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Festgenommen

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20.02.2021
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Festgenommen

Ich könnte vom Tanzen erzählen. Das mache ich aber nicht mehr. Oder vom Kickboxen, mache ich aber auch nicht mehr. Ich könnte von der Rothaarigen beim Penny erzählen, wo sie sich regelmäßig vor ihrem Fanclub auszieht und Lieder singt. Ich könnte erzählen, wie wir auf Gruppenfahrt mit neun oder zehn unsere ersten Tattoos bekommen haben. Ich könnte erzählen, dass mein Onkel mich ein einziges Mal umarmen durfte und danach nie wieder. Dass ich mir ab da die Haare schwarz färbte. Ich könnte von der fetten Lizzo und ihrem Beef mit Cardi B. und Nicki Minaj erzählen. Was dachte sie sich dabei, mit wem sie sich anlegt? Zumindest ist ihr Hintern echt. Ich könnte von der Narbe am Unterarm erzählen, nachdem ich beim Schulreiten abgeworfen wurde. Oder dass KuchenTV endlich sein schmutziges Auto waschen sollte, wann ich meinen Vater das letzte Mal gesehen habe oder dass ich schlecht im Kochen bin. Ich könnte erzählen, wie beschissen ich meinen Namen finde. Ehrlich, wer heißt schon Gesine?

Stattdessen erzähle ich von meiner Mutter. Als sie vorbeikam, hatte sie fast keine Luft mehr in der Lunge. Obwohl ich selbst einkaufe, brachte sie mir immer noch Essen. Ich aß bereits eine Schüssel Müsli. Bevor sie anfing, mir einen französischen Zopf zu flechten, wollte ich aufessen, um keine Haare in den Mund zu kriegen oder damit ihr Zigarettengeruch nicht den Geschmack übertüncht.

„Mann, pass auf!“, schrie ich.

Sie schlug meine Hand weg und zischte. Im großen Spiegel beobachtete ich, wie sie arbeitete. Durch das offene Fenster hörten wir die Bahn donnern. Meine Wohnung lag neben den Gleisen.

„Ich hätte vor zehn Minuten losfahren müssen.“, sagte sie.

„Selber schuld, wenn du nie deinen Wecker stellst.“

Sie riss an meinem Zopf und maulte herum: „Mach die Klappe zu und gib mir den Gummi!“

Unbeeindruckt legte ich mithilfe des Spiegelbildes den Gummi in ihre Hand und fühlte ihre langen Fingernägel und klobigen Ringe. Sie schwang den Zopfhalter um meine Haare. Ich schaute in den Spiegel, sehr lange. Dann, zum ersten Mal, fiel es mir auf. Ich hatte gar keine Mutter. Meine Augen weiteten sich. Ich war allein in der Wohnung. Tatsächlich hatte ich den Zopf allein geschafft. Mir verging der Appetit.

Wegen der Arbeit blieb keine Zeit zum Nachdenken. Ich verwechselte einen Kugelschreiber mit einem Kajalstift. So etwas ist mir noch nie passiert. Ohne Schminke hinauszugehen, war mir plötzlich gut genug. Was ich auf dem Weg zur Tür greifen konnte, nahm ich mit. Ein paar Male drehte ich mich um. Im Fahrstuhl zog ich mich fertig an. Auch dort gab es einen großen, aber dafür zerkratzten Spiegel. Ich machte mit dem Schauen auf mein Spiegelbild weiter. Jede Sekunde mehr fühlte es sich an, als wäre es verdammt nochmal lebendig.


*


„Hi, ich hab heute fast vergessen. Seit Freitag schläft sie gar nicht. Es ist die Hölle!“

Nach eineinhalb Stunden Fahrt stand ich bei Leni und ihrer Mutter im stockdusteren Flur. Leni freute sich wie Bolle, mich zu sehen und sabberte ihr Halstuch voll. Ich schob den Therapiestuhl in die Küche, während mir Molly mit hoher Stimme erklärte, was ihre Tochter essen soll.

„Bist du dort erreichbar?“, fragte ich.

„Mein Anwalt sagt immer, mein Handy darf nicht mal auf Vibration gestellt sein. Die sollen mir das nicht auch noch wegnehmen. Wenn sie gewaschen werden muss, mach ruhig!“

Ich verdrehte unauffällig die Augen. So lange könnte der Gerichtstermin also dauern. Mein Arbeitgeber mochte eigentlich nicht, wenn wir Kindern Windeln wechseln oder sie sogar waschen.

Vorsichtig erkundigte ich mich weiter: „Also, wie lange würde sie denn eine volle Windel aushalten?“

„Du kennst sie doch. Die kriegt gar nix mit. Lass sie aber nicht zu lange drin! Ich kann die Waschmaschine erst morgen benutzen.“

Molly bückte sich zu Leni und gab ihr einen Kuss auf eine trockene Stelle ihrer Wange. Verständlich, den Rotz würde ich auch nicht abhaben wollen. Sie gab mir den Schlüssel und bat mich, mit ihr hinauszugehen. Als wir uns im Flur verabschiedeten, hörten wir nebenan die Tür auf gehen. Als man uns bemerkte, wurde sie auffällig wieder zugemacht. Molly drehte sich zu mir um und machte eine Kotzgeste. Grinsend lief sie zum Fahrstuhl und ich schaute nach Leni.

„Lass mal sehen! Brei, Brei und Schokolade.“

Leni gurrte und schwenkte den Arm Richtung Schokolade, als ich sie hochhielt. Ich fragte mich, ob ihre Mutter von mir erwartete, dass ich es ihr gebe, obwohl Leni doch Allergien hat.

„Hat deine Mama wieder das süße Zeug ausgekramt, um mich zu beeindrucken?“, fragte ich sie.

Natürlich erwartete ich keine Antwort. Sobald sie mich anstarrte und sich nach vorne beugte, sollte ich mit ihr spielen. Das haben wir zusammen trainiert. Ich musste lachen und erlöste sie von ihrem Warten. Im Kinderzimmer lag das Spielzeug schon - oder noch - auf dem Boden. Obwohl Leni acht Jahre alt war, mochte sie Babyspielzeug. Mittlerweile war ich es gewohnt, über Stunden mit ihr zu sitzen. Ich redete einfach mit mir selbst und gab ihr mal ein neues Spielzeug. Es reichte zumindest für Leni und es reichte, um meine Miete zu bezahlen.

„Soll ich dir was erzählen?“

Ich schaute Leni an, die sabbernd zu mir hoch sah und immer wieder vor Begeisterung schrie.

„Letztens hat mir ein Prinz einen Antrag gemacht. Er sah aber hässlich aus. Also habe ich ihm einen Korb gegeben. Wie? Glaubst du, ich lüge, oder was?“

Ich musste grinsen. Natürlich war ich mir sicher, dass sie nichts davon verstand, aber sie guckte so, als wäre sie interessiert.

„Du bist echt verrückt, Leni, weißt du das? Hä? Okay, dann wieder Tuut Tuut Eisenbahn.“

Es klingelte mehrmals an der Tür. Die Nachbarin. Wahrscheinlich hatte sie gewartet, bis Molly weg war. Ich musste also meine Klappe halten.

„Das Kind schreit nachts und jetzt geht es weiter“, sagte die alte Frau.

„Ich kann das nicht abstellen. Sie ist halt so“, erwiderte ich.

Plötzlich kam noch so eine Alte aus dem Fahrstuhl, grüßte uns, hörte die Beschwerde und wollte mitreden. Ich war kurz davor, die Tür zuzuknallen. Ich bemühte mich, freundlich zu bleiben.

„Ich kriege ja auch ständig mit, wenn die Mutter ihre Freunde einlädt.“, sagte die andere.

„Hören Sie, ich muss zum Kind zurück. Sie kann schnell an ihrer eigenen Spucke ersticken. Also, wenn Sie so nett wären.“

Die Omis gaben den Platz an der Tür zögerlich auf. Vor allem das neue Brüllen von Leni war für die beiden eine Einladung, mehr Beweise vorzuführen. Wir verabschiedeten uns und ich rannte schnell ins Kinderzimmer. Manchmal wusste man nicht, welche Art von Schrei es ist.

„Du fällst auf, meine Liebe“, sagte ich und wechselte das feuchtwarme Halstuch.

Sämtlicher Spaß war mir nach dem Treffen mit den Weibern vergangen. Ich war so abgelenkt, dass ich Leni beinah die falschen Schuhe anzog.

Ich hob sie in einen Rollstuhl und meinte: „Deine Mutter wollte doch einen Babysitter besorgen. Wird wohl ein langer Tag heute. Zeig denen, dass du leise spielen kannst, okay?“

Mir hätte klar sein müssen, dass die Schlampe niemanden gefunden hatte, als sie von einem neuen "Kumpel" sprach. Das Mädel war 23 und hatte für Leni bereits vier potentielle "Kumpels". Da kam doch kein Kerl mehr freiwillig vorbei. Stattdessen saß ich auf einer Parkbank, während Leni bedeppert vor sich hin gaffte. Ein paar Kinder dort waren scheinbar neu.

„Was hat sie denn?“
„Gar nichts, sie sitzt einfach im Rollstuhl.“
„Bist du ihre Mama?“
„Nein, ich passe auf.“
„Wo ist ihre Mama hin?“
„Ey, müsst ihr nicht spielen oder so? Sie hat kein Interesse an euch.“

Es war ruhig. Obwohl einige Kinder und gelegentlich Lenis Schreien zu hören waren. Ich überlegte, ob ich eine Freundin anrufe. Mit Leni ging so etwas, weil sie niemandem davon erzählen konnte. Ich verstand immer noch nicht, was heute Morgen passiert war. Wie kam mir das mit der Mutter in den Sinn? Noch einmal griff ich nach meinem Zopf. Er war fast zu perfekt geflochten. Leni wollte wohl in den Sandkasten und krümmte sich ständig. Irgendwie hatte ich darauf keinen Bock und ging mit ihr zurück. Auf dem Weg nach oben donnerte sie ihren Kopf immerzu gegen die Lehne. Normalerweise lief es erträglicher, bis ihre Mutter zurückkam. Heute konnte ich sie kaum erwarten.

Der Schlüssel steckte schon, als die Nachbarin mit ihren Einkaufstaschen aus dem Fahrstuhl stieg. Leni schrie oder lachte, was auch immer sie mitteilen wollte. Hinter uns fühlte ich die Energie der blöden Kuh. Ich spürte, wie sie etwas kritisieren mochte. Dann muss ich mich umgedreht und irgendwas gesagt haben. Ich sah bruchstückhaft Lenis Kopf und den dunklen Flur. Plötzlich wich die Nachbarin etwas zurück.

„Ist ja gut!“, sagte sie mit runzliger Stirn, „Einen schönen Tag noch.“

Sie verschwand eilig in ihrer Wohnung. Ich betrat mit Leni den Flur. Meine Hand schloss die Tür wie von allein. Die Spucke lief und ich wusste nicht, was los war. Während ich immer noch dort stand, war mir auf einmal so als hätte sie etwas über die dunkle Wohnung geredet und dass ich zu ihr meinte, die Stromrechnung ginge sie nichts an. In der Küche sank ich in den Stuhl. Nach einer Weile fühlte ich die Schwere wieder an den richtigen Stellen meines Körpers. Leni war schon wieder am Schwingen der Arme. Ich bemerkte, dass wir fast eine halbe Stunde zu spät mit dem Essen dran waren. Ich holte sterile Sondierungsspritzen heraus. Irgendwann boxte sie mich.

„Warte doch! Spielen ist jetzt vorbei!“, ermahnte ich sie.

Leni versuchte, etwas am Tisch zu erreichen. Ich beeilte mich mit dem Essen und versuchte mich wieder mit ihr zu unterhalten. Langsam gingen mir jedoch die Worte aus. Irgendwie war ich weit weg, obwohl sie direkt neben mir saß. Meine schweren Hände landeten auf ihre kleinen Schultern und ich schaute ihr fest in die Augen. Sie guckte mich bedeppert an und wirkte wie versteinert. Ich wusste weder was ich von ihr wollte noch wozu ich ihre Schultern packte. Nach viel zu wenig Tee kündigte ich ihr betreten an, ins Kinderzimmer zu gehen. Ankündigen, fragen, zuhören, Augenhöhe. Alles aus der Ausbildung kam wieder in mein Bewusstsein zurück. Erleichtert begann ich mit ihr zu spielen. An dieser Stelle wurde mir auch die volle Windel egal. Beim Lesen drückte ich sie an mich. Leni war nie ein Kuschelkind gewesen. Doch sie mochte mich und wehrte sich nicht.

Das Klicken des Schlosses war zu hören. Leni wurde aufgeregt und gurrte. Es war Molly, die uns fröhlich begrüßte. Sie hatte Erfolg vor Gericht und erzählte mir Einzelheiten, die ich nicht hören wollte. Von den Nachbarinnen redete ich lieber nicht.

„Sie hat in die Windeln gemacht. Ich wollte sie gerade wechseln, aber dann warst du schon da“, sagte ich wenig überzeugend.

„Macht nichts! Das übernehme ich jetzt.“

Sie schob Leni in den Flur, damit sich beide von mir verabschieden konnten: „Sag Gesine auf Wiedersehen!“

Sofort fiel mir auf, dass sie die Verabschiedung geändert hat. Normalerweise hieß es: „Sag Gesine bis nächstes Mal!“.

Ich antwortete winkend: „Bis morgen, Leni!“

Auf der Straße stürzten die Gedanken auf mich ein. Ich würde Leni nie etwas antun. So ein Schwachsinn! Verwirrt über meine Überlegungen lief ich, anstatt die Bahn zu nehmen. Ich bog in Wege ein, die ich nicht kannte. Meine Beine trugen mich. Manchmal blieb ich vor Imbissen stehen. Appetit hatte ich aber nicht. Dann sah ich ein paar Backsteingebäude, welche ich zuerst nicht als Klinik erkannte. Es sah komisch aus in dieser Straße. Auf der einen Seite konnte man munter einkaufen und auf der anderen Seite waren diese unscheinbaren Häuser.


*


Später fand ich mich bei einer der vielen Anmeldungen wieder. Irgendwie hatte ich mit Sirenen oder Menschen in Gipsen gerechnet. Alles war ruhiger als erwartet. Mittlerweile waren meine Haare offen und ich knabberte leidenschaftlich ein paar Snacks. Ein netter Mann kam mir entgegen und ich folgte ihm. Er bat mich in einen Raum und bot mir einen Stuhl an.

„Bin ich festgenommen?“, fragte ich.

Ein Ruck ging durch den Raum. Der Mann schaute mich verdutzt an und fragte: „Was?“

„Was?“, wiederholte ich fast zeitgleich.

Mein Versuch, abzulenken, gelang. Er wollte sich definitiv die Augen reiben. Die Ablenkung musste weitergehen. Es durfte keine Gelegenheit zum Nachfragen geben. Also sprach ich wieder.

„Muss ich bleiben?“, wollte ich wissen.

„Ähm, da Sie sich selbst gemeldet haben, dürfen Sie die Station auch wieder verlassen. Wir nehmen Sie auf, wenn Sie es möchten.“

„Nein, danke!“

Ich bildete mir ein, dass eine kräftige Ablehnung, ihn und die zwei Pflegerinnen dazu bringen würde, von mir abzulassen. Die Frauen warteten weit entfernt auf sein Zeichen. Mir ging die Pumpe. Ich hatte zu viele Filme gesehen. Er war einer von der beherrschten Sorte, so eine Art junger Pfarrer.

„Wie kam es denn dazu, dass Sie sich hier angemeldet haben, Frau Ziegler?“

„Ich wollte gar nicht hierher!“

Damit setzte ich meine Taktik fort.

„Sie müssen nicht darüber reden. Manchen Menschen tut so etwas gut. Gibt es einen Grund, warum Sie heute zu uns gekommen sind?“

Dieser Mann hatte nicht nur ein Unschuldsgesicht, sondern auch eine Engelsgeduld. Es fiel mir schwer, ihm bei diesen Fragen in die Augen zu schauen. Je länger ich dort saß, desto mehr wurde ich zu seinem Rührteig. Er hätte mich zu jeder Sorte Kuchen oder Brot backen können, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine Brezel sein möchte. Wir saßen da und schwiegen einander an. Einmal schluckte er etwas lauter, was ich in der Situation mit einer lauten Hupe verglich. Es blieb nur die Sackgasse des Schweigens oder ich versuchte, das Ruder herumzureißen.

„Ich schätze“, stammelte ich, „ich bin einfach nur überarbeitet.“

Staunend über meine eigenen Worte schloss ich meinen Mund und schaute hoch in seine Augen. Er sah mich verständnisvoll an und wartete, elendig lang. Ich musste das ganze hier abbrechen.

„Sie haben einen anspruchsvollen Job, ist es das?“, fragte er.

Ich packte meine Tasche, die fast leer war, und sagte ihm als auch den Pflegerinnen, dass ich nun nach Hause müsse. Sie verabschiedeten sich mit einem verlogenen Lächeln.

„Alles Gute!“, riefen sie mir zu.

Als ich durch die Tür ging, vermisste ich ihn bereits. Krankenhäuser sind wie große Labyrinthe. Ich rannte andauernd in überraschte, müde Gesichter und versuchte zu verstecken, dass ich aus der Richtung der Psychiatrie kam. Warum muss die Klinik das auch so nennen? Über einen kieseligen Seitenausgang erreichte ich eine beleuchtete Bushaltestelle. Mit dem Schritt auf den grauen Asphalt, verließ ich das Gelände. Ich wartete und konnte nun nachlesen, wo ich in der Stadt unterwegs war. Nur ein paar Minuten später nahm ich endlich den Bus nach Hause.

 

Hi @XVIII

deine Geschichte hat mir gut gefallen. Du schreibst aus der Perspektive von Gesine, einem Mädchen, das (anscheinend) psychische Probleme hat.
Der Text liest sich flüssig, die Perspektivendarstellung wirkt glaubhaft. Gesines Erzählung ist - trotz des ernsten Themas - auch recht amüsant zu lesen.

Gelungen finde ich auch den Einstieg, mal was anderes ;-)

Ein paar "Brösel" noch:

Ich könnte der Narbe am Unterarm erzählen, nachdem ich beim Schulreiten abgeworfen wurde.
... ich könnte von der Narbe am ...
Dann, zum ersten Mal [,] fiel es mir auf.
Ich glaube, da fehlt eine Komma
Er war einer der beherrschten Sorte, so eine Art junger Pfarrer.
Ich würde sagen, "... einer von der beherrschten Sorte ..." hört sich besser an. Aber es ist ja eigentlich Figurenrede, deshalb fällt's wohl nicht so sehr ins Gewicht ...
Je länger ich dort saß, desto mehr wurde ich zu seinem Rührteig. Er hätte mich zu jeder Sorte Kuchen oder Brot backen können, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine Brezel sein möchte.
Sehr gute Stelle!

Servus,
Walterbalter

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @XVIII ,

interessante Geschichte, interessanter Einstieg.

Ich könnte vom Tanzen erzählen. Das mache ich aber nicht mehr. Oder vom Kickboxen, mache ich aber auch nicht mehr.
Hier holst Du mich gleich ab, das ist anders, spannend, sagt subtil viel über die Prota aus. Den ersten Absatz finde ich insgesamt sehr gelungen, ich bekomme ein grobes Gesamtbild von der Prota und ihre wüsten Probleme und Problemelchen machen Lust auf mehr, enthalten ja für sich einen Konflikt. Einen Konflikt, der mir allerdings immer mehr durch die Finger glitt, je weiter ich durch den Text kam. Du erzählst mir von Leni und ihrer Mutter, von den Nachbarn, von der vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie und alles birgt in sich einen Konflikt, aber wirklich einen davon zu einem Abschluss bringen tust Du nicht. Keiner von diesen Konflikten kristallisiert sich als DAS Thema des Textes heraus, es wird eben so dahingeschnattert über den Alltag der Prota. Was grundsätzlich nicht verkehrt ist, das kann man machen, aber am Ende der Geschichte fehlte mir da ein Aha oder ein Oho, ein Grund, warum mir das alles erzählt wird. Ich bin super durch den Text gekommen, spannend war es allemal, wollte gerne noch mehr wissen über die Prota. Habe einige Textstellen, an denen ich mich aufgehangen habe, aber das ist Kleinkram, dazu gleich. Das Ende ließ mich ein wenig unbefriedigt zurück, gerade wegen der großen Frage nach dem Warum des Textes und gerade, weil diese Frage im letzten Absatz am allerwenigsten geklärt wird.

Als sie kam, hatte sie fast keine Luft mehr in der Lunge. Obwohl ich selbst einkaufe, brachte sie mir immer noch Essen. Ich aß bereits eine Schüssel Müsli.
Ich würde einige Sätze vertauschen.
"ALs sie kam, hatte sie fast keine Luft mehr in der Lunge." finde ich generell eine komische Formulierung, davon abgesehen, ließ mich die Oberflächlichkeit des Satzes etwas im Trüben. "Als sie kam" beantwortet mir nicht die Frage, wohin sie denn gekommen ist, ich habe kein Bild vor Augen.
Lieber so etwas wie "Als sie vor meiner Tür stand" "vor der Tür meiner Einzimmerwohnung im achten Stock" oder was auch immer.
Ich könnte erzählen, dass mein Onkel mich ein einziges Mal umarmen durfte und danach nie wieder.
Finde ich stark, ich erhalte schnell Einblick in die geistigen Abgründe der Prota, so was wirkt schnell interessant.
„Ich hätte vor zehn Minuten losfahren müssen.“
„Selber schuld, wenn du nie deinen Wecker stellst.“
Sie riss an meinem Zopf und sagte: „Mach die Klappe zu und gib mir den Gummi!“
Bei den Dialogen wirfst Du mich immer so ins Kalte. Ohne Verortung fängt jemand an zu sprechen, ich weiß nicht genau, wer das jetzt sagt. Zumal das hier verwirrend bleibt, denn wenn die Mutter Zeile 2 und 3 sagt, sollte kein Zeilenumbruch erfolgen. So findet ein Sprecherwechsel statt und entweder sagt die Mutter 1 und 3 oder nur 2, was beides keinen Sinn macht. Vielleicht verstehe ich es auch nicht.
Auch dort gab es einen großen, dafür zerkratzten Spiegel.
einen großen, aber dafür zerkratzten Spiegel.
Sonst liest es sich, als sei der Spiegel für diesen Zweck (dafür) zerkratzt worden.
Ich machte mit dem Schauen auf mein Spiegelbild weiter.
Welch seltsame Formulierung :confused:
"Ich blickte weiterhin in den Spiegel" oder was soll das bedeuten? Gibt es einen Grund für diese sonderbare Formulierung?

Jede Sekunde mehr fühlte es sich an[,] als wäre es verdammt nochmal lebendig.
vor "als" und "wie" kommt ein Komma, wenn der Nebensatz ein Prädikat enthält. Hast du sonst richtig, aber einige Male fehlt es.

Molly bückte sich zu Leni und gab ihr einen Kuss auf eine trockene Stelle ihrer Wange. Verständlich, den Rotz würde ich auch nicht abhaben wollen.
Würde ich streichen. Hebt die eigentliche Aussage hervor und ergibt sich aus dieser ja schon ;)
Als man uns bemerkte, wurde sie auffällig wieder zugemacht.
Hab mich daran aufgehängt. Wie darf ich mir das vorstellen 'sie wurde auffällig zugemacht.'
Ich kann mir nicht so gut vorstellen, was genau hier gemeint ist, daher hätte ich hier ein 'show' besser gefunden. Zeig mir, was genau die Nachbarn machen, daraus sollte ich im Optimalfall schließen, dass sie die Tür ostentativ geschlossen haben.
Mittlerweile war ich es gewohnt, über Stunden mit ihr zu sitzen.
Vllt besser "stundenlang" oder "für Stunden"
Wieder so eine seltsame Formulierung :sealed:
Ich redete einfach mit mir selbst und gab ihr mal ein neues Spielzeug.
Wenn Du ausdrücken möchtest, dass die Prota ihr "hin und wieder" ein neues Spielzeug gab, dann kannst Du es so nicht stehen lassen, denke ich.
aber sie guckte so[,] als wäre sie interessiert.
Hier wieder das Komma.
Mir hätte klar sein müssen, dass die Schlampe niemanden gefunden hatte, als sie von einem neuen Kumpel sprach. Das Mädel war 23 und hatte für Leni bereits vier potentielle Kumpels. Da kam doch kein Kerl mehr freiwillig vorbei.
:eek: Wo kommt dieser Tonfall auf einmal her? Außerdem habe ich keine Ahnung, wer genau damit gemeint ist (ich denke die Mutter) und was mir diese Sätze sagen sollen. Ein Kumpel? Also ich denke ein Babysitter? vier potentielle Kumpels wofür? Kopfkino. Auf jeden Fall zu viele Fragen, zu verwirrend, hat mich total aus dem Text geworfen.

Nochmal zum Tonfall. Neben den seltsamen Formulierungen, die immer wieder Einzug in den Text erhalten, gibt es auch eine gewisse Reibung in der Wortwahl. Hier und da wird formelle Sprache angewendet

Ich spürte, wie sie etwas kritisieren mochte.
und dann wiederum umgangssprachliche, sehr grobe Sprache. Vielleicht soll das auf den inneren Zwispalt der Prota hindeuten. Sollte das der Fall sein, war es noch nicht deutlich genug, andernfalls solltest Du auf einen durchgängigen Sprachrhythmus achten.


„Was hat sie denn?“ - „Gar nichts, sie sitzt einfach im Rollstuhl.“
„Bist du ihre Mama?“ - „Nein, ich passe auf.“
„Wo ist ihre Mama hin?“ - „Ey, müsst ihr nicht spielen oder so? Sie hat kein Interesse an euch.“
Warum hier diese seltsame Formatierung mit "-"? Bei Sprecherwechsel einfach neue Zeile, hast Du doch vorher auch gemacht. Oder gibt es hier wieder eine tiefere Bedeutung?
Wie kam mir das mit der Mutter in den Sinn?
Warum so unpersönlich, es ist doch ihre Mutter?
Ich wusste weder[,] was ich von ihr wollte[,] noch wozu ich ihre Schultern packte.

Später fand ich mich bei einer der vielen Anmeldungen wieder.
Bei einer der vielen Anmeldungen wiederfinden? Anmeldungen wofür? Und kann man sich bei Anmeldungen wiederfinden? Apropos seltsame Formulierungen :Pfeif:

Außerdem kam ich hier mit diesem letzten Absatz nicht ganz zurecht. Ich habe es oben schon angedeutet. Er enthält wieder diesen angedeuteten Konflikt, der aber nicht ausgeführt, nicht zu Ende erzählt wird. Es findet keine Auflösung, keine Belehrung oder Entwicklung der Prota statt, daher frage ich mich, warum das Ganze? Auf diese Weise wirkt der Text für mich wie ein erlebter Ausschnitt aus dem Leben der Prota, er steht aber einfach nur als solcher da, birgt keinen Mehrwert, am Ende bin ich so klug wie vorher. Ich meine, ich weiß jetzt, dass es der Prota nicht so gut geht, sie überfordert ist. Aber ... ein Beispiel. Warum mir am Anfang diese Schizophrene Passage mit der Mutter vorlegen, wenn daraus nichts gemacht wird? Was ist denn damit, was wird daraus?


Er hätte mich zu jeder Sorte Kuchen oder Brot backen können, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine Brezel sein möchte.
Das ist gut :lol:

Also, da waren ja ein paar Stellen, die mich aus dem Text geworfen haben. Hauptsächlich waren das seltsame Formulierungen und Widersprüche in der Wortwahl, aber vllt habe ich das ja auch missverstanden und es sollte so sein. In jedem Fall hat es mir der Text angetan, über psychische Probleme lese ich gerne und Du hast sie wunderbar subtil zur Schau gestellt. Offensichtlich aber nicht aufdringlich. Fand ich gut.

Abschließend möchte ich sagen, dass die Geschichte viel Potenzial versteckt hält, insbesondere aber an der Kernthematik, an einer grundlegenden Aussage noch gefeilt werden muss. Das liest sich gut, nur am Ende die Frage: Warum? Das alles nur meine persönliche Meinung, nimm Dir, was Du brauchen kannst.

MfG

 

Danke für die Kommentare!

Gesines Erzählung ist - trotz des ernsten Themas - auch recht amüsant zu lesen.
Hui, war aber eigentlich nicht beabsichtigt.

Keiner von diesen Konflikten kristallisiert sich als DAS Thema des Textes heraus, es wird eben so dahingeschnattert über den Alltag der Prota. Was grundsätzlich nicht verkehrt ist, das kann man machen, aber am Ende der Geschichte fehlte mir da ein Aha oder ein Oho, ein Grund, warum mir das alles erzählt wird.
Ja, das ist definitiv eine Sache, bei der ich mir nicht klar war, wie ich es mache. Ich sah nur, dass ich bei mehr als 2.600 Wörtern immer noch nicht endete. Mir gefiel der Anfang, mir gefiel das Bild mit der Mutter, das Gespräch mit dem Psychiater wollte ich 1:1 übernehmen und zu Leni wollte ich detaillierter eingehen, um zu zeigen, welche Verantwortung sie hat.

Ohne zu übertreiben, wollte ich darstellen*, dass diese Person sich selbst für eine Gefahr hält (in der Arbeit mit Kindern) und sich am Ende gegen eine Arbeitspause entscheidet. Es war für mich aber klar, dass sie in der Wahrnehmung Lücken hat und es nicht zu vorhesehbar werden sollte, deswegen z.B. relativ spät die Auflösung, dass die Mutter ausgedacht war und dass sie in der psychiatrischen Station war.

*aber auch nur unter anderem... wahrscheinlich wollte ich wieder zu viel.

"Als sie kam" beantwortet mir nicht die Frage, wohin sie denn gekommen ist, ich habe kein Bild vor Augen.
Ich habe es erstmal zu "vorbeikam" geändert. Ich vergleiche es mit der ersten Version, wie es sich anhört. Ursprünglich begann der Paragraf anders.

"Ich blickte weiterhin in den Spiegel" oder was soll das bedeuten? Gibt es einen Grund für diese sonderbare Formulierung?
Sie macht quasi da weiter, wo sie in der Wohnung aufgehört hat.

vor "als" und "wie" kommt ein Komma, wenn der Nebensatz ein Prädikat enthält.
Was ich hier alles für neue Regeln lerne!

Wenn Du ausdrücken möchtest, dass die Prota ihr "hin und wieder" ein neues Spielzeug gab, dann kannst Du es so nicht stehen lassen, denke ich.
Selbst "ab und zu" oder "hin und wieder" fand ich noch zu häufig. Ich überlegte auch, ob ich "manchmal" hinschreibe. Es sollte sich anhören, als wäre sie nicht wahnsinnig engagiert beim Spielen, aber ohne zu schreiben, dass sie keine Lust hat.

:eek: Wo kommt dieser Tonfall auf einmal her? Außerdem habe ich keine Ahnung, wer genau damit gemeint ist (ich denke die Mutter) und was mir diese Sätze sagen sollen. Ein Kumpel? Also ich denke ein Babysitter? vier potentielle Kumpels wofür? Kopfkino.
Joah, in der ersten Version benutzt sie noch schlimmere Wörter. Die habe ich nach und nach umgewandelt. Jetzt passt es nicht mehr. Ich habe "Kumpels" in Anführungszeichen gesetzt. Sie vermutet dahinter Typen, die mit der Mutter ein Verhältnis anfangen.

Warum so unpersönlich, es ist doch ihre Mutter?
Ich bin da immer noch unentschieden, ob sie ihre Mutter kannte. Dann hätte ich aber noch mehr zum Hintergrund schreiben müssen.

Bei einer der vielen Anmeldungen wiederfinden? Anmeldungen wofür? Und kann man sich bei Anmeldungen wiederfinden?
Ja, der Übergang ist nicht da. Ich hatte als letztes die Backsteingebäude der Klink beschrieben. Dann war sie plötzlich drin. Ich wollte aber bis zuletzt den Ort nicht direkt benennen.

 

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