Was ist neu

Feenhaar

Seniors
Beitritt
30.06.2004
Beiträge
1.432
Zuletzt bearbeitet:

Feenhaar

Für gnafu

„Nicht schon wieder!“ Schon bevor sie die Augen aufschlug, wusste Sai, dass die Feen wieder da gewesen waren. Es war, als wäre ihr Kopfkissen auf die doppelte Größe angeschwollen und bedecke nun ihre Ohren. Sie seufzte leise, wälzte sich auf die Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Der Fußboden war eisig unter ihren bloßen Sohlen, aber das war sie gewohnt. Sie gähnte und streckte sich, während sie versuchte, nicht in den billigen Kupferspiegel an der anderen Hüttenwand zu sehen. So lange sie die Bescherung nicht sah ...
Es war vergebens, wie magisch angezogen huschte ihr Blick zu dem Spiegelbild. Ihr Haar war ein einziges Chaos aus Knoten und Knötchen, zusammengedrehten Strähnen, wirr verflochtenen Zöpfen und Büscheln, die an Vogelnester erinnerten. Das ganze Gebilde war dermaßen dicht und dick, dass ihr Gesicht darunter seltsam schmal aussah, beinahe als wäre sie selbst eine Fee. Wieder seufzte Sai und wandte sich zu ihrer großen Schwester um, die noch im Bett lag, fest in die Wolldecke eingewickelt. Zögernd berührte Sai sie an der Schulter. Elethie konnte sehr ungehalten werden, wenn sie eigentlich noch schlafen wollte.
„Kann ich deine Bürste haben, Elie?“
Elethie knurrte, zog die Decke enger an sich und drehte sich von Sai weg.
„Elie?“
„Schon wieder?“
„Ja.“
„Kauf dir deine eigene Bürste!“, murrte ihre Schwester, aber Sai konnte an ihrem Tonfall hören, dass sie gewonnen hatte.
„Danke“, flüsterte sie, richtete sich auf und huschte zu dem Bord hinüber, wo Elethie ihre wenigen Besitztümer aufbewahrte. Sie schnappte sich die Holzbürste und kehrte vor den Spiegel zurück. Mit einem letzten Seufzer machte sie sich daran, die Knoten aus ihrem Haar zu entfernen.
Es dauerte fast eine Stunde. Während sie sich kämmte, konnte Sai hören, wie ihre Eltern im Nachbarzimmer aufstanden, kurz darauf kam ihre Mutter in die Stube und begann, Frühstück zu bereiten. Sie schenkte Sai einen mitleidigen Blick.
„Schon wieder?“
Sai antwortete nicht darauf, sondern presste nur die Lippen fester aufeinander, bemüht, nicht vor Schmerz aufzuschreien. Diese verflixten Knoten.
Das Klappern der Töpfe und der Geruch nach gebratenen Eiern lockte schließlich auch Elethie aus dem Bett, die sich mit einem Seitenblick auf Sai daran machte, ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Ihr Vater war der Letzte, der in der Stube erschien, noch etwas verschlafen zu Sai hinüber sah, und – natürlich – fragte: „Schon wieder?“
Sai seufzte abermals. „Ich gehe heute zur Kräuterfrau. Vielleicht weiß die, was zu tun ist.“

~​

Früher hatte sie nie eine Bürste gebraucht.
Schon bei ihrer Geburt hatte Saisanne, die Tochter des Schafhirten langes glattes goldrotes Haar gehabt, das wie Seide glänzte und so zart und fein war, dass es niemals zu verfilzen schien. Feenhaar sagten die Leute aus dem Dorf und kamen immer mal wieder vorbei, um über Sais Kopf zu streichen, oder eine Strähne zu erbetteln. Sie glaubten, das bringe Glück.
Selbst, als Sai älter geworden war, hatte sich daran nur wenig geändert. Es kamen vielleicht nicht mehr so häufig Leute, aber immer mal wieder geschah es, dass Sai einen Fremden oder auch einen Nachbarn dabei ertappte, wie er am Zaun lehnte und ihr beim Arbeiten im Vorgarten zusah. Ihrer Mutter gegenüber behauptete sie, das ihr das auf die Nerven ging, aber insgeheim musste sie zugeben, dass sie stolz auf ihre Haare war. Sie waren kaum geschnitten worden und sie trug sie immer offen, so dass sie wie ein goldener Schleier über ihren Rücken hinab fielen. Selbst, wenn sie das bei ihrer Arbeit behinderte, das Opfer war es ihr wert. Besonders in letzter Zeit, als ihr aufgefallen war, dass sich Jossond, der Sohn des Meiers auffällig oft an ihrem Zaun herumtrieb.
Doch das war alles vor den Feen gewesen.
Wenn sie nur gewusst hätte, auf welche Weise sie die launischen Hausgeister verärgert hatte, dass sie Nacht für Nacht in die Stube kamen und ihr Haar verknoteten. Sai konnte sich beim besten Willen an Nichts erinnern, womit sie das verdient hatte. Aber bei diesen Wesen wusste man ja nie. Vielleicht hatten sie selber ein Auge auf den Sohn des Meiers geworfen, vielleicht waren sie einfach nur eifersüchtig auf Sais Haarpracht oder erbost, dass die Menschen sagten, es sei Feenhaar. Wer konnte das schon sagen.
Die ersten paar Tage hatte Sai die Knoten jeden Morgen geduldig ausgekämmt. Irgendwann würde es schon aufhören, so sagte sie sich. Doch die Feen gaben nicht auf.

~​

„Hast du ihnen Brot und Milch vor die Schwelle gestellt, wie ich dir gesagt habe?“ Die Kräuterfrau stand mit einer Hand in den Rücken gestützt da und äugte zweifelnd zu Sai hinauf. Die ewige Gartenarbeit hatte ihren Rücken gebeugt und ihre Haut fast schwarz gebrannt. Wenn Sai nicht so verzweifelt gewesen wäre, wegen der Feen, hätte sie sich zu sehr vor ihr gefürchtet, um sie anzusprechen. Aber die Alte – Claire – war eigentlich ganz freundlich, hatte sie feststellen müssen. Wenn man ihr überhaupt etwas vorwerfen konnte, dann war das, dass sie ein bisschen viel redete. Wahrscheinlich war sie ein bisschen einsam.
Sai strich eine Strähne hinter ihr linkes Ohr. „Das habe ich getan. Und ich habe die Pfote eines Fehs über das Fenster gehängt, Lavendelblüten gestreut und meine Haare mit Honigwasser gewaschen. Es hilft nichts. Sie kommen immer wieder.“
Claire kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Seltsam, sehr seltsam“, murmelte sie. „Du musst sie wirklich sehr wütend gemacht haben. Normalerweise lassen sie sich recht leicht besänftigen. Weißt du, in meiner Jugend habe ich sie auch einmal verärgert. Ich war so schön wie das Mondlicht selber und wenn ich im Wald spazieren ging ...“
„Aber was soll ich denn noch tun?“, unterbrach Sai die Alte. Sie kannte die Geschichte nur zu gut und hatte wenig Lust, wieder eine halbe Stunde zu lauschen. Ihr Vater schimpfte sowieso schon, weil ihre Arbeit liegen blieb, wenn sie zur Kräuterfrau ging.
Claire wiegte bedächtig den Kopf hin und her, sagte aber nichts.
„Bitte, gibt es nicht etwas, das sie ganz einfach aus unserem Haus vertreibt?“, flehte Sai.
Claire schnaubte durch die Nase und kniff ihr fest in den Oberarm. „Feen vertreiben? Bist du noch bei Sinnen, Kind, willst du ihren Fluch auf deine ganze Familie laden? Wer soll die Tiere beruhigen, wenn sie krank sind, den Boden fegen, die Krankheiten fernhalten. Wer wird für frisches Wasser und kräftiges Gemüse im Garten sorgen, wenn nicht die Feen? Selbst, wenn ich wüsste, wie man sie vertreibt, würde ich es dir nicht sagen, dummes Ding!“
Sai rieb sich die Stelle, wo Claires Finger zugekniffen hatten. „Und was ...“
„Sing ihnen ein Lied!“, unterbrach Claire sie in ungeduldigem Tonfall.
„Was?“
„Ein Lied, bevor du schlafen gehst. Ein Abendlied. Oder ein Liebeslied, das hören sie besonders gerne. Spielst du irgendein Instrument?“
„Schilfflöte“, murmelte Sai und wurde rot. Sie hatte weder die Zeit noch das Geld, wie die reichen Händlerstöchter in der Stadt die Harfe spielen zu lernen. Doch irgendetwas in ihr drängte sie dazu, Musik zu machen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie Melodien vor sich hin summte, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Deswegen hatte sie sich auch die Schilfflöte geschnitzt. Sie musste den Liedern einen Weg aus sich heraus bieten. Ihr Vater schimpfte sie oft deswegen. Musik war nur Zeitverschwendung, und er sah es nicht gerne, wenn seine Tochter sich benahm wie eine wandernde Spielfrau, so sagte er immer.
Claire jedoch war entzückt. „Das ist gut, dann spiele ihnen etwas vor dazu! Das wird sie bestimmt besänftigen. Feen lieben Musik.“
„Und wenn das nicht hilft?“
Claire seufzte und zog die Schultern hoch. „Dann fällt mir auch nichts mehr ein. Aber sing nur, es hilft bestimmt.“
Gehorsam nickte Sai, bedankte sich bei der Alten und machte sich auf den Weg zurück zur Hütte. Es wurde Zeit, an ihre Arbeit zu gehen.

~​

„Kannst du das nicht mal bleiben lassen, es nutzt doch sowieso nichts.“ Elethie drehte sich im Bett um und starrte zu Sai empor. Ihr Gesicht war nur ein verschwommener Fleck im Dämmerlicht der Hütte. Schuldbewusst unterbrach Sai ihr Singen und strich sich verlegen das Haar zurück.
„Vielleicht habe ich einfach noch nicht das richtige Lied gefunden“, flüsterte sie. Aber sie glaubte selber nicht mehr ganz daran. Seit einer Woche sang sie nun schon jeden Abend vor dem Schlafengehen, aber die Feen hatten nicht aufgehört, sie zu plagen. Der einzige Grund, warum sie noch nicht aufgegeben hatte, war, dass sie Angst vor der Alternative hatte, die ihr blieb, wenn der Gesang nichts half.
„Du hast jedes Lied mindestens dreimal gesungen. Sieh doch ein, dass es nicht hilft!“ Elethie konnte eine gewisse Genugtuung bei diesen Worten nicht verbergen. Sai presste die Lippen aufeinander und boxte sie in die Seite.
„Du bist nur neidisch!“ Sai verzog das Gesicht. Von Elie konnte sie nur wenig Mitleid erwarten. Die hatte sich sowieso immer über die Beachtung geärgert, die Sai und ihre Haarpracht erhielten. Wie konnte sie es auch verstehen, dieses Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Elie war mit ihrem einfachen Bauernleben mehr als zufrieden.
„Momentan bin ich eher müde. Gibst du nun Ruhe, oder muss ich Vater Bescheid sagen?“
Sai biss sich auf die Unterlippe und starrte Elie wütend an, aber dieser Drohung hatte sie nichts entgegen zu setzen. Mit einem stummen Gebet, dass die Feen endlich Ruhe geben mochten, schlüpfte sie unter ihre Decke.

~​

Sai blickte nicht vom Jäten auf, als sich die Schritte der Gartenmauer näherten. Sie wusste, wer das war. Schließlich war heute ihr Geburtstag. Er kam immer an ihrem Geburtstag vorbei. Normalerweise hätte sie sich aufgerichtet und sich unter irgend einem Vorwand in die Nähe der Mauer begeben. Vielleicht hätte sie so getan, als ob sie die reifen Brombeeren einsammeln wollte, die dort wuchsen, oder die rostigen Angeln des Tors begutachtet. Bei dieser Gelegenheit hätte sie ihn dann unauffällig betrachten können, wie er dort lehnte, die Unterarme auf die Mauer gestützt, sein Blick unverwandt auf ihrem langen Haar.
Nicht so dieses Mal.
Heute schämte sie sich für ihr Aussehen, mehr noch, als sie das in den letzten Tagen getan hatte. Sie hatte ein Tuch um ihren Kopf gebunden und hielt den Blick fest auf den Boden gesenkt, während sie darauf lauschte, wie das Geräusch seiner Schritte lauter wurde und schließlich verstummte. Er war stehen geblieben und Sai konnte beinahe spüren, wie sein Blick auf ihr ruhte.
Sie biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich einen besonders hartnäckigen Unkrautstängel.
„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“
Überrascht hob Sai den Kopf. In all den Jahren, seit sie denken konnte, hatte er sie zwar immer an ihrem Geburtstag besucht, aber noch nie ein Wort gesagt. Er war einige Zeit lang an der Mauer gestanden und dann wieder gegangen.
Seine Stimme klang weich und melodisch, hatte aber auch einen Beiklang, der Sai sagte, dass er es gewohnt war, zu befehlen. Der unausgesprochene Vorwurf darin ließ Sais Herz schneller schlagen. Betreten lächelte sie den Fremden an.
Er sah so aus wie immer. In den zehn Jahren, in denen Sai sich an seine Besuche erinnern konnte, hatte sich keine einzige Falte auf sein schmales, hohlwangiges Gesicht eingegraben, sein honigfarbenes Haar zeigte keine Spur von Grau und seine Haltung war so locker wie immer. Er war braungebrannt wie die meisten Bauern in der Umgebung, trug sein Haar lang wie ein Spielmann und ging barfuß, doch seine Kleidung war alles andere als ärmlich. Ein knielanges, ärmelloses Hemd aus einem fließenden dunkelblauen Stoff fiel locker über enge, weiche Wildlederhosen. Ein Köcher mit einem entspannten Bogen und mehreren Pfeilen darin hing an einem geflochtenen Lederband über seiner Schulter. Obwohl es ihr nie jemand bestätigt hatte, hatte Sai doch schon immer gewusst, dass es sich um einen Fürsten des Guten Volkes handelte.
Seine Augen waren honigfarben wie sein Haar und schienen Sai mit ihrem Blick durchbohren zu wollen. Obwohl sie wusste, dass er eine Antwort erwartete, konnte sie nichts anderes tun, als wie festgewachsen auf einem Fleck zu stehen und ihn anzustarren. Er seinerseits fragte nicht weiter, sondern betrachtete sie nur weiterhin mit unbewegter Miene.
„Ich habe es abgeschnitten“, antwortete sie schließlich nach einer Ewigkeit. Ihre Stimme klang heiser in ihren eigenen Ohren. Sie wollte noch mehr sagen, ihm erzählen, wie die Feen es immer wieder verknotet hatten, wie sie alles versucht aber nichts geholfen hatte, doch ihre Kehle war zu trocken dafür. Zwei Wochen war es nun her, dass sie sich einen dicken Zopf geflochten und sich lange, lange im Spiegel besehen hatte, bevor sie ihn mit dem Küchenmesser abschnitt. Mit einem Stück Zwirn umwickelt, so dass er sich nicht auflösen konnte, hatte der Zopf seitdem in einem Kasten unter ihrem Bett geruht. Zwei lange Wochen, und noch immer schmerzte die Erinnerung daran Sai so sehr, dass ihr die Tränen kamen.
„Hast du sie noch?“ Obwohl die Stimme des Mannes ruhig, ja beinahe tonlos war, konnte Sai spüren, dass er angespannt, ja beinahe ängstlich war.
„Ja“, erwiderte sie schlicht.
„Zeig sie mir!“
Sai widersprach nicht. Rasch erhob sie sich, klopfte Erde und Grasreste von ihrem Kleid und eilte ins Haus. Doch der Kasten unter ihrem Bett war leer, bis auf ein einzelnes goldrotes Haar, um das sich die Staubflocken sammelten.
Sais erster Impuls war, nach Elethie zu rufen. Sie war immer so verflixt eifersüchtig gewesen, bestimmt war sie es, die den Zopf entwendet hatte. Doch gleich darauf wurde ihr bewusst, wie unsinnig diese Idee war. Es stimmte, Elethie hatte nicht gerade unglücklich ausgesehen, nachdem Sai sich die Haare abgeschnitten hatte, doch warum sollte sie ihrer Schwester den Zopf gestohlen haben? Schließlich gab es nun keinen Grund mehr, eifersüchtig zu sein.
Sai biss sich auf die Unterlippe und beugte den Kopf noch etwas weiter herab, um unter das Bett spähen zu können. Vielleicht waren ihre Haare irgendwie dorthin gelangt, vielleicht hatte sie sie versehentlich das letzte Mal nicht in den Kasten zurückgelegt ...
Vergebens.
Nichts als Staub und etwas Mäusedreck.
Sai richtete sich auf und sah abermals auf den leeren Kasten hinunter. Sie glaubte nicht, dass sie ihren Zopf wieder finden würde. Wahrscheinlich hatten die Feen ihn geholt. Vielleicht war das der Grund gewesen, dass sie ihr immer wieder die Haare verknotet hatten. Sie waren eifersüchtig gewesen, dass Sai etwas besaß, das ihnen vorbehalten war, und nun hatten sie es sich wieder geholt.
Etwas in ihrem Bauch schien sich zusammen zu ziehen und Sai kämpfte mit aller Macht die Tränen nieder, die ihr schon wieder in die Augen steigen wollten. Ja, die Haare waren ihr einziger Schatz gewesen, aber nun waren sie nun einmal weg, und es hatte keinen Sinn über Verlorenes zu weinen. Das zumindest hätte ihr Vater gesagt.
Sai richtete sich auf und schob den Kasten mit dem Fuß unter das Bett zurück. Immerhin war sie heute dreizehn Jahre alt geworden und damit eine Frau. Sie konnte nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit losheulen wie ein kleines Mädchen.
„Es ist weg“, sagte Sai, als sie wieder in den Garten trat.
Der Fremde an der Mauer erwiderte nichts, sondern sah sie nur sehr lange und sehr nachdenklich an, bevor er sich umwandte und fortging.
Sai glaubte nicht an einen Zufall, als an diesem Abend zum ersten Mal das Mondblut über sie kam.

~​

Obwohl Sai ihre Haare wieder wachsen ließ, waren sie nie wieder so schön wie zuvor. Eher strohfarben als goldrot und lange nicht mehr so fein und glatt. Schließlich gewöhnte sie sich daran, sie regelmäßig zu bürsten und zu einem Zopf zu binden. Es war einfach praktischer so, als sie offen zu lassen.
Der Fürst des Guten Volkes kam nie wieder.

~ ~ ~​

Saisanne wusste nicht, zum wievielten Mal sie aufgestanden war, um neuen Kräuteraufguss zu holen, als die ersten Sonnenstrahlen in die Stube fielen. Sie blinzelte und streckte vorsichtig ihre steifen Glieder, bevor sie auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer schlich, wo der Kessel über den noch immer glühenden Kohlen auf seinem Rost stand. Sie schöpfte eine weitere Kelle dampfende Flüssigkeit in ihre Tonschüssel und blieb einen Moment lang am wärmenden Herd stehen.
„Mama?“ Natürlich hatte sich Amanc genau den Moment aussuchen müssen, um aufzuwachen, wenn sie nicht an seiner Seite war. Saisannes Herz schlug unvermittelt schneller. So viel Angst, die in seiner leisen Stimme mitklang.
„Ich bin da, Liebes!“ Rasch trat sie wieder in das Schlafzimmer der Kinder. Amanc hatte sich aufgesetzt und blickte mit vor Entsetzen geweiteten Augen um sich. Sie war nur froh, dass wenigstens Verele noch schlief, wenn sie sich auch unruhig in ihrem Bett hin- und herwarf.
„Mama!“ Das Fieber schien ihren Sohn aller anderen Worte beraubt zu haben. Plötzlich war er trotz seiner vierzehn Jahre wieder so hilflos wie ein Kleinkind. Sehnsüchtig streckte er seine Arme nach ihr aus.
„Ich bin da“, versicherte sie abermals und ließ sich auf der Kante seines Bettes nieder. „Ich habe hier etwas, das dich gesund machen wird.“ Sie streckte ihm die Schüssel entgegen, ein gespieltes Lächeln auf dem Gesicht. Sie selber glaubte schon lange nicht mehr an die Wirksamkeit des Gebräus.
Eigentlich hätte es ihren Kindern schon längst besser gehen sollen, zumindest hatte das die neue Kräuterfrau behauptet. Statt dessen wälzten sie sich nun schon die vierte Nacht im Fieber. Zumindest Amanc und Verele. Imes, ihr Jüngster, war schon am zweiten Tag gestorben. Noch war Saisanne zu beschäftigt mit der Pflege der beiden anderen Kinder, um mehr als ein dumpfes Gefühl der Leere zu verspüren, aber sie wusste, der richtige Schmerz würde kommen, wenn dies alles vorbei war. Sie vermied es so weit es ging, an Imes zu denken, so lange noch irgendeine Hoffnung bestand, die Anderen zu retten.
Wenn es bis zum Morgen nicht besser war, würde sie zu anderen Mitteln greifen müssen.
Einen kurzen, verwirrenden Augenblick lang war Saisanne versucht, aufzustehen und fortzugehen. Diese Kinder, die da schwach und kränklich in der Stube lagen, einfach alleine zu lassen, und irgendwohin zu gehen, wo sie nicht mit Sorgen geschlagen war. Dorthin, wo sie ein Leben führen konnte, das nichts mit dem Meierhof zu tun hatte, wo sie den ganzen Tag lang Musik machen konnte ...
Saisanne biss sich auf die Lippe und verdrängte den Gedanken. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr, das vom Feenreich träumte. Sie nahm sich einen Löffel und begann, Amanc zu füttern.

~​

Jossond kam herein, als Amanc gerade wieder eingeschlafen war und Saisanne die kalten Umschläge auf seiner und Vereles Stirn wechselte.
„Wie geht es?“ Wie er dastand, mit diesem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht, das Haar zerwühlt, tiefe Schatten unter den Augen. Er konnte nicht viel geschlafen haben, obwohl Saisanne ihn eigenhändig ins Bett geschickt hatte. Irgendjemand musste schließlich die Felder bestellen, jetzt in der Saatzeit reichten die Knechte alleine nicht aus, und die harte Arbeit forderte einen ausgeruhten Körper.
Saisanne hob die Schultern und versuchte ein Lächeln. Es fühlte sich an, als habe sie seit Jahren nicht mehr gelächelt.
„Es wird schon gehen“, erwiderte sie. Ihre Stimme war heiser.
Er glaubte ihr nicht, das war klar, aber er wusste auch nicht, was er tun sollte, deswegen blieb er einfach unter der Tür stehen und betrachtete sie gleichzeitig hilflos und hoffnungsvoll, als vertraue er völlig darauf, dass sie es wieder gut machen konnte. Manchmal war er in dieser Beziehung genau wie ihre Kinder. Als habe sie magische Kräfte. Dieser Blick war es, der den endgültigen Ausschlag gab.
Saisanne stand auf. „Ich werde Liaze bitten, sich um die Kinder zu kümmern, wenn du sie nicht brauchst.“
Jossond sah sie verwirrt an. Kein Wunder, bis jetzt hatte Saisanne sich geweigert, einer der Mägde die Pflege für die Kinder zu überlassen.
„Ich werde zu Rogaud gehen“, erklärte sie ruhig, bevor er die Frage stellen konnte, die ihm auf der Zunge lag.
Es sprach dafür, dass er sehr verzweifelt war, dass er nicht widersprach, ja ihr nicht einmal vorhielt, wie viel das kosten würde. Er nickte nur müde und fuhr sich mit einer Hand durch das ohnehin schon wirre Haar. Eine Welle der Zuneigung durchlief sie. Manchmal wunderte sie sich, dass es nach fast zwanzig Jahren Ehe immer noch vorkam, dieses Gefühl, als sei sie ein junges, frisch verliebtes Mädchen. Jossond war zwar nie ein Traumprinz gewesen, kein Fürst des Guten Volkes, aber er war ein guter Mann und aufopferungsvoller Vater. Saisanne konnte sich glücklich schätzen, das sie ihn hatte.
Die Stimmen der Knechte drangen durch das offene Fenster herein. Sie waren bereits auf dem Weg zu den Feldern. „Geh schon“, sagte Saisanne sanft, als sie den schuldbewussten Ausdruck auf Jossonds Gesicht bemerkte. „Ich regele das hier schon. Am besten gehe ich gleich los, so lange es noch kühl ist.“

~​

Doch es war bereits Mittag, als Saisanne das Haus verließ und sich auf den Weg in die Stadt machte. Sie hatte sich einfach nicht von ihren kranken Kindern losreißen können. Natürlich würde Liaze für sie sorgen, aber was war, wenn etwas Unvorhergesehenes eintreten sollte? Ein Fieberrausch vielleicht? Sie war mit der Magd so oft alle eventuellen Notfälle durchgegangen, bis diese die Augen verdreht und Saisanne in Richtung Tür geschoben hatte.
„Geht, bevor ich die Geduld verliere!“
Die Sonne brannte. Saisanne hatte sich einen breitkrempigen Strohhut über ihr Kopftuch gezogen, doch auch der konnte nicht verhindern, dass ihr der Schweiß den Rücken hinunter lief. Aufgewirbelter Straßenstaub drang ihr in Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Es war viel zu heiß für die Saatzeit. Schon seit fast zwei Wochen ging das so. Gleichzeitig mit der Hitze waren die Krankheiten gekommen. Saisannes Kinder waren nicht die einzigen, die von dem seltsamen Fieber geschüttelt wurden, sie hatte von anderen gehört, auf den Höfen der Umgebung, in der Stadt selber. Hauptsächlich Alte und Kinder, wie immer, wenn Seuchen um sich griffen.
Saisanne hielt inne, um sich Schweiß und Dreck von der Stirn zu wischen und sich einen Moment auszuruhen. Ihr Blick schweifte ziellos über Felder und Häuser. Trotz der Hitze und der Krankheit musste sie zugeben, dass sich viel verbessert hatte, in den letzten Jahren. Die Häuser waren so viel größer und stabiler als noch in ihrer Kindheit, wo früher noch dichter, unwegsamer Wald vorgeherrscht hatte, erstreckten sich jetzt Felder und Weiden, Vieh und Menschen waren wohlgenährt. Vieles davon war der Verdienst von Rogaud, das wusste Saisanne.
Der Zauberer lebte schon so lange sie denken konnte in dem alten Wachturm im Zentrum der Stadt. Als sie noch klein gewesen war, hatte niemand Rogaud richtig ernst genommen. Mit seiner Zauberei war nicht viel los, so hatte ihr Vater immer gesagt. Er verstand sich ein wenig auf Heilung, aber das konnte die Kräuterfrau besser, und man sagte, er könne die Feen aus ihren Verstecken locken, aber wozu sollte das gut sein? Feen waren unzuverlässig und bisweilen sogar bösartig. Doch dann war Rogaud auf einmal aufgeblüht.
Vielleicht hatte er in einem seiner Bücher den Schlüssel zur wahren Zaubermacht gefunden, oder er war doch von einer Fee gesegnet worden, jedenfalls wuchsen seine Kräfte schlagartig. Er löschte Feuersbrünste mit dem Wink seiner Hand, wies die Walddämonen in ihre Schranken, so dass man den Wald roden konnte, errichtete Häuser an einem einzigen Tag, eines größer und schöner als das andere, heilte Knochenbrüche und schwere Krankheiten und hielt den ungebärdigen Fluss in Schranken. Rogaud selber erstrahlte in ewiger Jugend.
Die Stadt und das umliegende Land blühten auf und bis auf einige wenige Gelegenheiten, bei denen ein eifersüchtiger Zauberer Dürre oder Krankheit über das Land brachten, ging es den Menschen gut. Saisanne zweifelte nicht daran, dass die momentane Seuche auch ein solcher Racheakt war und bald vorbei sein würde. Aber sie hatte keine Lust, das Ende abzuwarten, ihre Kinder brauchten Hilfe und Rogaud war der Einzige, der jetzt noch helfen konnte. Da war es ihr egal, dass er inzwischen furchtbar hohe Preise für seine Dienste verlangte. Amancs und Vereles Leben waren mehr wert.
Müde erhob sich Saisanne und wischte sich einmal mehr mit dem Ärmel ihres Kleides über die Stirn, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.

~​

Bisher hatte Saisanne Rogaud noch nie persönlich aufgesucht. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie seine Hilfe gebraucht hatte, hatte sie eine Magd geschickt. Sie musste zugeben, seine Wohnstatt war beeindruckend genug. Das Gemäuer ähnelte kaum noch dem alten Wachturm.
Die Fassade strahlte in kräftigen Rot- und Goldtönen, die sich in verwirrenden Spiralmustern bis zur Spitze schlangen. Sie war sich nicht sicher, ob es sich dabei um richtige Farbe handelte, oder um etwas Magisches, jedenfalls schienen sich die Spiralen zu drehen, wenn man nicht genau hinsah. Das Dach war mit Silberschindeln gedeckt, silbern waren auch die Brüstungen der verschiedenen Balkone, die wie eine Leiter die Turmwand hinauf führten. Das ganze Gebäude kam Saisanne merkwürdig unwirklich vor, wie etwas aus dem Fiebertraum ihrer Kinder. Trotzdem hatte sie seltsamerweise keine Angst. Ihr Herz schlug zwar schneller, aber es war eher eine Mischung aus Neugier und Bewunderung als Furcht. Der Anblick der wilden Farben und des Silbers weckte eine Art Heimweh in ihr. Woher kam das nur?
Verwirrt schüttelte Saisanne die fremdartigen Gefühle ab, griff nach dem Türklopfer und schlug ihn energisch gegen die Tür.
Nichts.
Sie klopfte abermals, noch lauter dieses Mal. Doch der Turm blieb still. Wahrscheinlich war Rogaud zu einem Kunden gerufen worden. Aber so leicht wollte Saisanne nicht aufgeben. Ein drittes Mal ließ sie den Klopfer gegen das Holz knallen, beinahe aus Trotz dieses Mal.
Die Tür schwang lautlos auf.
Verwirrt starrte Saisanne auf die Öffnung, die sich vor ihr aufgetan hatte. War das jetzt ein Trick des Zauberers? Wollte er sie damit beeindrucken? Was für ein kindisches Gehabe, wo sie doch mit einem lebenswichtigen Anliegen zu ihm gekommen war. Entschlossen trat sie in den Vorraum. Hinter ihr schloss sich die Tür wieder mit einem leisen Klicken.
Diffuses goldenes Licht umgab Saisanne. Nichts war zu hören, niemand zu sehen.
„Monsieur Rogaud?“, fragte sie halblaut. Wenn er sie eingelassen hatte, warum war er dann nicht hier? Ein bisschen unheimlich war ihr das Ganze schon. Aber wer wusste schon, was im Kopf eines Zauberers vorging? Sie jedenfalls hatte keine Zeit für irgendwelche Spielchen.
Entschlossen trat sie ins Treppenhaus und machte sich an den Aufstieg.

~​

Rogaud war nicht zu Hause.
Saisanne hatte an jede Tür geklopft, die sie passiert hatte und dann vorsichtig in den Raum dahinter gespäht. Schlafzimmer, Waschraum, ein kleiner Salon, alles leer. Nicht einmal ein Diener.
Als Letztes erreichte sie das Studierzimmer. Rogaud hatte die ehemalige Plattform auf der das Signalfeuer brannte, mit Wänden aus Glas versehen. Die Nachmittagssonne flutete herein und ließ Saisanne erst einmal blinzeln. Nur nach und nach schälten sich die Umrisse verschiedener Gegenstände aus der Helligkeit.
Tische mit eingelassenen Steinbecken, einige Bücherregale, Truhen und Schränke, ein Trockengestell, an dem Kräuterbündel hingen, ein Regal mit tönernen Vorratsflaschen, ein wuchtiger Schreibtisch.
Von einem Strick am Dachgebälk hing ein geflochtener Vogelbauer herab. Hektisches Flattern erklang aus seinem Inneren, kaum das Saisanne den Raum betreten hatte, und kurz darauf streckten sich zu ihrem Erstaunen dünne Ärmchen zwischen den Gitterstäben hindurch.
Eigentlich hatte sie sich abwenden wollen, um unten, vor der Turmtür auf Rogaud zu warten, aber nun war ihre Neugier geweckt. Was hielt sich Rogaud in diesem Käfig?
Sie machte einige vorsichtige Schritte auf den Vogelbauer zu. Ein helles Schnattern schallte ihr entgegen und noch mehr kleine Hände reckten sich in ihre Richtung. Saisanne erkannte hagere Figürchen, etwa so lang wie eine Hand, mit blaugrauer Haut, dreieckigen Gesichtern, spitzen Nasen, struppigen schwarzen Haaren und überlangen Fingern. In ihren Augen glomm eine Art boshafter Neugier. Hausfeen.
Verblüfft blieb Saisanne stehen und starrte die winzigen Gestalten an. Rogaud hielt Hausfeen im Käfig? War er wahnsinnig? Wollte er sich den Zorn des gesamten Feenreichs zuziehen?
Die Feen zischten und schnatterten, einige von ihnen streckten sich immer noch verzweifelt nach Saisanne, versuchten, sie zu berühren, mit ihren langen Fingern nach einer Haarsträhne zu greifen, die sich aus dem Kopftuch gelöst hatte.
Ihr Haar.
Nachdenklich stopfte Saisanne die Strähne wieder zurück unter ihr Tuch. War es Zufall, dass diese Feen an ihr Haar wollten? Taten sie das bei jedem?
Auf einmal waren alle Gedanken an ihre kranken Kinder wie fortgewischt, ihr war es gleichgültig, warum sie ursprünglich zu dem Turm gegangen war, jetzt wollte sie nur noch herausfinden, was Rogaud mit den Feen vorhatte. Einen sehr kurzen Augenblick lang wunderte sie sich über sich selbst. Wie konnten ihr die Kinder so egal sein? Was würde Jossond sagen? Aber selbst dieser Gedanke verflog und machte einer unersättlichen Neugier Platz.
Sie trat ein Stück von dem Käfig zurück und sah sich erneut im Raum um. Vielleicht fand sie ja irgendwo einen Hinweis darauf, was der Zauberer so trieb. Seine Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch waren am nächsten liegend, aber Saisanne konnte nicht lesen. So wandte sie sich dem Regal mit seinen Flaschen zu, in der Hoffnung, dort irgend etwas zu finden, was es Rogaud ermöglichen könnte, mit Feen zu sprechen. Wenn sie das fand, konnte sie die Hausfeen selber befragen.
Sie betrachtete die Flaschen, die mit unverständlichen Aufschriften versehen waren und begann dann, willkürlich die Schubladen im unteren Teil des Regals heraus zu ziehen.
In der sechsten Lade fand sie ihren Zopf.
Sie erstarrte. Es gelang ihr nicht, den Blick von dem zusammengeflochtenen, rotgoldenen Haar zu nehmen, das dort halb eingeschlagen in einen dunklen Stoff lag. Selbst das hellblaue Band, das sie damals um das Ende geknotet hatte, war noch da, verblasst nach all den Jahren.

~​

Sie hörte keine Schritte, aber mit einer ungewöhnlichen Sicherheit wusste sie, dass jemand hinter ihr stand. Langsam drehte sie sich um.
Der Fürst des Guten Volkes. Er stand da, in Rogauds Studierzimmer, genauso selbstzufrieden und ruhig wie er immer an ihrem Gartenzaun gestanden hatte. Er hatte sich kein bisschen verändert. Er trug sogar die gleiche Kleidung wie vor zwanzig Jahren.
„Du hast ihn also wieder gefunden.“ Seine Stimme war ruhig und sanft, und Saisanne bemerkte, dass sie sie über all die Jahre nie vergessen hatte. Tief in ihr drin war immer eine Erinnerung an diese Stimme geblieben, die sie nicht in Ruhe gelassen hatte.
„Ja“, erwiderte sie. Was gab es auch anderes zu sagen, es war ja offensichtlich.
„Weißt du auch, was er bedeutet?“ Seine Augen funkelten erwartungsvoll.
Saisanne wollte den Kopf schütteln, besann sich dann aber anders. Sie spürte, dass die Antwort auf diese Frage wichtig war, dass sie entscheiden würde, was der Fürst tun würde. Und sie wusste ja auch, was das Besondere an diesem Zopf war.
„Es ist Feenhaar“, erwiderte sie. Ihre Stimme war erstaunlich fest.
Er nickte. „Dein Haar“, sagte er. „Du hast es von deinem Vater geerbt.“ Er machte eine Pause und sah ihr in die Augen. „Von mir“, fügte er dann hinzu.
Saisanne war nicht überrascht. Nicht jetzt, nicht hier. Vielleicht wäre sie niemals überrascht gewesen. Es war, als habe sie es schon immer gewusst. All die Jahre.
„Meine Mutter ...“ Sie unterbrach sich. War es denn wichtig, was ihre Mutter getan hatte, damals, vor ihrer Geburt? Ob sie überhaupt gewusst hatte, dass ein Fürst des Guten Volkes ... Saisanne wischte den Gedanken beiseite. Statt dessen deutete sie mit dem Kinn in Richtung der Schublade. „Warum?“
Der Fürst lächelte. Früher hätte ihr das Lächeln das Herz zerrissen, aber nun nicht mehr. Jetzt wusste sie, was sie eigentlich war. „Die Zauberkraft“, meinte er, „sie lag in deinem Haar. Mit jedem Lebensjahr wurde sie stärker, so lange du es nicht geschnitten hast. Sie ist mit dir gewachsen. An dem Tag, an dem du zur Frau wurdest, sollte sie erwachen. Dann hätte ich dich mit mir genommen, in deine Heimat.“
Schweigend starrte sie ihn an. Sie hätte fragen können, warum er sie nicht zuvor geholt hatte, warum sie bei dem Schäfer aufgewachsen war, aber sie kannte die Antwort. Er war ein Fürst, er wollte sich nicht mit kleinen Kindern abgeben. Sie wusste auch, warum er es nicht vorher gesagt hatte. Sie hatte ihre Zauberkraft selber finden müssen. Es war nicht seine Aufgabe, ihr dabei zu helfen.
„Rogaud“, sagte sie statt dessen, „er kann mit Feen sprechen. Er hat es gewusst.“
Er nickte.
„Er wollte meine Zauberkraft nutzen“, fuhr sie fort. Mit jedem Wort wurde sie sicherer. „Er hat die Hausfeen gesandt, mein Haar zu verknoten. Bis ich es abgeschnitten habe.“
Wieder nickte er. „Und dann haben sie es für ihn gestohlen.“
„Seitdem ist er ein großer Zauberer gewesen.“ Sie drehte sich wieder zu der Schublade um und sah auf den Zopf hinab. „Mit meiner Zauberkraft.“
Schweigen.
Saisanne streckte die Hand nach dem Zopf aus, hielt aber im letzten Moment inne. Beinahe hätte sie mit ihren Fingerspitzen das weiche Haar gestreift, doch sie zog sie zurück, ballte eine Faust.
„Kann ich noch mit dir kommen?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
„Ja, wenn du wieder an deine Zauberkraft gekommen bist.“ Er schwieg, aber sie spürte, dass er noch etwas zu sagen hatte. Es war, als habe sie ihn ein Leben lang gekannt. Sie wartete. Schließlich sprach er weiter. „Wenn du den Zopf nimmst, ist die Kraft wieder dein, und alles, was der Mensch damit geschaffen hat, ist nichtig. Dein Anspruch ist größer als der seine.“
Saisanne sah auf ihre Faust hinab. Sie zitterte. Saisanne dachte an Jossond, an ihre kranken Kinder. An die neuen, reichen Höfe, die verloschenen Feuersbrünste, den gezähmten Fluss. Rogaud hatte ihre Kraft gestohlen, aber er hatte auch viel Gutes bewirkt.
Einen Moment zuckte ihre Hand zurück.
Doch da gab es noch die andere Welt. Das Reich, wo Musik herrschte, wo niemand starb und immer Wohlstand herrschte. Das Land zwischen den Nebeln. Sie glaubte, es sehen zu können, nur ein paar Schritte entfernt, in seinen leuchtenden Farben.
Sie schloss die Augen. Was war sie, ein Mensch oder eine Fee?
Hinter sich konnte sie den Fürsten ruhig atmen hören. Ihren Vater. Dem es gleich war, was mit dieser Welt geschah, der Welt der Menschen. Wie es allen Feen gleich war. Wie es ihr gleich war.
Saisanne streckte die Hand aus. Ihre Finger schlossen sich um den Zopf.

~​

Die tanzenden Flammen unten in der Stadt erfüllten das Studierzimmer mit einem glühenden roten Licht, als ihr Vater Saisanne zu dem verborgenen Tor in das Land zwischen den Nebeln führte.

 

Öhm...

ich bin wieder da. Und dieses Ding hier ist höchst experimentell, aber ich musste es einfach schreiben, es ging mir seit einem Jahr im Kopf rum.
Ihr dürft es aber gerne komplett verreißen.

 

Hallo Felsenkatze,

also ich finde "dies Ding hier" so spannend und so flüssig geschrieben, dass ich es in einem Rutsch gelesen habe. Eine Leserin hast Du, die dankbar ist, dass Du es "einfach schreiben musstest"!

An dem Haarmotiv gefällt mir, dass es gleichzeitig alltäglich und magisch ist.

Das Ende kommt einerseits erwartet - dass der Feenmann ihr Vater ist - andererseits unerwartet - dass sie ihre Familie komplett verlässt. Ich finde, Du könntest mehr Hinweise einbauen, sowohl zu ihrer Musikliebe, als auch dazu, dass ihr die Welt der Menschen egal ist. Für mich kam es völlig unerwartet, dass sie im Turm des Zauberers vor Neugierde ihre sterbenden Kinder vergisst. Vorher hat sie ja ganz menschliche Muttergefühle. Das ist ein Bruch im Charakter, der in meinen Augen nicht nachvollziehbar ist.
Ich würde Sai öfter singen lassen, z. B. beim Haare kämmen oder der Gartenarbeit, um deutlich zu machen, dass das Bedürfnis nach Musik zu ihr gehört. Und wenn Eltern/Schwester/Ehemann einen Bemerkung machen würden in die Richtung: "Dich interessiert nicht, wie es uns geht", wäre das nicht-Menschliche besser eingeführt.
Wenn diese Feen-Eigenschaften erst im Turm in ihr erwachen, müsstest Du den Wandel deutlicher machen, finde ich.

Übrigens würde ich "das Gute Volk" eher Elfen nennen, um sie besser von den Hausfeen zu unterscheiden. (Nebenbei: warum heißen sie "das Gute Volk", wenn sie sich doch nicht um Menschen kümmern?)

Noch ein bisschen Textkram:

"kehrte vor den Spiegel zurück"
-> "zum Spiegel zurückkehren" oder "wieder vor den Spiegel treten"

"Saisanne, die Tochter des Schafhirten (Komma)"
"langes (Komma) glattes (Komma) goldrotes Haar"
"behauptete sie, dass ihr das auf die Nerven ginge"
"Jossond, der Sohn des Meiers (Komma) auffällig"
"verzweifelt gewesen wäre (kein Komma) wegen der Feen, hätte sie sich"

"Er war einige Zeit an der Mauer gestanden"
-> "hatte gestanden", "stehen" ist kein Weg der Bewegung

Als sie ihn sucht, ist der Zopf mit Zwirn umwickelt, beim Zauberer mit einem blauen Band.

"es hatte keinen Sinn (Komma) über Verlorenes zu weinen"
(Eigentlich ist das ein Anglizismus, ich würde eher schreiben "Verlorenem nachzuweinen")

Den letzten Satz finde ich verwirrend, weil das Pronomen vor dem Namen kommt: "als ihr Vater Saisanne ... führte". Hier würde ich ausnahmsweise mal den Passiv gebrauchen: "als Saisanne von ihrem Vater ... geführt wurde".

Insgesamt eine Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe!
anzim

 
Zuletzt bearbeitet:

Aloha, Lady!

Ich finde es natürlich ausgesprochen schön, endlich wieder etwas von Dir hier zu lesen und Feenhaar trifft auch genau die Tonlage und den Stil, den ich mag. Ich war in der Erzählung, Orte und Gestalten waren mir gegenwärtig und eine solche Schreibe ist auch eine Gabe. Mit anderen Worten: Ich habe Deine Erzählung genossen, die Charaktere sind gegenwärtig, die Umgebung ist mir präsent, ohne aufdringlich zu sein und selbst der Punkt, dass die zu Grunde liegenden Inhalte eigentlich bekannt sind (Kraft aus dem Haar, Gehabe der Feen ...) stößt nicht übel auf, weil es auf eine schon einmalige Art und Weise umgesetzt ist.

Bevor mir nun jemand unterstellt, ich Lobhudele ... hier findest Du als Word Dokument Anregungen und Korrekturhinweise.

LG ... und mehr, bitte! :)
shade & sweet water
x

 

Hey Felsenkatze,
ich hab deine Geschichte heute Mittag schon gelesen, habe sie aber erst mal ein Weilchen sacken lassen. Ich finde sie sehr schön, nur stellenweise etwas hektisch.
Wie anzim schon geschrieben hat, sind einige der Entwicklungen nur dadurch nachvollziehbar, dass du den Rainer-M.-Schroeder-Fehler begehst und deine Figuren darüber schwadronieren lässt. Ich fände es schön, wenn du einige Aspekte der Geschichte, besonders die, die sich am Ende als wichtig herausstellen, langsamer einführen würdest, zum Beispiel den Feenmann, der am Anfang nicht signifikant wichtig erscheint, und auch die Fremdartigkeit deiner Protagonistin, die für mich überhaupt nicht deutlich wird.
Ehrlich gesagt hat mich die Wendung am Schluss extrem überrascht, weil sie eben am Anfang durch nichts angekündigt war. Du streust zwar Hinweise wie das Feenhaar und die Musikalität des Mädchens, aber ich habe sie beim Lesen ebensowenig mit dem Ende zusammengebracht wie das jährliche Erscheinen des Feenmannes. An der Stelle würde ich mir eine ausführlichere Schilderung wünschen. Was ist mit der Mutter deiner Prot? Wie reagiert sie darauf, wenn er einmal im Jahr da aufschlägt? Etc, etc. Mit der Spielleute-Geschichte legst du eine falsche Fährte, wie ich finde. Auch die Wendung, dass sie ihre Familie allein lässt, kommt deshalb unerwartet, weil du ihre Fremdartigkeit für meinen Geschmack nicht deutlich genug herausgestellt hast. Also: Nachlegen bitte!

lg, vita

 

Hallo Ronja,

Schön hier wieder Mal etwas von dir zu lesen.

Zum Stil und der Atmosphäre, die du aufbaust, muss ich nicht viel sagen: Sehr schön. Ich mag es, in deine Geschichten einzutauchen, du führst den Leser sehr stimmungsvoll durch deinen Text. Und wahrscheinlich hast du den Bonus, dass ich deine Geschichten von Anfang an sowieso mag. :)

Für mich war im Gegensatz zu vita die Geschichte fast ein bisschen zu voraussehbar, sogar das Ende hat mich nicht sonderlich überrascht, weil ich erwartet habe, dass es nicht nach dem üblichen Schema aufgeht. Ob das nun gut oder schlecht ist, kann ich im Moment nicht sagen. Du hast schon ein paar der gängigen Fantasy-Elemente verwendet, daher wirkt die Geschichte sehr klassisch, und doch kannst du ihr eine eigene Note geben.
Aber ich muss vita beistimmen, der Gesinnungswandel am Schluss kommt ein bisschen plötzlich, dass Sai anders ist, finde ich, merkt man, aber dass sie Kinder einfach so aufgibt, ist nicht nachvollziehbar. Vielleicht solltest du noch stärker herausarbeiten, dass sie eine gewisse Sehnsucht verspürt, das aber nicht so wahrnimmt.

Wie konnte sie es auch verstehen, dieses Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Das habe ich erst im Nachhinein als Andeutung auf ihre Andersartigkeit verstanden, beim Lesen empfand ich es eher als kindisches Benehmen.
Erks, jetzt aber genug bemängelt (es fällt mir schon schwer, mich auf Deutsch auszudrücken ... bei all dem Französisch im Alltag ;) ).

Einen Totalveriss kriegst du heute von mir nicht, im Gegenteil, deine Geschichte hat mir den Abend versüsst. Und jetzt weiss ich auch, woher die Brötchen in den Haaren und die Silberschmiede auf den Dächern kommen. :D

Liebe Grüsse,
sirwen

 

Moin ihr alle,

so, nu habe ich die unterschiedlichsten Infos: ausbauen, nicht ausbauen.... argh.

anzim: Danke für die Verbesserungen und so. Das "Gute Volk" werde ich allerdings bestimmt nicht ändern. Feen und feenartige hatten oft solche Namen. Man nannte sie nicht direkt, um sie nicht heraufzubeschwören, und die positiven Beinamen hatten sie, damit sie nicht verärgert waren. (Mal ehrlich: würdest du gerne bezeichnet werden als jemand vom "bösen Volk"? ;) ). Mal sehen, ob ich die Andeutungen auf Sais Andersartigkeit noch besser untergebracht finde.

gnafu: Sei bedankt. :) Vor allem, weil du es ja warst, der mich getreten hat, das Ding fertig zu schreiben.

xadhoom: Dank dir für die Fehlerliste. Mache ich mich die Tage dran. Der Roman geht erst mal vor. Und danke für den Fisch ... äh ... die Empfehlung. :D

vita: hmmmm.... Und ich dachte schon, mein Anfang zieht sich zu lange hin. Mal sehen, was sich machen lässt. Das mit der Erklärung am Schluss möchte ich allerdings so lassen, wie gesagt, es war ein Experiment. Und das bezog sich auf die Erzählweise. Wenn ich den Magier, den Feenmann (der doch einen langen eigenen Abschnitt hat) und dergleichen auch noch lange einführe, kann ich einen Frauenroman draus machen, was eigentlich nicht meine Intention war. Aber vielleicht fällt mir was ein.

sirw: danke für das Lob. Kein Wunder, dass dich das Ende nicht überrascht, denn ich glaube, dir habe ich irgendwann mal von den Geschichtenplänen erzählt ;) Aber ich schau mal, was sich im Bezug auf den Gesinnungswandel machen lässt.

Liebe Grüße euch allen,

Ronja

 

Hallo Felsenkatze,

eine schöne, wenn auch aus der Sicht eines Menschen traurige Geschichte. Ich habe keine großen Brüch festgestellt. Du arbeitest ja mit für Insider gängigen Motiven und so fesselte mich die Frage, wann die Prot entdeckt, woher sie stammt und was sie aufgegeben hat, als sie ihr Haar abschnitt.
Sehr gerne gelesen

LG

Jo

 

Hallo Ronja,

schön, dass du dich mal wieder hier blicken lässt - und dann noch mit einer so netten Geschichte.
Im Mittelteil stimmt das Verhältnis zwischen Detailreichtum (der ja eigentlich ganz schön ist) und zu viel Drumherum noch nicht ganz.
Wie auch andere Kritiker fand ich das stellenweise etwas langatmig - vor allem die Szenen mit den Krankheiten der Kinder, die Entscheidung zum Zauberer zu gehen und den Weg dorthin könntest du stark kürzen, ohne dass Geschichte und Atmosphäre darunter leiden.

Der Part als Sai sich im Schloss befindet hat mir gut gefallen - da kommt dann auch richtig Spannung auf. Ich persönlich habe ja damit gerechnet, dass der Zauberer noch irgendwoher kommt und ihr einen Strich durch die Rechnung machst. Meines Erachtens eine Szene, die noch ausbaufähig ist.

Das Ende hat mich ein bisschen enttäuscht - zum Einen hätte ich mir einfach ein anderes Ende gewünscht. Ich fand es enttäuschen, dass sie ihre kranken Kinder einfach zurücklässt.
Zum Anderen kam das Ende für mich jedoch einfach zu plötzlich.
Sie entscheidet sich dafür zu gehen, denkt gerade mal 10 Sekunden über die Konsequenzen nach - und schwupps, ist sie weg.

Alles in allem habe ich sie aber sehr gerne gelesen - das liegt vor allem auch an deinem flüssigen, angenehmen Schreibstil.

Eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen:

Wenn man ihr überhaupt etwas vorwerfen konnte, dann war das, dass sie ein bisschen viel redete. Wahrscheinlich war sie ein bisschen einsam.

Wortwiederholung

Lieben Gruß, Bella

 

Hallo Felsenkatze,
Deine Geschichte ist zauberhaft wie subtil. Überträgt man Sais Leben auf das Hier und Heute stelle ich mir vor, wie schwer die Entscheidung doch sein mag, aus seinem alten Leben auszusteigen, nur weil man intuitiv fühlt, nicht das seinige zu leben.

Gerne gelesen

LG
Goldene Dame

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom