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Fatum

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12.08.2004
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Fatum

Neue Version findet sich hier

Stell´ Dir vor, Du gehst die Straße lang. Wegen mir kommst Du vom Einkaufen. Ein Brötchen in der Rechten. Die Linke in der Tasche. Für die Jahreszeit ist es zu kalt. Das ist ziemlich egal, denn Du hast große Pläne. Die Zukunft sieht aus, wie ein Kokosplätzchen. Nächsten Samstag Big Party bei Ronny. Seine Eltern haben den Fehler gemacht und sind ohne ihren Sohn ins ferne Kenia aufgebrochen. Die Freundin ist doch nicht schwanger.
"Ugh noch mal Schwein gehabt."
Dein Bild hat bei ner Ausstellung den ersten Preis gewonnen.
"Cool."
Deine Freunde und auch andere, die Du nicht zu deinen Freunden zählst, sagen, Du hättest Talent.
"Yeah hast du."
In drei Monaten machst Du dein Abitur. Eine Drei ist locker drin und dann steht nichts mehr im Wege. Wenn die Welt ruft, dann ...
Du merkst nicht mal, wie es vor Deinen Augen dunkel wird. Du bist einfach nicht mehr da.
Außenstehende, zum Beispiel der Mann der in der Warteschlange hinter Dir stand, geben zu Protokoll, daß es einen lauten Knall gab und dann hätte der Junge mit den ausgewaschenen Jeans und dem Wollkragenpullover plötzlich auf dem Fußweg gelegen. Neben ihm ein zerbrochener Dachziegel. Gewicht ungefähr zwei Kilo. Sah gar nicht gut aus. Der Hausbesitzer wohnt im Westen, der Dachdecker ist längst in Rente und außerdem wird das Haus in drei Monaten sowieso abgerissen. Akte zu. Stempel drauf.
"Frau Maier, sortieren Sie das bitte ein?"
Vielleicht ein teurer Grabstein von den Eltern. Schließlich haben sie für Dich und Deine Zukunft etwas zusammengespart.
Der Araber sagt, das ist Kismet. So ein Ziegel, der kommt alle 32 Jahre mal vom Dach und trifft einen Menschen. Du bist was Besonderes. Allah wird Dir einen Platz an seiner rechten Seite einräumen.
Die Bildzeitung wird das Schicksal beim Namen nennen. Zum Beispiel der Hausmeister Herr H. (48), der immer besoffen ist, seine Frau schlägt und vor drei Jahren einen Verkehrsunfall verursachte. Eine Nachbarin will gesehen haben, wie er vor zwei Wochen auf dem Dach herumstieg, um seine Rundfunkantenne geradezubiegen. Bloß, daß es eben die andere Seite des Schrägdaches war, aber das braucht man ja nicht zu schreiben.
Die Frage ist ja, ob es ein Schicksal gibt und wenn ja: "Warum trifft´s immer die Falschen?"
Aber trifft es die Falschen? Was wäre gewesen, wenn Du im Supermarkt noch eine Schokolade geholt hättest und hinter dem Mann, der später Zeuge war, bezahlt hättest. Dann wärest Du einige Minuten später Zeuge gewesen und später vielleicht ein guter Maler geworden. Und der Mann vor Dir. Naja. War sowieso arbeitslos, über die 50 und lebte von Sozialhilfe. Viele würden sagen, das wäre gerechter gewesen.
Besser wenn es ihn getroffen hätte, als so einen jungen Menschen. Voller Pläne. Aus der Blüte seines jungen bla, bla, bla...
Nehmen wir aber an, es stellt sich 20 Jahre später heraus, Du hast doch kein Talent und kein Schwein kauft Deine Bilder. Der Tag ein einziges Besäufnis. Du drehst durch und rennst mit ner Axt durch die Einkaufspassage. Währenddessen hätte der Arbeitslose, nach fünf Jahren einen langen Brief an den Minister geschrieben und mit seinen Vorschlägen das Rentensystem reformiert. Dann würden wir wieder sagen: "Naja, wenn das so ist..."
Man sieht das ist alles spekulativ und besteht aus nem einzigen Konjunktiv.
Ich habe gelesen, das Schicksal wird beschworen, um die menschliche Dummheit zu erklären. Und einen Satz vorher schreibt die Autorin:" Bei sehr intuitiven Wesen sind Schicksal und freier Wille ein und dasselbe."
Eine interessante Theorie, wenn man die folgende Geschichte kennt.

Wir steigen ein bei Hannes. Ja, nennen wir ihn Hannes, denn er heißt so. Er radelt nach Hause. Das kommt ziemlich oft vor, denn Hannes wohnt ziemlich weit weg, vom Schuß. Und so häufig Hannes auch radelt. Irgendwie ist er immer in Eile. Einerseits spart er ja eine Menge Zeit, durch das Radfahren, aber irgendwie schafft er´s jedesmal, die Zeit so geschickt zu vertrödeln, daß er am Limit fahren muß, um pünktlich zu sein. Heute ist Hannes mäßig schnell unterwegs. Einmal wegen dem starken Gegenwind und zum anderen weiß er noch nicht genau, was er zu Hause machen soll. Die Alternativen bestehen aus einem Buch, dem Fernseher, dem Computer oder einem Bett, das nach drei angeschlafenen Nächten in die engere Wahl kommen könnte. Mit einem Wort Hannes hat nichts vor, aber planlos radelt er keineswegs den Fußweg entlang. Es ist schon fast dunkel und er überlegt, ob er jetzt auf den letzten vier Kilometern noch das Licht auspacken soll. Dazu müßte er anhalten, die Handschuhe ausziehen, absteigen, den Rucksack abnehmen, diverse Dinge herauskramen und sie damit dem Nieselregen aussetzen, das Licht finden, es dran stecken und anmachen und dann wieder den Ausgangszustand herstellen. In der Zeit, so denkt sich Hannes und tritt etwas kräftiger in die Pedale, ist er schon fast zu Hause.
Plötzlich kreuzt jemand seine Spur. Hannes hat das vorausgesehen, weil er vorsichtig ist, wenn er auf dem Fußweg auf der falschen Seite und ohne Licht fährt. Der Mann hat also Glück, denn Hannes kommt trotz der schlechten Bremsen noch vor ihm zum stehen. Scheinbar weiß der Mann nichts von seinem Glück, denn er entschuldigt sich weder für seine spontane Aktion, noch regt er sich über das fußgängerfeindliche Verhalten mancher Radfahrer auf. Ihn interessieren andere Dinge weitaus mehr.
”Sache ma kennst de dich hier`n bißchen aus?”
Hannes entspannt sich etwas. Die Hände lassen die Bremsen los. Die Atmung beginnt wieder den Körper zu kontrollieren. Zeit, um sein Gegenüber zu betrachten. Der Drei-Tage-Bart ist wohl schon etwas älter. Eine alte Mütze sitzt schief auf dem Kopf. Die Jacke ist offen und gibt die Sicht auf einen dunklen ungewaschenen Wollpulover frei. In der Hand hält der Mann eine Plastiktüte. Als der Wind den Alkoholgeruch herüberweht, hat Hannes ein ziemlich klares Bild von Hobbies, Einkommen und Beruf des anderen.
”Naja”, meint er diplomatisch, ”ich bin ziemlich oft in der Gegend.”
Er ist sicher, daß er im folgenden einen Lokalität finden muß und ihm ist nicht sehr wohl dabei, denn eigentlich kennt er von der Gegend hier bloß diese Hauptstraße, die jeden zweiten Tag seinen Heimweg darstellt, wenn er vom Zeichen-Klub kommt.
”Weißte, wo die Hagedornstraße ist? Da muß ich nämlich hin.”
”Hagedornstraße?” Straßennamen kommen und gehen in Hannes Gehirn. Er weiß, daß er den Namen schon irgendwo gehört oder gesehen hat. Hagedorn. Ja sogar in der Gegend. Bloß wann und in welchem Zusammenhang. Auf alle Fälle spürt er, daß er mehr weiß, als der Mann. Er fühlt sich verpflichtet, zu helfen.
”Also Hagedornstraße.”
”Jaja.”
"Mmh", Er dreht sich etwas aus dem Wind. Diesen Atem dürfte man jetzt nicht anzünden. ”Tja. Also das hier ist die Reicker Straße.”
Hannes beobachtet den Mann, ob da eventuell was klingelt. Jemand, der ihn hierher bestellt hat, muß doch was von der Reicker Straße erzählt haben, wenn die Hagedornstraße in der Nähe sein soll. Scheinbar nicht. Keine Reaktion. "Die Reicker Straße", fährt er for, "ist die Hauptstraße hier..."
”Ne die Hagedornstraße. Ich muß zur Hagedornstraße. Die ham gesagt, ich muß hier aussteigen. Und dann hach, ich wes dor och nimmer.”
”Tja.”
Hannes beschließt den Mann nicht in irgendeine Richtung zu schicken, wahrscheinlich ist es besser, wenn der andere den nächsten fragt, der vorbeikommt.
”Tut mir leid. Ich weiß nur, daß das hier die Reicker Straße ist...”
”Ja...”, Der Mann schaut auf den Verkehr, der sich ununterbrochen vorbeiwälzt. ”Ich werd´s schon finden.”
”Alles klar.”
Hannes tritt in die Pedalen. So ein verdammter Mist! Und er ist sich so sicher, daß er den Namen in dieser Gegend schon mal gehört oder gelesen hat. Die nächste Einfahrt kommt. Eugen-Bracht-Straße. Soll er zurück, um dem Mann wenigstens diesen Namen zu nennen? Vielleicht fällt´s ihm dann wieder ein. Wahrscheinlich nicht. Er fährt weiter. Irgendwo muß es doch sein. Die nächste Einfahrt. Das Namensschild fehlt. Nicht, daß das jetzt die Hagedornstraße ist... Er blickt sich um, um eventuell einen Hinweis zu entdecken. Es ist schon zu finster. Wahrscheinlich ist sie´s nicht. Die nächste Einfahrt. Hier geht´s zum Tennisplatz rein. Eine Einfahrt. Tennisanlage? Hagedorn? Irgendwie klingt das vertraut. Er macht sich die Mühe, das Schild zu suchen und da, hinter dem Busch, als ein Auto es kurzzeitig anleuchtet, steht es: ”Hagedornplatz”
"Bingo!"
Eine Woge der Erleichterung überflutet ihn. Er wußte es! Irgendwie wußte er es. Das ist die Verbindung Tennisanlage und Hagedorn. Aber Platz? Ist das die Straße, die der Mann sucht? Was will er am Abend am Tennisplatz. Gewiß, dort gibt es eine kleine Kneipe, die nur Insidern bekannt ist. Aber den Weg hätte man ohne weiteres beschreiben können. Mit Hilfe von Tennis oder Kleingartensparte. Außerdem heißt es ja Hagedornplatz. Gibt es eine Straße, die hier weggeht? Hannes hat keine Lust, jetzt noch die Straße zu suchen. Die Frage ist, ob er zurückfährt und dem Mann wenigstens den Hinweis auf diesen Platz gibt. Die Frage ist, ob der Mann wirklich hierher will. Oder ob er ganz woanders hin will und es ihm nicht einfällt. Oder ob er überhaupt irgendwohin will.
Es ist völlig dunkel. Hannes schaut auf die Uhr. Er will auf alle Fälle irgendwohin und zwar nach Hause, morgen ist Klassenarbeit. Bestimmt hat der Mann schon jemanden anderes gefragt, nachdem ihm eingefallen ist, wo er wirklich hinwill.
Hannes fährt also nach Hause. Es sind noch drei Kilometer. Zwei Ampelkreuzungen und dann irgendwelche Nebenstraßen, wo sowieso keine Autos fahren. Er beschließt, daß das Licht im Rucksack bleiben kann. Die erste Ampelkreuzung kommt in Sicht. Die Straßenbahnampel bekommt gerade grün und Hannes weiß, daß im nächsten Augenblick auch die Fußgänger grün bekommen. Schließlich kennt er die Ampelphasen in- und auswendig. Er tritt heftiger in die Pedalen...

Schwenken wir kurz zu Mirko. Es ist Freitag abend. Mirko hat ne anstrengende Woche hinter sich. Einen Haufen Überstunden. Der Meister ist krank und er muß die Werkstatt alleine schmeißen. Der Lehrling zählt nicht, denn irgendwie hat der nicht ganz den Durchblick. Doch wie gesagt, jetzt ist Freitagabend, der Tag gelaufen und Mirko sitzt in seinem Lieblingsauto. Marke Mitsubishi. Das ist wichtig, denn bei dem Autotyp kann man 300er Reifen aufziehen. Die sind so breit, wie ne Walze. Optimale Straßenlage. Der Motor kann mehr, als die Polizei weiß. Wer´s nicht glaubt, braucht sich bloß mal den Sound anhören. Mirko kennt seinen Motorsound zur Genüge und darum läuft die Stereoanlage. Die Wattzahl würde Kenner schwindlig machen. Sagen wir mal, Mirko könnte eine komplette Disko damit beschallen. Gerade läuft sein Lieblingslied. Irgendein Technosong, dessen Beat, die Herzfrequenz beeiflussen kann. Neben Mirko sitzt seine Lieblingsfreundin, die noch viel besser dazu geeignet ist, den Blutdruck zu stimulieren. Freitags muß sie normalerweise arbeiten, aber heut hat sie sich frei genommen. Für Mirko.
Das ist also Mirkos Freitagabend. Im Lieblingsauto hämmert das Lieblingslied und daneben seine Lieblingsfrau, die ihre Hand auf seinem Knie hat. Mirko ist der King. Vergessen ist der Streß in der Woche. Sie werden jetzt zur Disko fahren, da feststellen, daß es zu voll ist und dann hat er da schon was vorbereitet zu Hause.
Da vorne ein Ampel, sie schaltet auf Gelb, doch das ist eigentlich nur für die beiden Fahrzeuge vor ihm von belang. Gelb ist noch nicht rot und Mirko kann in fünf Sekunden auf Hundert beschleunigen. Ein kurze Bewegung mit der rechten Stiefelspitze, die Reifen quietschen. Er schert nach rechts auf die Rechtsabbiegerspur aus. Die Ampel ist auf Rot und Mirko schon viel zu schnell, um noch anzuhalten. Der rechte Fuß geht nach vorn, bis es nicht weitergeht. Rechts taucht ein Schatten auf. Die Freundin schreit...
Beim Aufprall zeigte der Tachostand 94 Kilometer pro Stunde. Die Polizei wird das anhand der Bremsspur feststellen. Das, was vom Fahrrad übrig ist, liegt halb unter dem Mitsubishi. Hannes liegt 15 Meter davon entfernt. Man hat eine Decke über ihm ausgebreitet. Die Freundin sitzt noch im Auto. Sie weint hemmungslos. Wäre sie doch bloß auf Arbeit gegangen. Diesen Tag wird sie nie mehr vergessen. Nie wieder wird sie mit so einem Typen mitfahren und ihm die Hand auf´s Knie legen. Nie mehr wird sie ohne Angst an eine Kreuzung heranfahren.
Mirko sitzt im Polizeiauto. Mittlerweile hat er eine halbe Packung leergeraucht. Seine Hände zittern. Es hat zu regnen begonnen.
”Aber wenn ich´s ihnen doch sage.", stammelt er zum wiederholten Male. "Bei mir war noch Gelb-Rot, da ist der Bengel schon auf die Straße gefahren. Der hatte noch lange nicht grün. Außerdem habe ich ihn überhaupt nicht gesehen. Ohne Licht der muß doch nicht ganz dicht sein.”
”Irrtum”, der Polizist blättert in den Zeugenaussagen. ”Es war bereits eine Sekunde rot und die Ampel schaltet hier ziemlich schnell. Der Junge muß die Kreuzung gut gekannt haben. Er befuhr die Straße, als die Ampel gerade auf grün schaltete.”
”Scheiße”, murmelt Mirko. ”Wieso hatte der kein Licht und wieso hatte der´s so eilig?”
Das war´s. Mirkos Leben ist im Eimer. Hannes Leben ist zu Ende. Die Freundin wird nie mehr frei von Alpträumen sein. Die Ampel wird von einem Fachmann umgestellt werden, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Vielleicht ein Holzkreuz zur Mahnung, daß nach einem halben Jahr von der Straßenreinigung mitgenommen wird.
Wer Hannes am Anfang ins Herz geschlossen hat, wird überlegen, wie das Unglück hätte vermieden werden können. Dabei würden dann Mirkos Schnürsenkel, einer seiner Kunden, der Freitag noch sein Auto wiederhaben will, der Arbeitsplan der Freundin, ein Motordeffekt am Auto, etwas mehr Gegenwind und andere variable Größen eine Rolle spielen. Gehen wir aber zurück und schauen uns die Geschichte an, wie sie wirklich passiert ist.

Hannes stand am Hagedornplatz und überlegte, was er machen sollte. Zum einen war da sein Hefter, den er zu Hause durchnehmen mußte. Immerhin wollte im Abi auf drei kommen. Aber die paar Minuten waren theoretisch auch nicht entscheidend für´s Abi. Außerdem war da dieser Mann, der im Nieselregen umherirrte ohne richtiges Ziel. Wenn er jetzt nicht hinfuhr würde er sich vielleicht den ganzen Abend Gedanken machen und könnte auch nicht lernen.
Er wendete und fuhr zurück. Der Mann war nicht mehr da.
"Na toll!
Das war nicht fair! Er konnte es nicht glauben. Hannes fuhr noch etwas weiter in die Richtung und suchte auch die andere Straßenseite ab. Da tauchte der weiße Plastikbeutel im Scheinwerferlicht auf. Das war er. Der Mann war in die völlig falsche Richtung gelaufen. Als Hannes sich hinter ihm bemerkbar machte, reagierte er nicht.
”Hallo.”
Jetzt drehte er sich um und erkannte nicht sofort, wer da vor ihm stand, doch dann glitt ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, aber er sagte nichts.
Hannes, beschloß, keine Zeit zu verlieren. ”Da vorn ist der Hagedornplatz. Bei der Einfahrt zum Tennisplatz”, Er deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.
”Ja?”, der Mann überlegte. ”Ich weiß nicht. Die Straße hieß... glaube ich ...gar nicht so.”
Hannes war etwas ernüchtert. Er hatte gedacht, dem alten Mann würde nun einfallen, daß die Straße ein Platz war und eine Tennisanlage in die Wegbeschreibung mit eingeflochten war.
”Da ist ein Tennisplatz und Kleingärten.”
”Ist da auch ne Kaufhalle?”
Obwohl der Wind von hinten kam, roch man die Promille.
Sollte Hannes jetzt von der Kneipe reden? Oder war das nur ein Vorurteil? Vielleicht wollte der Mann einfach nur jemanden besuchen?
”Eine Kaufhalle. Die gibt´s hier nicht”, Hannes war zu 90 Prozent sicher. ”Da vorne ist die Eugen-Bracht-Straße und dann kommt links der Hagedornplatz. Eine Kaufhalle, da müssen sie noch zwei Stationen fahren. Bis Otto-Dix- Ring und dann...”
”Ne, ne. Ich sollte hier aussteigen.”
Hannes war hilflos. Wie sollte man helfen, wenn die betroffene Person nicht wußte, wohin sie wollte.
”Also am Hagedornplatz gibt es Kleingärten und hinten kommt der Tennisplatz.”
”Alte Reihenhäuser”, sagte der Mann.
”Die gibt´s hier überall.", Hannes wurde etwas ungeduldig. "Auch am Hagedornplatz.”
”Naja. Ich such` noch’n bißchen.”, der Mann wandte sich um und ging in die falsche Richtung. Hannes starrte ihm nach und betrachtete wie die baumelnde Plastiktüte langsam vom Dunkeln verschluckt wurde.
Dann seufzte er und wendete sein Rad. Ein wenig war er schon niedergeschlagen. Eine Kaufhalle, Reihenhäuser und was war nun mit der Hagedornstraße? Der Regen hatte zugenommen. Eigentlich hätte er schon lange zu Hause sein können. Verdammt! Er überlegte, ob er das Licht herausholte? Er entschied sich dagegen, es waren ja nur noch vier Kilometer, zwei Ampelkreuzungen und ein paar Nebenstraßen, wo sowieso kein Auto fuhr. Langsam setzte er sich in Bewegung.
Links kam gerade ein Mitsubishi die Straße entlang. Voll aufgemotzt die Karre. Getönte Scheiben und fette Reifen. Die Mucke volle Pulle. Bestimmt hatte der Typ ne geile Braut neben sich sitzen.
Hannes trat grinsend in die Pedalen.

 

Hallo macsoja,

eine interessante Geschichte über das Schicksal und der großen Auswirkung der auf dem ersten Blick kleinen Dinge im Leben, hat mir ganz gut gefallen.
Die Perspektive, mit der du von oben auf das Geschehen runterschaust und den Leser ansprichst fand ich gut. Ich hab mich gefragt, ob du den ersten Teil mit dem Dachziegel wirklich für die Geschichte brauchst, denn eigentlich geht es damit um zwei verschiedene Schicksale. Die inhaltlichen Gedanken zum Thema Kismet, Bildzeitung und so weiter sind sehr gut, aber die hättest du glaube ich auch im zweiten Teil unterbringen können. Nicht, dass mir die Geschichte mit dem begabten Abiturienten nicht gefallen hätte - es waren für mich nur zwei unterschiedliche Handlungsstränge rund um das Thema Schicksal.

Etwas konstruiert erschien mir die Situation, an der sich Hannes Schicksal entscheidet. Denn Hannes hatte ja schon den Eindruck, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen alkoholisierten Penner handelt. Ist es dann realistisch, dass er sich so viele Gedanken um ihn macht und überhaupt darüber nachdenkt, zurückzukehren um ihn zu informieren? Das schien mir zumindest etwas unwahrscheinlich.
Der Umschwung von Hannes zu Mirko als es gerade spannend wird ist gelungen, auch wenn spätestens als du Mirkos Auto beschreibst klar ist worauf es hinausläuft.

Ein paar Fehler hast du noch in der Geschichte, die Umgangssprache fand ich übrigens auch etwas störend, aber das ist Geschmackssache und gehört mit Sicherheit auch irgendwie zum Stil des Ich-Erzählers.

Stellt dir vor, du gehst die Straße lang.
Stell
Bloß das es eben die andere Seite des Schrägdaches war, aber das braucht man ja nicht zu schreiben.
Bloß, dass
Die Frage ist, gibt es ein Schicksal und warum trifft´s immer die falschen?
Falschen
Die Atmung beginnt wieder den Körper zu Kontrollieren.
kontrollieren
”Naja.”, meint er diplomatisch.
der Punkt ist zuviel, das hast du mehrfach beim Ende der wörtlichen Rede gemacht.
Oder ob er ganz woanders hinwill
hin will

Zum Schluss noch mein Senf zur Frage des Schicksals ;)

Bei sehr intuitiven Wesen sind Schicksal und freier Wille ein und dasselbe.
Diese Aussage find ich sehr klug und sie wird durch deine Geschichte auch irgendwie bewiesen. Dadurch, dass du beide Versionen erzählst, vermittelst du zwar einerseits eine Art Beliebigkeit - es hätte so aber auch anders passieren können. Grundsätzlich natürlich richtig. Die Frage ist, was sagt Hannes Bauchgefühl, seine Intuition? Nicht, dass er seine Lampe ans Fahrrad anbringen soll? Vielleicht ist es auch gerade sein Bauchgefühl, dass ihn dazu bringt zurückzufahren und seine Faulheit, die ihm in der anderen Version dazu bringt das GEfühl zu ignorieren? Ich glaube, dass es so etwas gibt, und dann gibt es Menschen, die sind sensibler für so etwas als andere. Das heißt für mich auch, so etwas wie Zufall gibt es nicht sondern alles passiert so, wie es am Besten ist - wenn man sich auf dieses Gefühl verlässt.

Damit es aufgrund des langen Kommentars jetzt nicht untergeht: ich hab deine Geschichte gerne gelesen!
Liebe Grüße
Juschi

 

Hi mac,

eine mal etwas andere Art, eine Geschichte zu schreiben. Nicht wie es im Lehrbuch steht, aber nicht uninteressant. ;)

Der erste Teil, ist für deinen Plot nicht unbedingt wichtig. Wie mein Vorredner schon sagte.
Du beschreibst interessant und anschaulich, das Schicksal zweier, nein eigentlicher dreier Menschen, wenn man die Freundin Mircos dazu zählt.
Denn auch für sie hat sich etwas verändert.

Ich kann nachvollziehen, dass Hannes dem Alten helfen will.
Würde mir, denke ich genau so gehen.
Zu wissen, dass da ein Mensch an einem ungemütlichen Abend durch die Gegend irrt, und ich selber gleich in meinem gemütlichen zu Hause sitze.
Ja, hätte wohl auch ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihm nicht geholfen hätte.
Insofern, ist es Schicksal. Hätte es etwas geändert, wenn Hannes das Licht am Fahrrad angebracht hätte?
Nee, glaub nicht. Mirco hatte zuviel Tempo drauf.
Obwohl, es wäre eine Zeitverschiebung zu stande gekommen und Hannes wäre dem Alten nie begegnet. (Oh Mann, ja ...) :(

Also, deine KG war gut.
Den ersten Teil würde ich weglassen, weil da erklärst du uns, was Schicksal bedeutet. Aber das mußt du nicht. :D

Der zweite Teil: Es ist in einer Kurzgeschichte nicht üblich, von einem Prot zum andern zu springen.
Du hättest die Szene mit Mirco, in zwei drei Sätzen einflechten können, um die Spannung zu halten/steigern. Obwohl man sich vorher schon denken kann, dass Hannes den Unfall haben wird.
Soll heißen, deine KG könnte im ganzen gestrafft und dadurch "atemloser" gestaltet werden.

ganz lieben Gruß, coleratio

 

Hi coleratio,

tscha, weißt Du ich bin eben nicht ganz sicher, ob wir hier von einer Kurzgeschichte reden. Denn es ist sowas wie´n Monolog, irgendwie, ne Überlegung und da ist diese Geschichte, die mit einer Lockerheit erzählt wird, die mir ziemlich wichtig ist. Dieses hätte wäre wenn. Das taucht ja oben auch noch mal auf. Vor allem so Gedanken, was passiert wäre, wenn man vorher nur kurz dieses und jenes gesagt, getan, verhindert hätte. Ist ne Diskussion.

Ich war teilweise überrascht, als manche gar nicht verstanden, daß er beim zweiten Mal überlebt und traurig waren, daß er es nicht schafft. Will sagen, so richtig Mühe habe ich mir nicht gegeben, mit dem Johannes.
Also er ist sozusagen eher ´n Werkzeug für den Autor. Und genauso ist es dann mit Mirko. Der Erzähler fungiert sozusagen als "Schicksal" oder als treibende, willkürliche Kraft.

Und damit ist die Frage, ob man in einer normalen Geschichte, wenn ich diese dann gestrafft hätte (einige Überlegungen von Johannes kann man durchaus knapper machen) und Johannes dann unter der Decke liegt, ob ich dann so cool sagen kann:

Und jetzt spülen wir zurück und machen es nochmal. Dann kriegt das erstmal nen kleinen Zeigefinger, von wegen: Kümmert Euch um die Bedürftigen und Ihr werdet belohnet.
Und außerdem springe ich dann völlig unmotiviert in eine andere Alternative.

Als Idee wäre natürlich, beide Handlungsstränge zu verweben und dann eben beide Geschichten gleichzeitig zu erzählen. Naja, aber das wollt´ ich ja dann nicht.
Wollte echt mal ne Diskussion führen und ein praktisches Beispiel bringen.

Das Licht hätte dahingehend was geändert, das Johannes vor allem etwas später an der Ampel gewesen wäre bzw. Mirko ihn im Notfall eher gesehen hätte. Aber das waren ja 2 Sekunden, die da reichen.

Habe jetzt mal die wörtliche Rede überarbeitet, einige Sachen versucht zu straffen. Am Grundkonstrukt würde ich erstmal nix ändern wollen. Auch wenn der Atem somit ziemlich normal bleibt ;)
Ist die Sprache wirklich so schlimm? Die Sprache des Mannes oder jetzt Hannes Gedanken?

Viele Grüße

mac

 

Hi mac,

ich habe nicht gesagt, dass deine Sprache schlimm ist.
ich finde sie für deine Geschichte sogar hervorragend. :)

Mir ist schon klar was du beabsichtigen wolltest. Hätte eine Diskussion werden können, wenn deine KG mehr gelesen worden wäre.
Und warum ist sie das wohl nicht? :schiel:

Hättest du am Schluß geschrieben, dass das Autovorbeigefahren ist, wäre dem Leser auch klar, dass dein Prot überlebt hat.

Muß sagen, nach dem nochmaligen lesen deiner Geschichte und das ist zumindest der zweite Teil, hat sie mir noch besser gefallen. :thumbsup:

lieben Gruß, coleratio

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi coleratio & juschi,

sorry die Frage war an Juschi gerichtet, muß ich mehr kennzeichnen, mmh?

Juschi schrieb:
...die Umgangssprache fand ich übrigens auch etwas störend, aber das ist Geschmackssache und gehört mit Sicherheit auch irgendwie zum Stil des Ich-Erzählers.
Sie hat zwar schon gesagt, daß es Geschmackssache ist, würde aber gern trotzdem wissen, wobei es wie gestört hat (auch für andere Sachen).

Auch @Juschi. Ich habe die beiden Teile jetzt ein bissl verbunden, indem ich bestimmte Teile (Zeichnen und Abi) bei Johannes mit reingebaut habe. Vielleicht isses dann organischer und die Zusammengehörigkeit deutlicher;)

@col
Jetzt ist das mit dem Überleben doch deutlich genug, nicht wahr? Ich meine, er betrachtet die Karre und wiederholt deren Eigenschaften, ich dachte, es ist klar, daß Mirko praktisch schon da ist.

Jetzt nochmal Juschi

Juschi schrieb:
Etwas konstruiert erschien mir die Situation, an der sich Hannes Schicksal entscheidet. Denn Hannes hatte ja schon den Eindruck, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen alkoholisierten Penner handelt. Ist es dann realistisch, dass er sich so viele Gedanken um ihn macht und überhaupt darüber nachdenkt, zurückzukehren um ihn zu informieren? Das schien mir zumindest etwas unwahrscheinlich.
Auch wenn es sich lange liest, so läuft das doch innerhalb von Sekunden ab, das Abwägen und Überlegen. Und ja, ich denke es ist wahrscheinlich, weil ich das damals nämlich wirklich überlegt ;)

Vielen Dank für Eure Mühe

mac

 

Hi mac,

so, jetzt hab ich doch noch erkannt, dass ich gemeint bin - und hier bin ich also.

Erstmal zum Thema Umgangssprache: in der wörtlichen Rede ist sie selbstverständlich okay. Gestört hat sie mich jetzt beim nochmaligen Lesen kaum noch, mir ist nur aufgefallen, dass du sie ab und an auch außerhalb der wörtlichen Rede benutzt, hier z.B.:

Dein Bild hat bei ner Ausstellung den ersten Preis gewonnen.
Hier fällt das "ner" aus dem Rahmen, da du in den vorherigen Sätzen keine Umgangssprache benutzt hast.

Bezüglich der unterschiedlichen Handlungsstränge: ich finde immer noch, dass du direkt bei Hannes einsteigen könntest und die grundsätzlichen Gedanken zum Thema Schicksal da mit unterbringen könntest, ohne den Dachziegel und die Bildzeitung. Die Gedanken haben mir wirklich gut gefallen, aber ich würde weiterhin vorschlagen, dass du dich auf den wesentlichen Handlungsstrang konzentrierst. Die Wechsel zwischen Hannes und Mirko hab ich dahingegen gelungen gefunden.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hi Juschi,

habe mir nochmal die Einleitung angeschaut und beschlossen, mich von einigen Sachen zu trennen. Allerdings soll es vom Aufbau her weiter eine Art Erörterung bleiben, nur daß ich die Schlenker in der Einleitung raus mache und sie so auf das Nötigste beschränke (evtl. später noch etwas mehr) und auch die umgangssprachlichen Sachen etwas geglättet habe.
Wichtig ist mir aber, daß ich erst etwas theoretisch durchspiele, der Zuschauer also vorbereitet ist und das gleiche trotz der Vorbereitung wieder passiert.
Damit wird eine ganz bestimmte Absicht verfolgt und das will ich nicht rausnehmen.

Im folgenden nun also die kürzere Variante...

tschüß
mac

 

Neue Version mit gekürzter Einleitung

Fatum

Stell Dir vor, Du gehst die Straße lang. Wegen mir kommst Du vom Einkaufen. Ein Brötchen in der Rechten. Die Linke in der Tasche. Für die Jahreszeit ist es zu kalt. Das ist ziemlich egal, denn Du hast große Pläne. Die Zukunft sieht aus, wie ein Kokosplätzchen. Dein Bild hat bei einer Ausstellung den ersten Preis gewonnen. Deine Freunde und auch andere, die Du nicht zu deinen Freunden zählst, sagen, Du hättest Talent. In drei Monaten machst Du dein Abitur. Eine Drei ist locker drin und dann steht nichts mehr im Wege. Dann wirst Du zuallererst einmal...
Du merkst nicht mal, wie es vor Deinen Augen dunkel wird. Du bist einfach nicht mehr da.
Außenstehende, zum Beispiel der Mann, der hinter Dir an der Kasse stand, geben zu Protokoll, daß es einen lauten Knall gab und dann hätte der Junge mit den ausgewaschenen Jeans und dem Wollkragenpullover plötzlich auf dem Fußweg gelegen. Neben ihm ein zerbrochener Dachziegel. Gewicht ungefähr zwei Kilo. Sah gar nicht gut aus. Der Hausbesitzer wohnt im Westen, der Dachdecker ist längst in Rente und außerdem wird das Haus in drei Monaten sowieso abgerissen. Akte zu. Stempel drauf.
"Frau Maier, sortieren Sie das bitte ein?"
Vielleicht ein teurer Grabstein von den Eltern. Schließlich haben sie für Dich und Deine Zukunft etwas zusammengespart.
Der Araber sagt, das ist Kismet. So ein Ziegel, der kommt alle 32 Jahre mal vom Dach und trifft einen Menschen. Du bist was Besonderes. Allah wird Dir einen Platz an seiner rechten Seite einräumen.
Und viele fragen sich dann, warum das Schicksal immer die Falschen trifft?
Aber trifft es die Falschen? Was wäre gewesen, wenn Du im Supermarkt noch eine Schokolade geholt hättest und hinter dem Mann, der später Zeuge war, bezahlt hättest. Dann wärest Du einige Minuten später Zeuge gewesen und später vielleicht ein guter Maler geworden. Und der Mann vor Dir. Naja. War sowieso arbeitslos, über die 50 und lebte von Sozialhilfe. Viele würden sagen, das wäre gerechter gewesen.
Besser wenn es so einen jungen Menschen getroffen hätte. Voller Pläne. Aus der Blüte seines jungen bla, bla, bla...
Nehmen wir aber an, es stellt sich 20 Jahre später heraus, Du hast doch kein Talent und kein Schwein kauft Deine Bilder. Der Tag ein einziges Besäufnis. Du drehst durch und rennst mit ner Axt durch die Einkaufspassage. Währenddessen hätte der Arbeitslose, nach fünf Jahren einen langen Brief an den Minister geschrieben und mit seinen Vorschlägen das Rentensystem reformiert. Dann würden wir wieder sagen: "Naja, wenn das so ist..."
Man sieht, das ist alles spekulativ und besteht aus nem einzigen Konjunktiv.
Einige sagen, es kommt so, wie es vorbestimmt ist. Andere erklären, das Schicksal wird beschworen, um die menschliche Dummheit zu erklären. Sie gehen sogar so weit und definieren:" Bei sehr intuitiven Wesen sind Schicksal und freier Wille ein und dasselbe."
Intuition also. Eine interessante Theorie, wenn man folgende Geschichte kennt.

Wir steigen ein bei Hannes. Ja, nennen wir ihn Hannes, denn er heißt so. Er radelt nach Hause. Das kommt ziemlich oft vor, denn Hannes wohnt ziemlich weit weg, vom Schuß. Und so häufig Hannes auch radelt. Irgendwie ist er immer in Eile. Einerseits spart er ja eine Menge Zeit, durch das Radfahren, aber irgendwie schafft er´s jedesmal, die Zeit so geschickt zu vertrödeln, daß er am Limit fahren muß, um pünktlich zu sein. Heute ist Hannes mäßig schnell unterwegs. Einmal wegen dem starken Gegenwind und zum anderen weiß er noch nicht genau, was er zu Hause machen soll. Die Alternativen bestehen aus einem Buch, dem Fernseher, dem Computer oder einem Bett, das nach drei angeschlafenen Nächten in die engere Wahl kommen könnte. Mit einem Wort Hannes hat nichts vor, aber planlos radelt er keineswegs den Fußweg entlang. Es ist schon fast dunkel und er überlegt, ob er jetzt auf den letzten vier Kilometern noch das Licht auspacken soll. Dazu müßte er anhalten, die Handschuhe ausziehen, absteigen, den Rucksack abnehmen, diverse Dinge herauskramen und sie damit dem Nieselregen aussetzen, das Licht finden, es dran stecken und anmachen und dann wieder den Ausgangszustand herstellen. In der Zeit, so denkt sich Hannes und tritt etwas kräftiger in die Pedale, ist er schon fast zu Hause.
Plötzlich kreuzt jemand seine Spur. Hannes hat das vorausgesehen, weil er vorsichtig ist, wenn er auf dem Fußweg auf der falschen Seite und ohne Licht fährt. Der Mann hat also Glück, denn Hannes kommt trotz der schlechten Bremsen noch vor ihm zum stehen. Scheinbar weiß der Mann nichts von seinem Glück, denn er entschuldigt sich weder für seine spontane Aktion, noch regt er sich über das fußgängerfeindliche Verhalten mancher Radfahrer auf. Ihn interessieren andere Dinge weitaus mehr.
”Sache ma kennst de dich hier`n bißchen aus?”
Hannes entspannt sich etwas. Die Hände lassen die Bremsen los. Die Atmung beginnt wieder den Körper zu kontrollieren. Zeit, um sein Gegenüber zu betrachten. Der Drei-Tage-Bart ist wohl schon etwas älter. Eine alte Mütze sitzt schief auf dem Kopf. Die Jacke ist offen und gibt die Sicht auf einen dunklen ungewaschenen Wollpulover frei. In der Hand hält der Mann eine Plastiktüte. Als der Wind den Alkoholgeruch herüberweht, hat Hannes ein ziemlich klares Bild von Hobbies, Einkommen und Beruf des anderen.
”Naja”, meint er diplomatisch, ”ich bin ziemlich oft in der Gegend.”
Er ist sicher, daß er im folgenden einen Lokalität finden muß und ihm ist nicht sehr wohl dabei, denn eigentlich kennt er von der Gegend hier bloß diese Hauptstraße, die jeden zweiten Tag seinen Heimweg darstellt, wenn er vom Zeichen-Klub kommt.
”Weißte, wo die Hagedornstraße ist? Da muß ich nämlich hin.”
”Hagedornstraße?” Straßennamen kommen und gehen in Hannes Gehirn. Er weiß, daß er den Namen schon irgendwo gehört oder gesehen hat. Hagedorn. Ja sogar in der Gegend. Bloß wann und in welchem Zusammenhang. Auf alle Fälle spürt er, daß er mehr weiß, als der Mann. Er fühlt sich verpflichtet, zu helfen.
”Also Hagedornstraße.”
”Jaja.”
"Mmh", Er dreht sich etwas aus dem Wind. Diesen Atem dürfte man jetzt nicht anzünden. ”Tja. Also das hier ist die Reicker Straße.”
Hannes beobachtet den Mann, ob da eventuell was klingelt. Jemand, der ihn hierher bestellt hat, muß doch was von der Reicker Straße erzählt haben, wenn die Hagedornstraße in der Nähe sein soll. Scheinbar nicht. Keine Reaktion. "Die Reicker Straße", fährt er for, "ist die Hauptstraße hier..."
”Ne die Hagedornstraße. Ich muß zur Hagedornstraße. Die ham gesagt, ich muß hier aussteigen. Und dann hach, ich wes dor och nimmer.”
”Tja.”
Hannes beschließt den Mann nicht in irgendeine Richtung zu schicken, wahrscheinlich ist es besser, wenn der andere den nächsten fragt, der vorbeikommt.
”Tut mir leid. Ich weiß nur, daß das hier die Reicker Straße ist...”
”Ja...”, Der Mann schaut auf den Verkehr, der sich ununterbrochen vorbeiwälzt. ”Ich werd´s schon finden.”
”Alles klar.”
Hannes tritt in die Pedalen. So ein verdammter Mist! Und er ist sich so sicher, daß er den Namen in dieser Gegend schon mal gehört oder gelesen hat. Die nächste Einfahrt kommt. Eugen-Bracht-Straße. Soll er zurück, um dem Mann wenigstens diesen Namen zu nennen? Vielleicht fällt´s ihm dann wieder ein. Wahrscheinlich nicht. Er fährt weiter. Irgendwo muß es doch sein. Die nächste Einfahrt. Das Namensschild fehlt. Nicht, daß das jetzt die Hagedornstraße ist... Er blickt sich um, um eventuell einen Hinweis zu entdecken. Es ist schon zu finster. Wahrscheinlich ist sie´s nicht. Die nächste Einfahrt. Hier geht´s zum Tennisplatz rein. Eine Einfahrt. Tennisanlage? Hagedorn? Irgendwie klingt das vertraut. Er macht sich die Mühe, das Schild zu suchen und da, hinter dem Busch, als ein Auto es kurzzeitig anleuchtet, steht es: ”Hagedornplatz”
"Bingo!"
Eine Woge der Erleichterung überflutet ihn. Er wußte es! Irgendwie wußte er es. Das ist die Verbindung Tennisanlage und Hagedorn. Aber Platz? Ist das die Straße, die der Mann sucht? Was will er am Abend am Tennisplatz. Gewiß, dort gibt es eine kleine Kneipe, die nur Insidern bekannt ist. Aber den Weg hätte man ohne weiteres beschreiben können. Mit Hilfe von Tennis oder Kleingartensparte. Außerdem heißt es ja Hagedornplatz. Gibt es eine Straße, die hier weggeht? Hannes hat keine Lust, jetzt noch die Straße zu suchen. Die Frage ist, ob er zurückfährt und dem Mann wenigstens den Hinweis auf diesen Platz gibt. Die Frage ist, ob der Mann wirklich hierher will. Oder ob er ganz woanders hin will und es ihm nicht einfällt. Oder ob er überhaupt irgendwohin will.
Es ist völlig dunkel. Hannes schaut auf die Uhr. Er will auf alle Fälle irgendwohin und zwar nach Hause, morgen ist Klassenarbeit. Bestimmt hat der Mann schon jemanden anderes gefragt, nachdem ihm eingefallen ist, wo er wirklich hinwill.
Hannes fährt also nach Hause. Es sind noch drei Kilometer. Zwei Ampelkreuzungen und dann irgendwelche Nebenstraßen, wo sowieso keine Autos fahren. Er beschließt, daß das Licht im Rucksack bleiben kann. Die erste Ampelkreuzung kommt in Sicht. Die Straßenbahnampel bekommt gerade grün und Hannes weiß, daß im nächsten Augenblick auch die Fußgänger grün bekommen. Schließlich kennt er die Ampelphasen in- und auswendig. Er tritt heftiger in die Pedalen...

Schwenken wir kurz zu Mirko. Es ist Freitag abend. Mirko hat ne anstrengende Woche hinter sich. Einen Haufen Überstunden. Der Meister ist krank und er muß die Werkstatt alleine schmeißen. Der Lehrling zählt nicht, denn irgendwie hat der nicht ganz den Durchblick. Doch wie gesagt, jetzt ist Freitagabend, der Tag gelaufen und Mirko sitzt in seinem Lieblingsauto. Marke Mitsubishi. Das ist wichtig, denn bei dem Autotyp kann man 300er Reifen aufziehen. Die sind so breit, wie ne Walze. Optimale Straßenlage. Der Motor kann mehr, als die Polizei weiß. Wer´s nicht glaubt, braucht sich bloß mal den Sound anhören. Mirko kennt seinen Motorsound zur Genüge und darum läuft die Stereoanlage. Die Wattzahl würde Kenner schwindlig machen. Sagen wir mal, Mirko könnte eine komplette Disko damit beschallen. Gerade läuft sein Lieblingslied. Irgendein Technosong, dessen Beat, die Herzfrequenz beeiflussen kann. Neben Mirko sitzt seine Lieblingsfreundin, die noch viel besser dazu geeignet ist, den Blutdruck zu stimulieren. Freitags muß sie normalerweise arbeiten, aber heut hat sie sich frei genommen. Für Mirko.
Das ist also Mirkos Freitagabend. Im Lieblingsauto hämmert das Lieblingslied und daneben seine Lieblingsfrau, die ihre Hand auf seinem Knie hat. Mirko ist der King. Vergessen ist der Streß in der Woche. Sie werden jetzt zur Disko fahren, da feststellen, daß es zu voll ist und dann hat er da schon was vorbereitet zu Hause.
Da vorne ein Ampel, sie schaltet auf Gelb, doch das ist eigentlich nur für die beiden Fahrzeuge vor ihm von belang. Gelb ist noch nicht rot und Mirko kann in fünf Sekunden auf Hundert beschleunigen. Ein kurze Bewegung mit der rechten Stiefelspitze, die Reifen quietschen. Er schert nach rechts auf die Rechtsabbiegerspur aus. Die Ampel ist auf Rot und Mirko schon viel zu schnell, um noch anzuhalten. Der rechte Fuß geht nach vorn, bis es nicht weitergeht. Rechts taucht ein Schatten auf. Die Freundin schreit...
Beim Aufprall zeigte der Tachostand 94 Kilometer pro Stunde. Die Polizei wird das anhand der Bremsspur feststellen. Das, was vom Fahrrad übrig ist, liegt halb unter dem Mitsubishi. Hannes liegt 15 Meter davon entfernt. Man hat eine Decke über ihm ausgebreitet. Die Freundin sitzt noch im Auto. Sie weint hemmungslos. Wäre sie doch bloß auf Arbeit gegangen. Diesen Tag wird sie nie mehr vergessen. Nie wieder wird sie mit so einem Typen mitfahren und ihm die Hand auf´s Knie legen. Nie mehr wird sie ohne Angst an eine Kreuzung heranfahren.
Mirko sitzt im Polizeiauto. Mittlerweile hat er eine halbe Packung leergeraucht. Seine Hände zittern. Es hat zu regnen begonnen.
”Aber wenn ich´s ihnen doch sage.", stammelt er zum wiederholten Male. "Bei mir war noch Gelb-Rot, da ist der Bengel schon auf die Straße gefahren. Der hatte noch lange nicht grün. Außerdem habe ich ihn überhaupt nicht gesehen. Ohne Licht der muß doch nicht ganz dicht sein.”
”Irrtum”, der Polizist blättert in den Zeugenaussagen. ”Es war bereits eine Sekunde rot und die Ampel schaltet hier ziemlich schnell. Der Junge muß die Kreuzung gut gekannt haben. Er befuhr die Straße, als die Ampel gerade auf grün schaltete.”
”Scheiße”, murmelt Mirko. ”Wieso hatte der kein Licht und wieso hatte der´s so eilig?”
Das war´s. Mirkos Leben ist im Eimer. Hannes Leben ist zu Ende. Die Freundin wird nie mehr frei von Alpträumen sein. Die Ampel wird von einem Fachmann umgestellt werden, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Vielleicht ein Holzkreuz zur Mahnung, daß nach einem halben Jahr von der Straßenreinigung mitgenommen wird.
Wer Hannes am Anfang ins Herz geschlossen hat, wird überlegen, wie das Unglück hätte vermieden werden können. Dabei würden dann Mirkos Schnürsenkel, einer seiner Kunden, der Freitag noch sein Auto wiederhaben will, der Arbeitsplan der Freundin, ein Motordeffekt am Auto, etwas mehr Gegenwind für Hannes und andere variable Größen eine Rolle spielen. Gehen wir aber zurück und schauen uns die Geschichte an, wie sie wirklich passiert ist.

Hannes stand am Hagedornplatz und überlegte, was er machen sollte. Zum einen war da sein Hefter, den er zu Hause durchnehmen mußte. Immerhin wollte im Abi auf drei kommen. Aber die paar Minuten waren theoretisch auch nicht entscheidend für´s Abi. Außerdem war da dieser Mann, der im Nieselregen umherirrte ohne richtiges Ziel. Wenn er jetzt nicht hinfuhr würde er sich vielleicht den ganzen Abend Gedanken machen und könnte auch nicht lernen.
Er wendete und fuhr zurück. Der Mann war nicht mehr da. Hannes war ernüchtert. Das war nicht fair! Er konnte es nicht ganz glauben. Warum war er umgekehrt. Damit es nicht ganz umsonst war, fuhr Hannes noch etwas weiter in die Richtung und suchte auch die andere Straßenseite ab. Da tauchte der weiße Plastikbeutel im Scheinwerferlicht auf. Das war er! Der Mann war in die völlig falsche Richtung gelaufen. Als Hannes sich hinter ihm bemerkbar machte, reagierte er nicht.
”Hallo.”
Jetzt drehte der Andere sich um und erkannte nicht sofort, wer da vor ihm stand, doch dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht, aber er sagte nichts.
Hannes, beschloß, keine Zeit zu verlieren. ”Da vorn ist der Hagedornplatz. Bei der Einfahrt zum Tennisplatz”, er deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.
”Ja?”, der Mann überlegte. ”Ich weiß nicht. Die Straße hieß... glaube ich ...gar nicht so.”
Hannes´ Stimmung sank wieder. Er hatte gedacht, dem alten Mann würde nun einfallen, daß die Straße ein Platz war und eine Tennisanlage in die Wegbeschreibung mit eingeflochten war.
”Da ist ein Tennisplatz und Kleingärten.”
”Ist da auch ne Kaufhalle?”
Obwohl der Wind von hinten kam, roch man die Promille.
Sollte Hannes jetzt von der Kneipe reden? Oder war das nur ein Vorurteil? Vielleicht wollte der Mann einfach nur jemanden besuchen?
”Eine Kaufhalle. Die gibt´s hier nicht”, er war sich zu 90 Prozent sicher. ”Da vorne ist die Eugen-Bracht-Straße und dann kommt links der Hagedornplatz. Eine Kaufhalle, da müssen sie noch zwei Stationen fahren. Bis Otto-Dix- Ring und dann...”
”Ne, ne. Ich sollte hier aussteigen.”
Hannes war hilflos. Wie sollte man helfen, wenn die betroffene Person nicht wußte, wohin sie wollte.
”Also am Hagedornplatz gibt es Kleingärten und hinten kommt der Tennisplatz.”
”Alte Reihenhäuser”, sagte der Mann.
”Die gibt´s hier überall", Hannes wurde etwas ungeduldig. "Auch am Hagedornplatz.”
”Naja. Ich such` noch’n bißchen”, der Mann wandte sich um und ging in die falsche Richtung. Hannes starrte ihm nach und betrachtete wie die baumelnde Plastiktüte langsam vom Dunkeln verschluckt wurde.
Dann seufzte er und wendete sein Rad. Irgendwie hatte er das Gefühl, es vermasselt zu haben. Eine Kaufhalle, Reihenhäuser und was war nun mit der Hagedornstraße? Der Regen hatte zugenommen. Eigentlich hätte er schon lange zu Hause sein können. Verdammt! Er überlegte, ob er das Licht herausholte? Er entschied sich dagegen, es waren ja nur noch vier Kilometer, zwei Ampelkreuzungen und ein paar Nebenstraßen, wo sowieso kein Auto fuhr. Langsam setzte er sich in Bewegung.
Links kam gerade ein Mitsubishi die Straße entlang. Voll aufgemotzt die Karre. Getönte Scheiben und fette Reifen. Die Mucke volle Pulle. Bestimmt hatte der Typ ne geile Braut neben sich sitzen.
Einen kurzen Augenblick schaute Hannes dem Auto verträumt nach. Dann trat er grinsend in die Pedalen.

 

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