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Federleichtes Kettenkleid
„Wenn die Sterne in der dunkelsten Nacht am hellsten strahlen, was kümmert einen dann noch der Mond?“
Der Mann mit dem schwarzen Zylinderhut und den roten Handschuhen macht eine einladende Bewegung auf dem kleinen Podest, während die grellen Scheinwerfer die funkelnden Augen der Zuschauer enthüllen. Ein breites Grinsen befindet sich auf den Lippen des Zirkusdirektors, dessen ersten Worte das Publikum lieblich in ihren Bann einfangen. Die gehobenen Mundwinkel wirken nicht pathetisch oder freundlich, sie schauen ganz natürlich aus, als wäre solch ein Gesichtsausdruck die normalste Norm aller Normen der Mimik. Sie verführen an einen verlorenen Ort, der nicht gefunden werden will.
„Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute bei uns willkommen heißen zu dürfen. Ich werde Ihnen Dinge zeigen, die Sie vermutlich noch nie in Ihrem Leben gesehen haben, schöne und auch unschöne Dinge präsentieren, bei denen Sie nicht die Wahl haben werden. Fliehen Sie, solange Sie noch können, denn Sie werden nicht mehr zurückkommen wollen. Sie werden benebelt von mir sein, Gefangene Ihrer selbst und doch frei sein. Sie werden Zuhause ankommen.“
Es klingt nach einer süßen Melodie, die man damals gehört, vergessen und Jahrzehnte später wiedererkannt hat. Sie legt sich sachte wie eine Decke, aber unentrinnbar wie Fesseln um den Verstand des Auditoriums. Das Gewicht könnte die ahnungslosen Zuschauer erdrücken, denn sie glauben dem Mann, der in diesem langen Mantel vor ihnen steht und sein Gesicht halb unter der schwarzen Hutkrempe verbirgt, nicht – sie denken, es wäre reine Rhetorik. Das haben sie nie anders getan.
„Mein Name ist Hypno.“
Für einen kurzen Moment hebt er den Kopf, graue Murmeln blitzen aus den Augenhöhlen auf. „Wir schreiben das Jahr 1898. Ich begrüße Sie noch einmal herzlichst an diesem Ort. Genießen Sie die Show!“
Die leblosen Pupillen und die versteinerten Glieder tangierten ihn jedes Mal nach der Vorstellung aufs Neue. Einige Körper haben eine starre Haltung auf den Sitzbänken eingenommen, andere wälzen sich noch zuckend wie in Agonie auf dem Boden und geben gurgelnde Geräusche von sich, als würden sie gerade erwürgt werden. Der Anschein bestätigt sich durch die sichtbar blauen Geschwüre am Hals derjenigen mit kornblumenblauem Kleidungsstück. An einem Holzmast lehnt ein junger Mann mit blutigen Extremitäten, die an den Knöcheln angeknabbert oder teilweise herausgerissen wurden, sodass weiße Knochen aus dem rötlichen Gewebe herausragen. Ein abgetrennter Kopf, dessen verbrannte Haut und Haare die Schönheit der einst attraktiven Gesichtszüge nur mühevoll erahnen lassen, baumelt von der Zirkusdecke an einem Seil herunter. Nackte Leiber mit geöffneten Bauchhöhlen, aus denen wenige Eingeweide quellen, stapeln sich wie groteske Fleischspieße auf Pfählen.
Es ist schwer zu sagen, ob die Menge tot ist oder unmittelbar davorsteht.
Mittlerweile bewegen sich die Menschengestalten nicht. Ihre Positur ist so unterschiedlich und facettenreich wie Skulpturen, die sich spontan dazu entschieden haben, die Stellung einer Tee trinkenden Dame oder die Fortsetzung eines billigen Horrorfilms einzunehmen. Tatsächlich ist es wahr. Man hat sie wohl in den Zustand, in welchem sie fern jedweder Logik waren, versetzt und ihnen den Bezug zu Wirklichem geraubt. Welches Motiv sie zum Handeln gebracht hat – darauf konnte kein Außensteher Einfluss nehmen. Wie die primitivsten Tiere sind sie mit Brachialgewalt aus dem Käfig unterdrückter Triebe, Ängste und Vorstellungen ausgebrochen, um unter den hellsten Sternen der dunkelsten Nacht ihre Freiheit zu tanzen.
Das Rascheln der zerfetzten Vorhänge und das Bild der Masse und der grellbunten Eintrittskarten, die überall verstreut liegen, mag obszön anmuten, jedoch geht von diesem eine nicht zu verleugnende Wirkung auf den Zirkusdirektor aus. Es beruhigt ihn auf eine Weise, nicht anstößig oder obsessiv. Es erfüllt ihn mit einem Gefühl des Lebens, als wäre er dem Lastwagen, der auf ihn zufährt, knapp entkommen und er würde nun eine Erleichterung verspüren - dass den Leuten etwas geschenkt wurde, das unbezahlbar und einzigartig ist. Etwas, das sie von dem federleichten Kettenkleid aus Lügen und Oberflächlichkeiten getrennt hat:
ihre wahre menschliche Natur.