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Feinstaub
Schon im Jahre 2005 gab es Widerstand im Stadtteil Neuhausen. Die Belastung durch Feinstaub in der Landshuter Allee überschritt das zulässige Höchstmaß. Betroffene Menschen schrieben erboste Leserbriefe nicht nur an lokale Zeitungen, sondern auch an überregionale Blätter, an Radio und Fernsehen. Sie berichteten von Atembeschwerden bei körperlicher Anstrengung und von Lungenproblemen, unter denen hauptsächlich Kinder litten. Ärzte bliesen ins gleiche Horn und unterlegten ihre Aussagen mit alarmierenden Ergebnissen aus medizinischen Studien.
Jedoch, es passierte nichts. Der Verkehr rollt auch heute, im Jahr 2010 uneingeschränkt über die insgesamt sechs Spuren der Landshuter Allee. „Stop and Go“ – wie gehabt an den diversen Ampeln. Dass die Anzahl durchfahrender Fahrzeuge pro Tag in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist, beweisen – wie aus purer Ironie – die Statistiken, die von der Stadt alljährlich zum Ende der Sommerferien veröffentlicht werden.
„Tut endlich was dagegen!“, und „Stoppt den LKW-Verkehr in unserer Straße!“ Diese und andere Slogans waren auf den Plakaten zu lesen, die aufgebrachte Bürger zur Versammlung auf dem Rotkreuzplatz mitbrachten. Und das waren die gemäßigten Forderungen. „Schmeißt den faulen Hund von Bürgermeister raus!“ und „Wollt Ihr uns alle verrecken lassen?“ las man auf den Spruchbändern, die militantere Gruppen mit sich führten.
Die Stadt wachte auf und reagierte. Niemand sollte behaupten können, dass die Behörden inaktiv seien!
Nach Absprache mit dem Bundesland Bayern schickte sie ein Großaufgebot an Polizisten nach Neuhausen. Mit aller Gewalt sollte die Protestaktion unterdrückt werden, was natürlich nicht gelang. Die Wut der Bewohner war zu groß.
Der Bürgermeister und der Gesundheitsminister verteilten von der Tribüne aus verbale Bonbons an die aufgebrachte Menge; Beruhigungspillen, mehr nicht. Der Zorn der Versammelten steigerte sich. Die Polizeikette zum Schutz der Politiker vor dem Volk, wurde durchbrochen.
„Liebe Bürgerinnen und Bürger: Meine Partei, und ich als ihr Gesundheitsminister, garantieren Euch...“. Die Faust, welche mit einem dezidierten Schlag aufs Rednerpult den festen Willen für jeden sichtbar unterstreichen sollte, blieb in der Luft hängen. Erstaunt sah der behäbige Minister auf den roten Fleck, der sich auf seiner sonst so blütendweißen Weste ausbreitete. Die Tomate war reif. Der Saft und die gelben Kerne bahnten sich einen Weg hinunter zu seinem Hosenbund, um von dort im freien Fall weit vor seinen Fußspitzen auf den Holzboden der Bühne zu tropfen.
„Holt ihn vom Podest runter!“ und „nehmt ihm das Mikrofon weg“, hörte man einzelne Stimmen rufen. „Holt ihn runter“ nahm das Volk die Forderung auf und skandierte mit zunehmender Lautstärke „Holt ihn runter! Holt ihn runter!“ Die Stimmen überschlugen sich.
Der Minister für die Gesundheit sah plötzlich nicht mehr so gesund aus. Die rote Farbe wich aus seinem Gesicht. Sie scheint eine andere, wichtigere Aufgabe auf dem Hemd gefunden zu haben. ‚Wie kommt dieses verdammte Pack dazu, mich einfach zu unterbrechen? Wo ich doch so positive Informationen zu verkünden habe.’ Der Redner verstand die Welt nicht mehr. Seine Augen, die noch vor wenigen Sekunden Optimismus und Güte ausstrahlten, wurden glasig. Noch einmal versuchte er, seinen gut eingeübten Vortrag fortzusetzen, aber die Stimme blieb ihm weg.
Der Tumult nahm zu. Die vorderste Reihe der aufgebrachten Bürger stand schon unmittelbar vor dem Rednerpult. Ängstlich schaut sich der Minister nach einem noch offenen Fluchtweg um.
Die Polizisten zogen ihre Schlagstöcke. Es gab erste Verhaftungen.
Von der Menge unbemerkt schwang sich ein junger Mann mit einer sportlichen Flanke über die Absperrung und stand Sekunden später neben dem verdutzten Gesundheitsminister. Mit wenigen gezielten Handbewegungen brachte er seinen eleganten Anzug in Ordnung, nahm dem Minister mit einem gewinnenden Lächeln das Mikrophon aus der Hand und wandte sich an die Menge, die im brodelnden Tumult unterzugehen schien.
Kaum drei Sätze, die er mit ruhiger Stimme und ohne hektische Politiker-Gesten an sein Publikum richtete reichten aus, um die Situation zu beruhigen. Polizisten ließen von den aufmüpfigen Demonstranten ab und wandten ihre Gesichter dem Rednerpult zu. Selbst der Gesundheitsminister, der zuvor mit sanftem Druck in den Hintergrund geschoben wurde, schenkte dem jungen Mann seine Aufmerksamkeit und vergaß für einen Augenblick seinen Ärger.
„Wir von der Automobilindustrie“, fuhr er in seiner improvisierten Rede fort, „fühlen mit Ihnen und können Ihren Ärger über die Konzentration von Feinstaub verstehen.“ Dabei strich er, wie beiläufig, über das Revers seines dunklen Anzuges, so als ob er den Anstecker mit dem weiß-blauen Firmenlogo auf Hochglanz bringen möchte. „Es gibt verschiedene technische und ökonomische Gründe, die dazu führten, dass die bis heute produzierten Fahrzeugmotoren zur Belastung der Umwelt durch Feinstaub beitragen. Aber ich versichere Ihnen, dass sowohl unsere Wettbewerber, als auch wir mit Hochdruck an einer Lösung arbeiten. Die ersten Ergebnisse der Versuchsreihen sind positiv und viel verheißend. Bereits die nächste Fahrzeuggeneration wird über Motoren verfügen, die weit weniger Feinstaub entwickeln.“
Die Protestplakate wurden eins ums andere eingerollt. Applaus setzte ein und wurde wie eine Woge über die Köpfe der jetzt friedlichen Demonstranten getragen. Sogar die ängstlichen Polizisten, die bis jetzt ihre Schlagstöcke noch in der Hand hielten, steckten diese ein, um die Hände frei zu haben zum Applaudieren.
Langsam löste sich die Demonstration auf.
„Ich finde es schon seltsam“, sagte ein älterer Mann, der das Geschehen vom Rande des Platzes aus beobachtet hatte, zu seinem Nachbarn, „ich finde es schon seltsam, wie leicht sich das Volk bluffen lässt. Der Heini von BMW hat doch genauso Gemeinplätze von sich gegeben, wie vorher der Bürgermeister und der Gesundheitsminister! Was wollen wir eigentlich mit diesen ganzen Demonstrationen erreichen?“