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Felix (Gefühlvolle Schilderung)
»Zum letzten Mal, Marie, eine Katze kommt nicht in Frage.«
»Aber wieso denn nicht, Papa?«
Sie verzieht das Gesicht in einer Weise, wie es nur dreizehnjährige Mädchen können. Ich bin der Feind, ungerecht, hartherzig, ein Kotzbrocken – der Vater, den sie ihrer schlimmsten Feindin nicht wünscht. Es fehlt nicht mehr viel und sie wird aus dem Wohnzimmer stürmen, mit den Türen knallen und sich einschließen.
»Ich halte mich da raus«, sagt Nicole und verschwindet in der Küche.
»Das habe ich dir schon tausendmal erklärt. Katzen sind für die Freiheit geboren, nicht für eine Dreizimmerwohnung. Sie brauchen die Natur, Vögel und Mäuse, andere Katzen. Sie müssen nach draußen können. Alles andere ist Tierquälerei. Ich denke, du liebst Katzen. Warum willst du sie einsperren? Nur, damit du etwas zum Kuscheln hast?«
Sie steht schon auf. Aber sie überrascht mich. Sie lächelt und zieht dabei die Augenbraue hoch, setzt sich auf meinen Schoß, als wäre ich Sven, der Junge, in den sie gerade so sehr verliebt ist, dass sie ohne ihn sterben müsste. Der hätte ihr die Katze bestimmt erlaubt. Für dreizehnjährige Mädchen ist der Schwarm schließlich eine Mischung aus Gott und Bill Kaulitz. Zum Glück wechseln sie ihre Götter noch häufig. Den Augenaufschlag muss sie vor dem Spiegel geübt, die Umarmung und den gurrenden Tonfall aus einer dieser elenden Fernsehserien abgeschaut haben. »Papa, ich kümmere mich auch um sie.«
»Darum geht es doch gar nicht.«
»Worum geht es dann?«
Marie hat ein untrügliches Gespür für die Wahrheit, auch wenn sie es damit nicht immer ganz genau nimmt. Aber welches dreizehnjährige Mädchen tut das schon?
Mein Herz klopft. So wie es immer klopft, wenn meine Tochter mit diesem dämlichen Wunsch nach einer Katze anfängt.
»Wolfgang, du hattest als Kind doch auch ´ne Katze.« Nicole hat eine Gießkanne in der Hand, lehnt am Türpfosten und schaut mich lächelnd an. »Jedenfalls kenne ich ein äußerst süßes …«
»Wolltest du dich nicht da raushalten?«
Ein kurzer Blick trifft mich noch, dann geht Nicole als mein wandelndes schlechtes Gewissen von Blumentopf zu Blumentopf.
»Ehrlich Papa, das hast du mir ja noch gar nicht erzählt.«
Das Foto. Schwarz-weiß. Ein kleiner Junge mit kurzen Hosen sitzt in einem Ohrensessel, eine dicke schwarze Katze auf seinen nackten Beinen. Der Junge streichelt die Katze. Und wenn man ganz still ist, meint man, sie schnurren zu hören.
Mein Herz klopft stärker. Das Bild wird ergänzt durch Erinnerungen, durch das Gefühl von Verlust. Das möchte ich Marie doch ersparen.
»Genau deshalb darfst du keine haben.«
»Papa, du bist so unfair.«
Nicole stellt die Gießkanne auf dem Wohnzimmertisch ab. »Wolfgang, das verstehe nicht einmal ich. Wie soll unsere Tochter das verstehen?«
Ich gebe Marie einen kleinen Klaps, damit sie aufsteht, gehe in die Küche und hole mir ein Glas Wasser.
»Es war nicht meine Katze«, sage ich, als ich zurückkomme. »Es war die Katze unserer Nachbarin.«
»Na und?«, fragen meine Frau und Marie wie aus einem Mund.
»Sie wurde überfahren.«
Nicole hat sich auf einen Sessel gesetzt. Sie verfolgt mich, während ich mit dem Glas Wasser in der Hand wieder zum Sofa gehe. »Das passiert Katzen leider, wenn sie nach draußen dürfen.«
Marie sitzt auf dem Schoß meiner Frau. Wenn sie etwas will, ist sie anhänglich, auch wenn sich das immer schnell ändern kann. Aber jetzt holt sie sich Rückendeckung. »Meine Katze darf doch gar nicht nach draußen.«
Ich schüttle den Kopf. »Trotzdem nicht.« Nachdem ich mich hingesetzt und das Glas abgestellt habe, fahre ich fort. »Ich war damals dabei, als es passierte.
Frau Seidler war eine alte Frau. Sie wohnte in der Wohnung unter uns im Erdgeschoss. Für Felix, so hieß der Kater, hatte ihr Sohn extra eine kleine Klappe in die Terrassentür gebaut, durch die er raus und rein konnte. Ich glaube, er war gar kein Kater, aber er hieß nun mal Felix. Für Frau Seidler war Felix ihr Ein und Alles. Sie verwöhnte ihn nach Strich und Faden, und da sie nicht mehr gut zu Fuß war, schickte sie mich oft zur Schlachterei, um reines Beefsteakhack für Felix zu holen. Das Wechselgeld durfte ich immer behalten.
Ich liebte Felix auch, genau wie Frau Seidler, und oft war ich unten in ihrer Wohnung. Der Kater sprang immer auf meinen Schoß, sobald ich in dem gemütlichen Ohrensessel saß. Frau Seidler kochte mir heiße Schokolade, die sie extra aus Tafeln anrührte und mit einem dicken Klacks Sahne dekorierte. Dazu gab es Kuchen und Felix bekam einen Extrateller geschlagener Sahne, den Frau Seidler ihm auf meinen Schoß stellte.
Felix war wie ein Hund. Manchmal, wenn Frau Seidler zum Arzt musste, passte ich auf die Wohnung und auf Felix auf. Was sie sich davon versprach, weiß ich nicht, schließlich war ich noch klein und hätte weder die Wohnung noch den Kater beschützen können. Aber, wenn sie zum Arzt ging, bestand Frau Seidler darauf, dass ich die Wohnung hütete, und gab mir ein Taschengeld dafür.
Wenn sie zurückkam, merkte Felix es lange vor mir. Wie ein Hund lag er die ganze Zeit ihrer Abwesenheit vor der Tür und schaute so sehnsüchtig, als könnte er durch das Holz sehen. Ab und zu miaute er klagend. Und bevor ich etwas hören konnte, lange bevor der Schlüssel sich im Schloss drehte, sprang Felix auf, kratzte an der Tür, miaute ununterbrochen, kam zu mir, lief wieder zur Tür. Kurze Zeit später hörte ich dann die Haustür klappen, dann ein paar Schritte, leichtes Stöhnen und den Schlüssel im Schloss.
Felix sprang an Frau Seiler hoch, hielt ihr seinen Kopf entgegen, damit sie ihn streichelte. Er hätte nur noch bellen müssen.
Auch mich begrüßte er immer so. Wenn er gerade im Garten war, hörte er mich schon an der Abbiegung, lief mir entgegen und ich schwöre heute, er hat damals sogar mit dem Schwanz gewedelt.
Eines Tages, als ich aus der Schule kam, hatte ich mir vorgenommen, nur genau jede zweite Gehwegplatte zu betreten. Trat ich auf einen Strich, oder mit der Ferse über die Linie, schied ich aus und musste von vorne anfangen. Es war ein sinnloses Spiel, da ich keinen Gegner hatte. Aber ich war vertieft darin. Um es zu spielen, musste ich auf der anderen Straßenseite gehen, denn die Seite, von der unser Weg abging, hatte keine Gehwegplatten, sondern nur Sand.
Ich war so versunken in das blödsinnige Spiel, dass ich Felix nicht gesehen habe. Erst die Bremsen eines Autos schreckten mich auf, dann ein dumpfer Knall, dann ein markerschütternder Schrei - eine Kreissäge an meinem Ohr, nur höher, durchdringender. Ein Schrei, der das Blut stoppt. Ich sah auf die Fahrbahn.
Der Fahrer des Autos hatte die Warnlichter angestellt, war ausgestiegen und nach hinten gelaufen. Er beugte sich über etwas. Da sah ich ihn liegen.
»Felix!«, schrie ich und rannte ohne zu schauen auf die Straße. Blut sickerte aus seinem Fell, platt gedrückt lag er auf dem Asphalt. Nicht einmal den Kopf hatte er angehoben.
»Ist das deine Katze?«, fragte der Autofahrer. Ich reagierte nicht.
»Felix«, wimmerte ich leise, »geliebter Felix.« Ich streichelte ihn, versuchte ihn hochzuheben.
»Ist das deine Katze?«, fragte der Autofahrer noch mal.
Mechanisch nickte ich. Es war doch fast meine Katze.
»Soll ich dich zum Tierarzt fahren?«
Wieder nickte ich, nahm Felix auf den Arm und ignorierte die Warnungen meiner Eltern, nie bei fremden Männern ins Auto zu steigen. Blut tropfte auf mein T-Shirt, auf meine Arme, auf meine nackten Beine und auf den Beifahrersitz. Der Mann fuhr schnell, ein weißes Tuch, das er an sein Fenster geklemmt hatte, wehte im Wind, an roten Ampeln hupte er laut und durchdringend, bis er über die Kreuzung gefahren war. Als er auf dem Parkplatz hielt, riss ich die Tür auf, sprang mit Felix hinaus, rannte ohne mich umzusehen am Wartezimmer und an der Anmeldung vorbei gleich ins Behandlungszimmer.
Auf dem Metalltisch lag ein Collie, festgehalten von einer Sprechstundenhilfe, damit der Doktor ihm eine Spritze geben konnte. Das alles war mir egal.
»Felix«, stammelte ich und hielt den Kater dem Doktor wie ein Geschenk entgegen.
»Junge, du kannst hier doch nicht …« Er sah in mein Gesicht, dann auf Felix und kam auf mich zu. »Ach so. Entschuldigung. An deiner Stelle hätte ich auch nicht gewartet.«
Nach einem kurzen Blick hob die Sprechstundenhilfe den Collie vom Metalltisch. »Da hast du ja noch mal Glück gehabt«, sagte sie zu ihm, »aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Dann wandte sie sich mit fragendem Blick an das Frauchen des Hundes.
Die nickte. »Natürlich.«
Der Doktor nahm mir Felix aus den Armen, trug ihn zum Metalltisch und legte ihn dort ab. Er schüttelte den Kopf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid mein Junge. Wahrscheinlich hat sie keine Schmerzen mehr gehabt. Sie war sofort tot.« Er ging zum Waschbecken, zog sich die Silikonhandschuhe aus und wusch sich die Hände.
In Filmen wimmert oder schreit man in solchen Situationen, sagt irgendetwas wie: »Das kann doch nicht sein.« Das Unfassbare findet Worte des Nicht-glauben-Wollens.
Ich ging taub und wortlos aus der Praxis, ohne mich zu bedanken. Auf dem Parkplatz stand der Autofahrer, rauchte eine Zigarette, die er sofort auf den Boden warf und austrat, als er mich sah. Ich schaute ihn kurz an, dann auf den Boden und ging an ihm vorbei.
»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er. Jedenfalls glaube ich, dass er es fragte. Er kann mir auch ein Eis angeboten haben. Ich hörte seine Stimme, ich hörte seine Worte, aber sie drangen nur wie ein fernes Rauschen in den Nebel, der mich umgab. »Felix.«
Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kam oder wie lange ich gebraucht habe. Ich setzte einfach die Füße voreinander, ohne auf die Gehwegplatten und ihre Striche, ohne auf den Weg zu achten. Ich ging. Ich hielt sogar an, wenn ich an eine Ampel kam. »Felix.«
Ich musste es Frau Seidler erzählen. Sie hing doch so an ihm. Bestimmt hatte sie ihm schon den Napf gefüllt, hatte ihm Wasser und Beefsteakhack hingestellt, damit er sich gleich darüber hermachen könnte, wenn er nach Hause käme.
Bestimmt sah sie schon jede Minute zu der kleinen Klappe in der Terrassentür. Wie sollte ich es ihr sagen?
Ich schloss die Haustür auf, wollte mich an ihrer Wohnung vorbeischleichen. Erst einmal rauf zu meinen Eltern. Erst einmal ausheulen, in den Arm genommen werden, getröstet. Doch kaum hatte ich vier Stufen geschafft, rief Frau Seidler mir hinterher. »Wolfgang, ich habe heiße Schokolade für dich.«
Ich drehte mich um.
Die alte Frau sah auf mein Blut durchtränktes T-Shirt, auf meine Arme, auf meine Beine. »Um Himmels willen, was hast du denn gemacht?« Sie lief mir entgegen, zog mich an ihrer Hand in die Wohnung. »Ich muss dich ja erstmal verarzten. Was ist denn passiert?«
Ich schluckte. Keinen Ton bekam ich heraus. Sie zog mich ins Bad, wusch mir mit einem Schwamm das Blut von den Armen und Beinen – Felix’ Blut. Das T-Shirt ließ sie mir an.
»Du magst nicht reden?«, fragte sie und stellte mir den Becher mit heißer Schokolade auf den Tisch. Ich setzte mich in den Ohrensessel. Doch kein Felix würde je wieder auf meinen Schoß springen.
»Ich weiß gar nicht, wohin mit der ganzen Sahne«, sagte sie, als sie sich zu mir setzte. »Der treulose Kater hat sich heute schon den ganzen Tag aus dem Staub gemacht.«
Da konnte ich nicht mehr. Die Tränen waren nicht mehr zu stoppen, sie liefen einfach aus mir hinaus.
»Was ist los?«, fragte Frau Seidler wieder. »Willst du es mir nicht doch erzählen?«
»Er ist tot«, sagte ich stockend. Ich hatte einen Kloß im Hals, musste schlucken. »Ein Auto hat ihn angefahren. Der Doktor konnte ihm nicht mehr helfen.«
Bestimmt hat es sie viel Kraft gekostet, in diesem Moment den kleinen dreckigen Jungen in den Arm zu nehmen, an ihre Brust zu drücken und ihm über das Haar zu streichen. »Ach mein Junge. Du bist extra beim Tierarzt gewesen?«
Ich trank die heiße Schokolade aus. Frau Seidler fragte mich, ob ich noch einen Becher wolle, wegen der Sahne. Als ich ablehnte, brachte sie mich nach oben zu meinen Eltern und erzählte ihnen, was passiert ist. »Sie haben einen so guten Jungen«, sagte sie. Das brachte mich wieder zum Weinen.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Mal dachte ich daran, was Frau Seidler wohl machte, wie sehr sie das Schnurren vermissen musste, wenn Felix nicht mehr unter ihre Bettdecke kroch. Bestimmt hatte sie kalte Füße.
Mal hörte ich den Schrei, wie eine Kreissäge direkt an meinem Ohr, nur lauter. Ein Geräusch, das ich nie wieder hören möchte.«
»Ach Papa«, sagt Marie. »Deshalb darf ich keine Katze haben?«
Ich nicke.
»Wolfgang, das ist doch völlig irrational. Du kannst doch deiner Tochter nicht die Katze verbieten, weil du Angst hast, sie könnte sterben.«
Wer ist gegen weibliche Logik schon gewappnet? Mein Herz klopft immer noch ängstlich bei dem Gedanken, aber ich weiß einfach keine Begründung mehr.
»Aber bitte keine schwarze.«