräuschlos aufschwang. Als sich der Vorhang vor ihren Augen wieder langsam erhob und die Farben und Formen des Bildes freigab, sah sie in das Innere der Hütte. Es war dunkel, denn das Licht, das aus der Anderswelt hineinfiel, verebbte in ihrem Eingang. Alles in ihr sträubte sich gegen das Unbekannte, das vor ihr lag, dennoch setzte sie einen Fuß in das Innere.
In völliger Stille und anscheinendem Frieden lagen das Bild und alles in ihm da. Eine zweidimensionale Welt, die sich um Kathrin herum zu einem Abbild des Autors gemacht hatte. Was immer in dieser Hütte sein mochte, hatte mit dem Leben des Malers zu tun. Mehr noch. Es war etwas, das sein Leben bestimmte, denn diese Hütte und die Dinge, die geschahen, waren mehr als eine einfache Manifestation von Gedanken und Gefühlen. Es war eine Obsession, ein Trauma oder ein Fetisch. Kathrin kniff ihre Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit, die den Eindruck unendlicher Weite vermittelte. Was hatte Manu hier drin gesehen?
Ein Geräusch ließ ihre Konzentration schwinden. Sie blickte irritiert hin und her. Es war völlig unmöglich, dass sie etwas hörte. Noch nie hatte es in einem Bild so etwas wie Geräusche gegeben. Es war ein visuelles Werk, bei dem das Gehör außen vor blieb. Aber sie hatte sich nicht geirrt. Wieder kratzte etwas in einem der hinteren Winkel und etwas bewegte sich. Und in dem Moment, als Kathrin immer noch versuchte, all das zu begreifen, begann der Alptraum. Das Wimmern eines Kindes durchschlug die Stille wie ein zersplitterndes Glas. Schmerzhaft hallte das helle Klagen in ihren Ohren wieder. Das Kind weinte. Kathrin hörte, wie es zwischen den Weinkrämpfen immer wieder nach Luft schnappte und wie es über den Boden kroch. Es kroch auf sie zu.
Kathrins Herz schlug schneller; sprengte ihr fast die Brust und ihr Kopf dröhnte. Darin herrschte ein Sturm der Gedanken, die sich selbst unhörbar machten. Alles was existierte, war der Augenblick, und was in diesem geschah.
Ein kleiner Körper zeichnete sich im Dunkeln ab. Ein kleiner Körper, der immer näher kam. Er kroch auf allen Vieren, langsam aber bestimmt und als er der Tür so nahe gekommen war, dass das Licht ihn erreichte, da sah Kathrin, dass es wirklich ein Kind war. Es war blass, fast weiß und Tränen liefen wie Sturzbäche aus seinen in die Leere blickenden Augen. Es war nackt und überall auf seiner Haut zeigten sich blutige Striemen.
Entsetzt wich sie vor dem etwa dreijährigen Jungen zurück, aus dessen Kehle unartikulierte Laute aufstiegen. Speichel und Rotz flossen über sein Kinn und nichts von dem, was es von sich gab, konnte Kathrin verstehen. Immer weiter wich sie zurück, bis sie wieder im Freien stand und in diesem Moment hörte das Kind auf, sich zu bewegen. Es folgte ihr nicht nach draußen, sondern krabbelte langsam wieder in die Hütte zurück. Der kleine Körper wurde von der Dunkelheit verschluckt und es blieb nur sein Weinen, das sich nun anhörte, als käme es aus einer tiefen Höhle. Dann wurde es wieder still.
Jetzt forderte die Situation ihren Tribut und Panik umfing Kathrin wie ein großes Tuch, das sich immer enger um sie schlang. Sie fühlte, wie es sie erdrückte und ihr dir Luft zum Atmen nahm. Sie musste aus diesem Bild raus und während sich dieser Gedanke noch formte, schlug sie wild mit den Armen um sich, als könne sie das Tuch der Panik einfach zerreißen. Dann lief sie los und mit jedem Schritt, den sie zwischen sich und die Hütte brachte, löste sich der Druck. Die helle, blendende Wand der realen Welt kam näher und näher und als sie den starren Fluss erreicht hatte, blieb sie abrupt stehen. Schatten bewegten sich in der anderen Welt. Sie liefen schnell an ihr vorüber; hektische und abgehackte Bewegungen und es waren mehrere Schatten. „Was ist da los?“ schrie sie völlig aufgelöst, als sie die Augen schloss und nach draußen trat, ohne bemerkt zu haben, dass die Frau ohne Gesicht nicht mehr vor der alten Hütte gestanden hatte.
Die Welten verschoben sich für sie zum zweiten Mal an diesem Tag und sie kehrte mit nur einem Schritt aus dem Bild in die Realität zurück. Einen Augenblick fühlte es sich so an, als hielten die Farben an ihr fest, als wollten sie sie zu einem Teil von sich machen, doch dann ließen sie Kathrin frei. Der beißende Geruch von Farbe verschwand, aber als sie ihre Augen öffnete blieb es dunkel. Es war keine gewöhnliche Dunkelheit, denn nichts schien ihre Schwärze durchbrechen zu können. Immer wieder schloss und öffnete Kathrin ihre Augen, weil sie glaubte, das Bild noch nicht verlassen zu haben; noch nicht wieder real zu sein, doch alles bis auf die Dunkelheit deutete auf die eigentliche Welt hin. Sie musste das Bild hinter sich gelassen haben. Dann eine Bewegung. Etwas war in diesem Dunkel.
Panik stieg in ihr auf, bemächtigte sich ihrer und wuchs mit dem Gefühl einer unbekannten Gegenwart, das sie verspürte. Es war deutlich zu spüren, dass sie nicht alleine war.
Dann zerriss die Dunkelheit, die Präsenz verschwand und ein blendendes Licht trieb ihr einen stechenden Schmerz in die Augen. Das Licht wandelte sich zu einem glühenden Messer und Kathrin sah deutlich die rot glühende Klinge, aber mit jeder Sekunde die verstrich, verschwand diese Vision, dieses Bild der Klinge und sie erkannte hinter der schwindenden Helligkeit ihre Wohnung. Sie konnte auch erkennen, woher das Licht so plötzlich gekommen war. Am anderen Ende des Wohnzimmers, neben der großen Couch, stand Manu und hatte den Schirm einer Stehlampe in ihre Richtung gedreht. Kathrin blinzelte dagegen an und sah das Gesicht ihrer Freundin. Auf ihm lag ein Ausdruck, der das Blut in ihren Adern zum gefrieren brachte. Ihr Herz hörte auf zu schlagen und die Zeit stand still. Ihre zierlichen Gesichtszüge waren zu einer grotesken Fratze entstellt und ihre Augen zitterten. Sie hatten sich weit in die Höhlen des Schädels zurückgezogen, als wollten sie fliehen und nichts mehr sehen, aber sie konnten es nicht und deshalb zitterten sie vor Angst, was sie wohl als nächstes wahrnehmen würden. Ohne Ankündigung ging ein Ruck durch Manus Körper. Sie rannte los und richtete eine zweite Stehlampe auf das Bild und ihre Freundin. Tigger, der unter der Lampe gelegen hatte und dessen gelbe Augen überall hinzusehen schienen, machte einen entsetzten Sprung und landete auf der Couch, wobei sein Fauchen die Stille zerbrach, als wäre sie aus Glas.
„Geh-h weg d-d-da!“ rief sie mit brechender Stimme. Sie gab Kathrin einen Schubs, die daraufhin unsanft auf dem Boden landete. Manu setzte sich auf den Schreibtischstuhl und starrte das Bild an, auf dem keine Frau zu sehen war und die Tür der Hütte weit offen stand.
„Geh ins – ins Bild! Verschwinde von hier!“ Manu schloss die Augen und machte einen Schritt vorwärts aus dieser Welt hinaus. Ungläubig blickte Kathrin auf die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. „Was geht hier zum Teufel vor?“ fragte sie sich selbst, als eine der Stehlampen erlosch und in der Dunkelheit verschwand. Sie bildete eine Glocke aus Schwärze, begrenzt durch das restliche Licht des Raumes, und nichts darin war zusehen. Tigger machte einen kurzen Satz nach vorne, wobei er sich so drehte, dass seine Augen direkt in diese Glocke schauten. Sein Rücken bog sich durch, wobei sich sein Fell aufrichtete. Er fauchte und ließ immer wieder seine spitzen Zähne aufblitzen, aber so schnell seine Wut auf diese Schwärze gewachsen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Sie wandelte sich zu Angst und Tigger sprang von der Couch, lief durch die Beine des gläsernen Tischs hindurch und setzte zu einem weiteren Sprung an. Mit Entsetzen sah Kathrin diese Geschehnisse wie in Zeitlupe. Ihre Katze landete zuerst mit einem Satz auf Manu´ Knie, verlor dort ihr Gleichgewicht und fiel direkt auf das Bild. In der Luft hatte sich die Katze geschickt gedreht und fing sich selbst an der Leinwand auf, indem sie ihre Krallen tief in das Bild hineingrub und daran herunterrutschte. Die Leinwand zerriss und der Körper ihrer Freundin schien im selben Augenblick zu erschlaffen. „Nein!“ schrie Kathrin. Ihr Kopf dröhnte und hämmerte. Er fühlte sich an wie eine gigantische Baustelle, wobei der Lärm alle Gedanken und Überlegungen verschluckte. Es herrschte dieser unerträgliche Klang, der zu einem Donnern heranschwoll, als ein weiteres Licht erlosch. Es war die kleine Lampe, die über dem Fernseher hing, dort wo Tigger nach dem Unfall verschwunden war. Das Tier befand sich nun im Inneren einer weiteren schwarzen Glocke und aus ihr war nun ein leises Miauen zu hören. Es war ein kläglicher Laut, der Kathrin einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Kurz ragte ein schwarzer Schwanz aus der Dunkelheit heraus, dann ein Hinterbein und dann eine Hand, die den schlanken Tierkörper umfasste und ihn wieder zurückzog. Instinktiv griff Kathrin Manu unter die Schultern und zerrte sie vom dem Stuhl, auf dem sie noch immer saß, herunter. Ihr Körper kam ihr leichter vor, so als würde ein Teil fehlen. Sie schleifte sie aus dem Wohnzimmer heraus in den langen Flur hinein, der an den Seiten von unzähligen kleinen Lampen beleuchtet wurde. Kathrin hatte diese Lampen immer gehasst. Für sie hatte der Flur dadurch einen bedrohlichen, verwirrenden Anstrich bekommen, aber Manu hatte diese stilistische Spielerei geliebt und deshalb hatte sie dem damals zugestimmt. Kathrin spürte eine Wärme in sich, als sie an Manu dachte und nun war sie dankbar für die vielen kleinen Lichter, denn sämtliche Lichtquellen im Wohnzimmer verloschen. Die Dunkelheit kam unaufhaltsam auf sie zu und auch die kleinen Flurlampen brannten nun nicht mehr länger. Jedes Paar, ein Lämpchen auf der linken Seiten, eines auf der rechten, ging aus und die dunkle Barriere rückte näher. Manu wurde immer schwerer und ihre Füße, die über den rauen Teppichboden schleiften, waren bald wie Haken, die sich darin festhielten. Angst ließ sie dennoch weiter machen und das Schmerzen ihrer Muskeln wie ein weit entferntes Echo wirken. Die Dunkelheit aber war schneller und holte auf. All das geschah innerhalb einiger, weniger Sekunden. Kathrin betrachtete die näher kommende Grenze und den Weg, den sie noch zurückzulegen hatte und ihr wurde bewusst, so sehr sie sich auch gegen diesen Gedanken wehrte, dass sie es nicht schaffen würde. Das fünfte Lampenpaar spendete nun schon kein Licht mehr und wenn das siebte erlosch, dann würde sie sich auch im Inneren der Glocke befinden. Ihre Gedanken rasten noch immer unhörbar in ihrem Kopf und wenn sie es schaffte, doch einmal ihre eigene, denkende Stimme zu hören, dann jagte sie sofort weiter, so als triebe sie Angst unnachgiebig voran. Das sechste Paar leuchtete nicht mehr. Kathrin riss nun mehr an Manus Körper, als dass sie sie trug oder zog. Sie hatte Angst. Angst um sich. Angst um Manu und alles sträubte sich dagegen, sie einfach loszulassen und sich selbst in Sicherheit zu bringen, aber als ein Gedanke in ihrem Kopf inne hielt und die Stimme doch zu hören war, da ließ sie Manu einfach los, die mit ihrem Hinterkopf zuerst aufschlug. Kathrin selber taumelte rückwärts und ruderte mit den Armen halt suchend in der Luft. Da erlosch auch das siebte Pärchen und ihre Freundin, ihre Liebe war verschwunden. Sie selbst stand direkt vor der dunklen Grenze und blickte in das Schwarz hinein, das aussah, als besäße es keinen Raum. Aber sie wusste, dass dort im Inneren etwas war. Nicht nur ihre Freundin, sondern noch etwas.
Kathrin fand wieder ihr Gleichgewicht und flüchtete vor der Schwärze, die sich nun wieder in Bewegung setzte. Fünf Schritte waren es bis zum anderen Ende des Flurs, fünf Lampenpaare. Sie rannte und stolperte das kurze Stück hinab und warf ihre Handschuhe von dem kleinen Tisch auf den Boden. In dem Körbchen, was darauf stand, suchte sie nun nach den Autoschlüsseln.
Vier Paare.
Sie grub förmlich zwischen all den kleinen Sachen darin.
Drei.
Eine Sonnebrille, die schon seit dem Sommer unberührt in dem Körbchen lag, fiel zu Boden und brach.
Zwei.
Tränen liefen über Kathrins Wangen. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Kehle bebte. Sie hockte sich nieder. Dann hatte sie den Schlüssel; er rutscht ihr aus der Hand und fiel direkt neben die kaputte Brille, deren Glas gesplittert neben dem Gestell lag.
Eins.
Sie griff nach dem rettenden, kleinen, metallenen Objekt, wobei ihr Zeigefinger direkt in die Scherben griff. Das schwarze Glas schnitt sich durch die dünne Haut direkt in ihr Fleisch, aber der Schmerz war kaum spürbar. Sie hatte nun den Schlüssel fest umpackt, zog sich an der Türklinke wieder nach oben – Null – und war draußen.
Kälte umfing sie und hauchte ihrem Körper wieder Leben ein. Für einen kurzen Moment dankte Kathrin stumm dem Winter, denn die eisige Luft vertrieb auch die erstickende Angst. So stand sie da, unter der wunderbar hellen Hoflampe, die wie die Hoffnung selbst über ihr brannte und schickte ein Stoßgebet in Richtung Himmel. Das Haus lag verdunkelt hinter ihr und nichts war nun zu hören, bis auf den kalten Wind, der nun immer realer wurde, denn die Befreiung wich einer einsetzenden Starre und die Angst kehrte unbarmherzig zurück. Kathrin lief zu ihrem Wagen, als der Alptraum weiterging. Das Hoflicht ging einfach aus und die Dunkelheit schlich nach draußen in die freie Welt. Das Auto lag im schwachen Licht der Straßenlaterne da, die direkt vor ihrem Haus stand, das seit Tagen unter einer dicken, vereisten Schneedecke lag. Sie stieg ein, schloss die Tür, steckte den Schlüssel in das Zündloch und drehte ihn. Die Elektronik summte und der Motor heulte kurz auf. Es war mehr ein mechanisches Summen. Dann war es wieder still. Noch einmal drehte sie den Schlüssel und verfluchte währenddessen die Kälte, die ihren Wagen regelmäßig lahm legte. Wieder geschah nichts. Ein drittes Mal drehte sie die Zündung. Es summte, die Straßenlaterne erlosch und der Motor sprang an. Mit ihm das Radio und das Licht, aber kurz war die Dunkelheit herangekommen und direkt vor der Seitenscheibe hatte sie dieses Gesicht gesehen. Ein Gesicht ohne Augen, ohne Nase und ohne Mund. Es war einfach nur ein schwärzlicher Kopf, der direkt wieder verschwunden war, als die Scheinwerfer des Autos aufleuchteten.
Kathrin legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Ausfahrt. Sie raste die Straße hinab, ohne sich Sorgen um die vorherrschende Glätte zu machen und ließ das Haus mit dem Bild und ihrer Freundin darin weit hinter sich zurück. Immer wieder blickte sie in den Rückspiegel und beobachtete die anderen Straßenlaternen. Jeden Augenblick erwartete sie, dass sie alle nacheinander ausgehen würden, aber die Straße blieb hell. Zwischen all den Eindrücken des Geschehenen, welche nun mit unglaublicher Wucht auf sie niederschlugen, war ein Gedanke ganz deutlich zu erkennen. Sie sah den alten Laden vor sich, in dem sie das Bild gekauft hatte und sie sah auch die anderen drei Bilder, auf denen immer eine Frau und eine Hütte zu sehen war und ohne zu wissen was sie genau tat, fuhr sie genau in die Richtung, aus der sie vor ungefähr einer Stunde gekommen war. Sie fuhr direkt auf den Laden zu, während ein alter Song der Doors aus den Boxen dröhnte. Try to set the night on fire...
Es war ein altes Haus, das direkt an der Hauptstraße stand und es brannte immer noch Licht in seinem Inneren, obwohl der alte Antikladen, der sich im unteren Stockwerk befand, schon vor einer halben Stunde geschlossen hatte. Kathrin parkte ihren Wagen direkt vor dem Eingang und ließ ihren Blick über die alten Mauern schweifen. Über der Tür hing ein großes Schild, auf dem „Joes Krempel“ stand und in dem großen Fenster daneben hing ein kleines, handgeschriebenes Plakat, auf dem stand, dass alles zum halben Preis zu haben sei. Kathrin atmete noch einmal tief ein und verließ das Auto. Das Radio lief weiter und spielte jetzt ein Stück von Deep Purple. Die Hammondorgel schallte hohl durch die junge Nacht, denn Kathrin ließ die Tür ihres Autos einfach offen stehen und schritt wie in Trance auf den Laden zu. Sie drückte die Klinke herunter, aber nichts tat sich. Schließlich hämmerte sie mit dem altmodischen Türklopfer immer wieder gegen das massive Holz des Eingangs. Noch immer rührte sich nichts. Sie klopfte lauter, bestimmter und hörte nicht auf, bis sich doch etwas tat. Durch die kleine Glasscheibe hindurch, die wohl nachträglich in die Tür hineingelassen worden war, sah sie einen älteren Mann, der ihr mit grimmiger Miene entgegen kam. Als die Tür erst einen spaltbreit offen war, drang ihr die raue Stimme des Mannes entgegen. „Schlagen Sie mir bloß nicht meine Tür kaputt. Was wollen Sie überhaupt?“ Ohne zu antworten schlüpfte Kathrin hindurch und bahnte sich einen Weg an alten Schränken und Spiegeln vorbei zu der Stelle, wo sie vorhin das Bild gefunden hatte. „Hey, ich kenn Sie. Sie haben hier eben eins meiner Bilder gekauft.“ Kathrin drehte sich erschrocken um und betrachtete den alten Mann, der sie nun merkwürdig anblickte. Was hatte er gesagt? Hatte er das Bild selber gemalt? Hatte sie den Maler schon gefunden?
Er trug einen breitkrempigen Hut und ein altes Tweedsakko, beides im dunklem grün gehalten. Sein Gesicht war das eines völlig normalen Menschen und nichts darin deutete auf einen Wahnsinnigen hin, dessen Psyche so gestört, oder besessen war, dass er Bilder malen könnte, die solch ein Leben besaßen. Kathrin wandte sich wieder ab und blickte in einen großen, metallenen Spiegel, der direkt neben ihr stand. Sie sah müde aus und ihre Haare standen ihr wirr vom Kopf ab. Es war kein Wunder, dass der Mann sie so seltsam ansah und sie zuerst nicht hineinlassen wollte. Sie ging näher an ihr Spiegelbild heran und sah nun die feuchten Spuren, welche die Tränen auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte und als sie ihre Augen und ihren Mund betrachtete, die Trauer und Erschöpfung ausdrückten, fiel ihr wieder dieses Gesicht ein, das gar keines war. Mit einem Mal hatte sie ihr Ziel wieder vor Augen. Sie ging hinüber zu den anderen drei Bildern, die sie zuvor gesehen hatte. Auf jedem war eine Hütte zu sehen. Sie stand einmal in einer weiten, leeren Landschaft. Ein weiteres Mal inmitten eines Gebirges und im letzten und dritten Bild stand die Hütte mitten in einer großen Stadt. Die anderen Häuser überragten das baufällige Gebäude, so dass ihre Dächer nicht zu sehen waren. Aber auf keinem der Bilder war eine Frau zu sehen. Auch hier waren sie verschwunden und plötzlich war die Angst wieder so präsent, als ob sie in ihrer unheimlichen Macht nie verschwunden war.
„Sie haben die gemalt?“
Der alte Mann deutete auf eine verschnörkelte Schrift in der unteren, linken Ecke des Bildes und schien nicht zu bemerken, dass die Frau, die er einmal gemalt hatte, nicht mehr da war.
„Da steht Joe. Also war ich es wohl.“
Kathrin wollte zur Sache kommen. Sie wollte die Dinge geklärt haben. Sie wollte wissen, was sie in ihrem Haus verfolgt hatte.
„Was ist mit dem Kind?“ Ihre Stimme war bestimmend, herausfordernd.
Joes Gesichtsausdruck änderte sich von einer Sekunde zur anderen. Die äußerliche Gelassenheit, die er bis zu diesem Zeitpunkt zur Schau getragen hatte, verwandelte sich in ein misstrauisches Grinsen.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung was Sie meinen.
Ist mir aber auch egal, weil wir geschlossen haben und jetzt will ich Sie bitten zu gehen.“
Doch Kathrin blieb und richtete weiterhin ihren harten Blick auf den ihr bis vor kurzem noch völlig fremden Mann.
„In dieser Hütte ist ein Kind. Ein verletztes Kind, das eingesperrt ist und ich will wissen warum!“ Eine Hand deutete auf die Bilder an der Wand, ihre andere genau auf Joe, der sich nun langsam herumdrehte und mit ebenso langsamen Schritten zur Eingangstür herüberging und diese verschloss. Kathrin betrachtete dies mit wachsender Unruhe.
„Woher wollen Sie davon wissen?“ Sein Grinsen war verschwunden.
„Die Bilder zeigen es.“
„Meine Liebe“, seine Stimme blieb ruhig, „ich weiß nicht was Sie damit meinen. Wenn Sie Fragen haben, dann fragen Sie bitte meine Frau. Sie hat die Bilder gemalt.“
„Aber sagten Sie mir eben nicht, dass Sie selbst die Bilder gemalt hätten?“
„Ja natürlich, weil ich das muss. Meine Frau geht nicht mehr unter Leute. Schon seit Jahren nicht mehr. Wissen Sie“, er hielt kurz inne und lehnte sich gegen einen der alten Schränke, „hier hat es vor ein paar Jahren einmal gebrannt. An diesem Tag war meine Frau in dem Geschäft und sie hatte Glück, dass sie noch lebend hier herausgekommen ist. Aber nicht ganz unverletzt. Sie erlitt schwere Verbrennungen und ihre Haut, vor allem ihr Gesicht, ist nie wieder richtig verheilt. Sie will niemanden mehr sehen und alles was sie tut, ist diese Bilder zu malen. Ich dachte mir, ich könnte sie verkaufen, aber damit niemand nach ihr fragt, hat sie einfach meinen Namen drunter gesetzt.“
Mit den letzten Worten dieses Mannes geschah etwas. Zuerst hatte es Kathrin nicht richtig wahrgenommen, aber es wuchs, wurde größer und schließlich konnte sie es nicht mehr übersehen. Es war zuerst nur eine kleine Flamme, die sich am Fuß des Schrankes, an den sich Joe gelehnt hatte, nach oben fraß. Sie wuchs und innerhalb weniger Sekunden schlug eine Vielzahl oranger und roter Zungen nach dem alten Holz und verschlang es. Das alles geschah innerhalb eines einzigen Augenblicks und Joe schien von all dem nichts zu bemerken. Er stand einfach neben dem sich ausbreitenden Feuer und guckte die Besucherin weiter an. Kathrin wich ängstlich zurück und stieß gegen einen alten Kleiderständer, der krachend zu Boden viel. Er schlug auf den neu aussehenden Holzboden auf und fing sofort Feuer. Kathrin riss vor Entsetzen die Augen auf, denn die Flammen breiteten sich in kleinen Explosionen überall aus. Der Laden lag nun im roten Widerschein des Feuers, dass sich allem bemächtige. Die Zungen griffen auch nach Kathrin, die sich hilflos der neuen Situation gegenüber fand.
„Passen Sie doch auf!“ brüllte der alte Mann sie an.
Sie hörte seine Worte kaum, denn sie dachte darüber nach, was anders war. Diese Flammen waren ihr fremd, denn etwas fehlte und mit einem Mal, wusste sie was es war. Sie waren nicht heiß und hinterließen keine Spuren an den Möbeln. Dort wo sie brannten, geschah nichts. Und als eine der Flammen zuckend aus einem größeren Brand ausbrach und in Richtung Fenster schlug, wusste sie es mit Gewissheit. Das Feuer umfing die Gardinen, welche sofort zu brennen begannen. Aber der dünne Stoff blieb was er war und wurde nicht verzehrt. Er veränderte lediglich seine Farbe, denn dort, wo die Zungen an dem Stoff leckten, breitete sich eine rote und gelbe Farbe aus. Der Stoff zog die Feuchtigkeit auf und das Rot verlief in kleinen Flüssen durch die gesamte Gardine. Sie näherte sich vorsichtig dem umgefallenen Kleiderständer und streckte ihre Hand danach aus. Keine Hitze, kein Schmerz und als ihre Fingerspitzen die Flammen berührten, war da nur ein feuchtes Gefühl, so als packe man in noch nicht getrocknete Farbe. Dieser Gedanke erschrak sie, denn es bedeutete, dass die Welten verschwammen.
Ruckartig zog sie ihre Hand zurück und betrachtete die Stelle, wo sie das Feuer berührt hatte. Ihre Finger waren gelblich, fast rot und nun roch sie auch wieder den beißenden Geruch, den jede Farbe verbreitete. Diese Flammen waren gemalt und sie waren so echt, als wären sie direkt aus dieser Welt. Kathrin stand inmitten eines zerstörerischen Brandes, den nur sie sah und der sie schon lange das Leben gekostet hätte. Was von der zerstörerischen Kraft des damaligen Brandes geblieben war, war die Farbe, die sich nun überall auf ihren Kleidern und auf ihrer Haut befand.
„Geht es Ihnen etwa nicht gut?“ Der Alte wurde langsam zornig.
„Wo ist ihre Frau?“ fragte Kathrin und versuchte gegen das in Wirklichkeit gar nicht existierende Knistern des Feuers anzureden. Sie hörte das Brechen der schweren Deckenbalken und das Zerbersten von Glas, das der wachsenden Hitze nicht mehr widerstehen konnte.
„Im Keller. Sie kommt selten herauf. Treibt sich immer nur im Dunkeln herum, weil nicht einmal ich ihr Gesicht sehen soll.“
Kathrin schaute sich um, blinzelte gegen das blendende Licht der Flammen an und entdeckte eine Tür. Es war die einzige, neben der Eingangstür, die sie sehen konnte. Sie musste zum Keller führen und als sie unter den erstaunten Blicken des Mannes direkt darauf zurannte, fügten sich langsam all die Einzelheiten in ihrem Kopf zusammen. Die Frau ohne Gesicht auf den Bildern war seine Frau und die Dunkelheit um sie herum war ein Teil von ihr. Sie wollte nicht gesehen werden. Aber was war mit dem Kind?
War das Kind der Grund, warum so viel von dem Schmerz der Frau in das Bild gefahren war, dass es solche Formen annehmen konnte?
„Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass sie niemanden...“ Die Stimme des Mannes riss plötzlich ab. Kathrin hatte die Tür hinter sich mit dem innen angebrachten Riegel verschlossen. Vor ihr lag eine steinerne Treppe in fast völliger Dunkelheit. Nur von unten drang ein schwaches Licht hinauf, das sich aber mit jeder Stufe ein wenig mehr verlor. Kathrin tastete sich langsam an der nackten Wand entlang und achtete auf jeden ihrer Schritte, aber ohne stehen zubleiben. Ihre Angst hatte einem neuem Gefühl Platz gemacht. Der Neugierde. Stufe um Stufe stieg sie hinab, dem unbekannten Ziel entgegen. In ihrem Kopf schwirrten wieder die Bilder jener dunklen Barriere herum und das Gesicht der Frau war allgegenwärtig. Hier unten würde sie die echte Frau finden. Das wusste sie und sie würde herausfinden, warum das alles geschehen war. Daran, dass sie vielleicht ihren Tod finden könnte, dachte sie nicht.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Umgebung und das Licht siegte mehr und mehr über die Dunkelheit, so dass sie einen schmalen Gang sehen konnte, der rechts um eine Ecke bog. Am Fuße der Treppe angekommen, blieb sie stehen, hielt den Atem an und lauschte. Es kam ihr so vor, als würde sie von oben hören, wie das Feuer immer noch brannte. Es war ein Knistern und Rauschen unter das sich nun auch ein Klopfen mischte. Es war Joe, der versuchte die Tür zu öffnen. Er schlug mit den Handflächen gegen das alte Holz und der dumpfe klang seiner Schläge hallte zwischen den kahlen Betonwänden wider.
Kathrin lauschte so angestrengt, dass sie erst wieder zu vollem Bewusstsein kam, als sich ihr Körper meldete und nach Sauerstoff verlangte. So leise wie möglich atmete sie aus und wieder ein, um schließlich einen raschen Blick um die Ecke zu werfen. Links und rechts, eines nur noch kurzen, weiteren Stückes, waren zwei Räume. Sie schlich weiter, den Atem flach haltend, obwohl ihre Lungen nach einem großen Atemzug schrieen. Ihr Herz klopfte. Sie blickte in den linken Raum. Dort standen ein alter Tisch und eine Waschmaschine, sonst nichts. Sie drehte sich und blickte in den gegenüberliegenden Raum und als sie sah, was dort war, vergaß sie alles andere um sich herum. Das Geräusch des Feuers, das einen Stockwerk höher wütete war genauso vergessen, wie das Klopfen des Mannes, das mittlerweile verstummt war. In diesem Raum befand sich noch ein weiterer. Grob gezimmerte Holzbalken und Latten bildeten einen kleinen Verschlag, dessen Tür weit offen stand und in dessen Inneren eine Dunkelheit herrschte, die nicht zu durchschauen war. Mit einem Mal war sie wieder da, die Angst, die den Körper lähmte und alle Vorgänge im Kopf bis auf die Instinkte stoppte. Kathrin machte einen unbewussten Schritt zurück und stieß gegen etwas. Ihr Herz versagte kurzzeitig seinen Dienst und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als woanders zu sein.
„Die Türe lässt sich mit dem richtigen Trick von außen öffnen.“ Es war der alte Mann, der hinter ihr stand und sie mit einem süffisanten Lächeln anschaute. Währenddessen betrat noch jemand diesen Raum. Aus dem Bretterverschlag kam eine ältere Frau, deren Gesicht mit langen Narben durchzogen war. Narben, die von großer Hitze zeugten. Sie tauchte aus dem Dunkeln auf, wie ein Taucher aus dem Meer. Ihr Körper schälte sich langsam dort heraus, dann blickten ihre fast lidlosen Augen zuerst auf Kathrin, dann auf Joe.
„Lass sie in Frieden“, sagte sie zu ihm.
„Ganz bestimmt nicht. Sie hat mich nach dem Kind gefragt.“
Er zog sein grünes Sakko aus. „Wieso wissen Sie überhaupt davon?“
Kathrin gab keine Antwort.
„Wie dem auch sei. Es waren sogar zwei Kinder. Wir hatten eine Tochter und einen Sohn.“
Joe machte eine Pause, wobei seine Mundwinkel leicht zitterten. Kathrin sah wie sich sein Adamsapfel schwer hob und schließlich wieder sank. Er hatte Schwierigkeiten seinen eigenen Speichel zu schlucken. Als die Erinnerungen in seinem Kopf langsam wieder zum Leben erwachten, schien sein ganzer Körper schwerfälliger zu werden und um Jahre zu altern.
„Es waren wunderschöne Kinder. So schön wie meine Frau.“ Ein warmes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Und als sie älter wurden, ähnelten sie ihrer Mutter immer mehr. Sie waren ihr wie aus dem Gesicht geschnitten und ich liebte sie dafür. Ich sah wie schön Lisa, meine Frau, einmal war. Nur sie selber verzweifelte langsam daran.“
Joe lehnte sich gegen die kalte Betonwand, als reiche seine Kraft nicht mehr dazu ohne Hilfe zu stehen.
„Lisa ging ihnen aus dem Weg und kümmerte sich nicht um sie. Sie konnte ihren Anblick nicht ertragen, aber Florian und Anna, das waren ihre Namen, wollten nichts weiter, als bei ihrer Mutter sein.“ Joes Stimme brach bei den Namen seiner Kinder. „Wer kann es ihnen verübeln. Kinder gehören zu ihren Müttern. Lisa schickte sie immer öfter auf ihre Zimmer und irgendwann begann sie, sie einfach wegzuschließen, als wären sie Tiere. Hier in diesem Verschlag saßen sie immer öfter und durften nicht heraus. Und ich – ich tat gar nicht.“ Er heulte tränenlos. „Ich konnte nichts tun. Lisa ist die Liebe meines Lebens und ich wollte alles für sie tun. Also ging ich hinunter zu meiner Tochter und meinen Sohn uns sah sie lange an. Ihre Gesichter, in denen sich ihre Mutter spiegelte, waren so jung und unschuldig und dann schlug ich auf beide ein. Immer weiter, bis ihre wimmernden Schreie verklangen.“
Sämtliche Farbe war Kathrin aus dem Gesicht gewichen. „S-ie si-ind kran-k“, stotterte sie. „Oh ja, das bin ich. Was blieb mir auch anderes übrig, als krank zu werden. Eine Frau, die ich liebte, aber nicht geliebt werden wollte. Kinder, die vor sich hin vegetierten. Das war die einzige Lösung.“
Hinter Joe tauchte eine Gestalt auf. Es war seine Frau, seine gemalte Frau. Ihr Ungesicht erhob sich hinter ihm, ohne das er es bemerkte. Und sie war nicht allein. Zwei weitere gesichtslose Gestalten traten aus dem Gang in den Raum. Zum zweiten Mal konnte Kathrin einen Blick auf sie werfen, denn hier unten musste sie sich nicht in einer Glocke aus Düsternis verstecken. Alle drei sahen genauso aus, wie zuvor im Innern des Bildes. Ihre Kleider waren fließend, überzogen mit langen Rillen, geschaffen durch die Haare eines Pinsels. In Kathrin machte sich eine stumme Verzweiflung breit und Tränen flossen über ihre Wangen. Sie dachte an Manu, an die Kinder und das Schicksal dieser Familie, als eine andere Hand die ihre ergriff. Es war die Hand der Ehefrau und sie verzog ihr konturloses Gesicht zu einem grotesken Grinsen. Eine Geste, die unter ihrer Grausamkeit freundlich wirkte. Zart aber bestimmt zog sie Kathrin mit sich in den Verschlag hinein und kein Widerstand brandete in ihr dagegen auf. Die Bilder hatten sich nun um Joe aufgestellt, der noch immer nichts merkte und das letzte was Kathrin sah, bevor sie mit der Ehefrau für immer in der Dunkelheit verschwand, waren gemalte Hände, die sich um den Hals des Mannes legten.
Frühes Tageslicht fiel durch ein großes Fenster direkt auf das Bett, in dem eine junge Frau lag, die tief schlief. Neben ihr saß eine ältere Frau, die besorgt und mit Tränen in den Augen ihre Hand hielt. Auf dem kleinen Nachttisch standen frische Blumen und eine Flasche Wasser. Alles war in einem neutralen Weiß gehalten und in der Luft lag der typische Geruch von Desinfektions- und Reinigungsmitteln. Eine Tür ging auf und hinein kam eine Krankenschwester, die weitere Blumen in einer Vase hereinbrachte. Sie stellte sie ab und drehte sich zu der älteren Frau. „Ich soll ihnen sagen, dass alle Sachen von ihrer Tochter nun bei Ihnen sind. Auch das kaputte Bild, das man auf dem Boden gefunden hat.“
„Ja danke“, antwortete die Frau, „wenn Manu wieder aufwacht, wird sie all die Sachen sicherlich wieder haben wollen. Ich werde nicht aufgeben. Bitte sorgen sie sich um meine Tochter, egal wie lange es dauert.“
„Ja, natürlich“, antwortete die private Pflegeschwester, während Manu im Innern des dunklen Bildes saß, dem Weinen des Kindes lauschte und hoffte, dass ihr Körper irgendwann verhungern oder verdursten würde, damit sie aus diesem Alptraum entfliehen konnte.