Fast wie Unkraut jäten
Mein Vater heist Andreas und er ist Feuerwehrmann. Meine Mutter heist Monika und sie ist Rettungssanitäterin.
Timo muss einen Aufsatz schreiben. Herr Grube hat sie wählen lassen - zwischen “Wo arbeiten deine Eltern?” und “Was möchtest du einmal werden?” Timo entschied sich fürs erstere, denn mit Mamas und Papas Arbeit kennt er sich richtig gut aus. Wenn nur die Rechtschreibung nicht wäre… Aber da muss er durch.
Sie arbeiten jede Woche zu unterschidlichen zeiten. Wenn sie Nachtdinst haben zum beispil, kommen sie um halb siben uhr morgens nach Hause (die Mama eigentlich zehn Minuten speter weil auf irem Weg so vile Ampeln sind). Sie legen sich gleich schlafen, um für die nächste Schicht ausgerut zu sein. Das ist wichtig, um Menschen zu retten. Meistens steht die Mama -
Timo schaut auf das Doppelbett ihm gegenüber. Die Kissen sind schön aufgeschüttelt und die Decken zu ordentlichen Rechtecken zusammengefaltet. So mag es die Mama.
- eine Stunde früer auf als Papa um das Abendessen zu machen -
Niemand weiß, dass er hier seine Hausaufgaben macht. Seit er keinen Aufpasser mehr braucht.
Timo drückt seinen Rücken noch etwas stärker gegen die Wand. Sie ist hart. Am Anfang ist sie auch ziemlich kühl, aber er wärmt sie schnell mit seiner Haut. Der Teppich rutscht. Er ist dünn und orange, aber er hat ein hübsches Muster: zierliche, zart geschwungene Linien, die drei große Eichenblätter formen. Aber vielleicht irrt sich Timo - mit Bäumen kennt er sich nicht aus.
Bei seiner Arbeit tregt mein Papa eine besondere Kleidung. Meine Mama auch. Diese -
Timo blickt zu ihrem Kleiderschrank. Er ist hoch und breit und weiß. Und ziemlich leer. Papas Hälfte ist links, Mamas rechts. Zwei von Papas Hemden sind weiß, alle anderen hell- oder dunkelblau. Mama hat nur ihre Winterjacke aufgehängt, sie trägt am liebsten Jeans mit einem T-Shirt. Einmal, zu Papas 35. Geburtstag, hat sie einen Rock angezogen. Dazu - kleine Perlenohrringe. Sie liegen in der Schublade in der Kommode.
- Kleidung ist mit iren Namen versehen -
Die Kommode ist hellbraun. Sie hat zwei kleine und zwei große Fächer. In ihnen liegen stapelweise Mullbinden, verpackte Spritzen und Medikamente. Timo blickt zum Fenster über der Kommode. Nur der Himmel ist zu sehen. Und Licht.
- Sie haben sie -
Es ist ein sonniger Tag. Ein schwarzes Fleckchen flattert im warmen Blau herum.
Eine Elster?
Ein Spatz?
Timo weiß es nicht.
Sein Nacken fängt an wehzutun. Auch frieren seine Füße. Sich ein bisschen bewegen hilft. Timo steht auf und öffnet das Fenster. Heiße Luft drückt sich ihm ins Gesicht. Angenehm. Er sieht hinunter in den Garten. Dort stehen zwei Plastikstühle und… Frau Krämer. Jetzt sieht sie Timo auch und ruft zu ihm hinauf:
“Hallo Timo! Na sage mal, mein Junge, grad ebe hab ich bei euch geklingelt und keiner hat aufgemacht! Ich dacht schon, ’s wär was passiert - sonst bist doch immer zu Haus’!”
“Entschuldigung”, antwortet Timo unsicher. “Ich habe nichts gehört.”
“Vielleicht ist ja was mit der Klingel?” fragt Frau Krämer.
“Ich… weiß nicht”, antwortet Timo.
“Na, ist ja nich so schlimm!” sagt Frau Krämer. “Ich bring euch was von den Zwetschgen!”
Sie hebt das geflochtene Körbchen in ihrer Hand an.
“Danke”, sagt Timo leise.
Ihm fällt ein, Frau Krämer die Gartentür zu öffnen. Er eilt aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, durch die Küche. Er zieht an der Glastür und schon steht Frau Krämer vor ihm. Sie ist eine kräftige Frau und nur einen halben Kopf größer als er.
“Sage mal, Timo”, sagt sie, als er das volle Körbchen entgegennimmt. “Hast du nich Lust, mir ei bissche im Garten zu helfe? Das Unkraut muss raus und ein paar Blümlein geschnitte werde… Hast deine Hausaufgaben bestimmt schon fertig, du artiger Bub’!”
Nein, das hat Timo nicht. Trotzdem geht er mit Frau Krämer mit. Sogar barfuß.
Frau Krämer erklärt Timo, welche Pflanzen sie hat. Wie sie heißen. Wie sie wachsen. Wann sie wachsen. Welche von ihnen Früchte geben. Welche viel Wasser und Sonne brauchen und welche Schatten mögen. Timo schaut jede aufmerksam an. Sogar das Unkraut. Als Frau Krämer anfängt, es mit schnellen, ruckartigen Bewegungen auszuzupfen, tut es ihm leid. Vorsichtig fragt er, ob sie nicht ein Pflänzchen - nur eines - in der Erde lassen könnte.
Frau Krämer lacht.
“Mein lieber Junge!” ruft sie. “Es kommt doch wieder durch, egal, was man macht! Deshalb ist wirklich nich schad drum! Und außerdem stört‘s die andren beim Wachse.”
Dann zupfen sie gemeinsam und bald findet Timo es nicht mehr so schlimm. Sie schneiden mehrere rosa Rosen und stellen sie in eine bäuchige Vase und auf Frau Krämers Gartentisch. Dann setzen sie sich und trinken gekühlten Pfefferminztee.
Frau Krämer erzählt Timo von Tulpen, ihren Lieblingsblumen. Und von ihrem Haus, das ihr Mann gebaut hat. Der eine schlimme Krankheit hatte. Und von ihrem Sohn und ihren zwei Enkelinnen, die am Meer leben.
Timo erzählt Frau Krämer auch etwas: von seinem grimmigen Sportlehrer und seiner Zwei Plus im Erdkundetest.
Als er nach Hause kommt, stehen ihre Autos in der Garage.
Er hat vergessen, die Gartentür zu schließen.
Ob sie die Zwetschgen schon probiert haben? Er hat die letzten von Frau Krämer aufgegessen.
Der Aufsatz wartet. Was möchte er eigentlich einmal werden?