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Feuer
Die Welt ist eine Ebene, endlos weit und flach, wenn Du von einigen Hügeln und Bergen absiehst. Von dort oben sieht die Landschaft aus wie ein Meer: Noch immer eingehüllt in einen Panzer aus Eis, durchsetzt mit den dunkelgrünen Flecken der Wälder und Moore. Jetzt siehst Du sie nicht! Jetzt ist Nacht. Weit über der Erde funkeln die Sterne, die ihren eigenen Gesetzen folgen. Sie leuchten wie Lagerfeuer in großer Ferne. Der Himmel ist so weit, dass unter ihm die Erde zu einem Nichts zusammenschrumpft. Zwischen Himmel und Erde steht prickelnde Winterluft.
Der Mann zog eine lange Spur im Schnee hinter sich her. Er war sehr stark. Er konnte den ganzen Tag gehen und es machte ihm nichts. Er blieb stehen und hob die Hand vor die Augen, um das Licht des Mondes abzuschirmen. Weit vorne in einem Wald leuchtete etwas wie ein vom Himmel gefallener Stern.
Hochgewachsene Menschen umlagerten ein Feuer, sahen aus, wie in die Länge gezogen, mit ovalen Köpfen, und es waren viele.
Anschleichen! Leise! Der beißende Geruch des Feuers steigt dir in die Nase. Knirschender Schnee unter dir. Hitze schlägt dir entgegen. Die Fremden werfen lange Schatten. Noch näher! Und plötzlich siehst du sie: Eine Frau, die mit regelmäßigen Bewegungen ein Stück Tierhaut bearbeitet. Die Winterluft mischt sich mit dem Duft nach gebratenem Fleisch.
Der Mann beobachtete das Lager den ganzen Tag. Ein Gewirr von Spuren im Schnee erzählte von Beutezügen, gegenseitigen Besuchen und dem Alltagsleben der langen Menschen. Seine waren leicht zu lesen. Nur dass niemand sie beachtete, schützte ihn. Er saß in einer Astgabel über ihren Köpfen und sah dem Treiben der schwachen Körper zu. Und eine Sache ließ ihn stutzen, den Kopf schief legen, die Ohren weit öffnen: Alles was sie taten, begleitete ein unaufhörliches Schnattern. Sie erfüllten die Luft um sich mit Worten. Sie waren wie endlos zwitschernde Vögel.
Was tun? Das Lager war eine Gefahr. Zerstören! Alle umbringen! Aber wie? Es waren so viele. Allein konnte er nichts ausrichten. Die Gruppe musste es tun.
Dann sah er die Frau mit einem runden Ding ans Ufer des Baches gehen, folgte ihr, als hätte er darauf gewartet.
Als könnte sie seine Gegenwart spüren, drehte sie sich um. Jetzt war nichts mehr zwischen ihren Blicken: Der gedrungene Mann, der so stark war und mit weit aufgerissenen Augen die Frau ansah. Die lange Frau mit großen Brüsten unter den Fellen und einem glatten Gesicht.
Wenn sie schrie, kamen die Krieger. Aber sie schrie nicht.
Sie füllte das Gefäß mit Eiswasser und ging zurück ins Lager. Er lief ihr nach.
Jemand sah ihn. Einem Warnruf folgte Geschrei, das ihn von allen Seiten hysterisch anklagte. Er warf Blicke um sich, schlug Haken, stürzte in Blickfelder und verließ sie wieder. Finger zeigten auf ihn. Sein Herz klopfte Alarm. Er hatte gesehen, wo ihr Zelt war, schaffte es schleichend, kriechend, lange Menschen niederschlagend bis dorthin, kroch hinein - und war in einer anderen Welt.
Zuerst sah er nur ihre Augen. Er war warm und roch nach Fleisch und Kräutern und Schweiß und Frau. Ihre Blicke hielten ihn fest. Sie sah einen kleinen Mann, der Kraft und Hitze ausstrahlte, als wäre das Feuer selbst in die Hütte getreten.
Sie sprach mit den Händen. Ihr Mund brachte einen Schwall von Worten hervor. Er hob den Zeigefinger zum Mund, durch den er stoßweise atmete und tippte ein paarmal schnell an die Oberlippe.
Um das Zelt brodelte feindseliger Lärm, der fragte: Wo ist er? Wo ist er? Wo ist er?
Geh dorthin, sagte sie, verstaute den nach Harz riechenden Mann mit dem mächtigen Unterkiefer, der fliehenden Stirn und der breiten Nase zwischen Körben und Fellen, wie einen weiteren Gegenstand.
Ein Krieger stürzte herein. Bellte eine Frage. Und sie sagte: Hier ist er nicht! Mit der Zeit verlagerte sich der Lärm vor die Grenze des Lagers.
Aus den Körben und Bündeln schnellte eine Hand heraus und griff nach ihr. Ihre Blicke begegneten sich. Sie war weich und groß und sanft. Er war heiß und stark wie das Feuer. Lange Arme zogen sie zu ihm. Zungen fanden warme Haut, Hände streichelten feuchtes Fleisch. Er war groß und hart und durchbohrte sie. Sie drückten und schoben und wanden sich, versuchten, nicht zu schreien. Auf diese Weise machten sie ihre Gene miteinander bekannt.
Später entkam er und irgendwann kam er mit anderen zurück. Nicht viele: Nur so viele wie Finger an einer Hand.
Ein faustgroßer Stein flog durch die Luft, landete auf dem Kopf des Kriegers, der Wache hielt, zerschmetterte ihn.
Sie näherten sich den Hütten wie einer Mammutherde bei der Jagd. Dunkel lagen die Hütten vor ihnen. Alles war still. Nur das Feuer knackte.
Der Anführer legt die Lanze ein und schreit wie von Sinnen. Du tauschst Blicke mit den anderen und ihr lauft ihm nach. Eine Mischung aus Angst, Mordlust und Spannung macht dich rasend! Du rammst deine Lanze in schlaftrunkene Lagerbewohner, ziehst Holz aus dem Feuer und zündest Zelte an. Oh, wie schwach ihre Krieger sind! Manche tötest du mit einem Schlag. Schon bist du sicher, dass ihr Erfolg haben werdet. Gleichzeitig bedauerst du, dass die Frau sterben wird. Dann ein irrsinniger Schmerz! Unendlich verblüfft greifst du an den Schaft, der aus deiner Brust ragt. Ein paar von ihren Kriegern haben halbmondförmige Gegenstände, mit denen sie Geschosse schleudern können. Ein weiteres schlägt in deinen Bauch ein. Du brichst zusammen. Das vom Feuer erleuchtete Treiben um dich verschwimmt. Verschwindet.
Das runde Bild wurde wieder schärfer. Eine geübte Hand betätigte einen Schieberegler. Die funkelnden, weiß und gelb glühenden Punkte auf dem schwarzen Untergrund traten deutlich hervor.
"Wenn Sie sich vorstellen, dass es alleine in unserer Milchstraße dreihundert Milliarden Sonnen gibt, und ein Lichtstrahl hunderttausend Jahre braucht, um von einem Ende zum anderen zu gelangen, dann wird Ihnen klar, wie viele Geschichten es da draußen geben muss. Für mich sind diese Lichtpunkte wie Lagerfeuer, um die sich fremde Welten scharen,"
pflegte der Mann hinter dem Teleskop zu sagen, wenn ihn jemand fragte, warum er nachts die Sterne beobachtete und bei SETI mitmachte. Gerade jetzt untersuchte sein Power Mac G4 fleißig Radiosignale auf Botschaften von Außerirdischen. Parallel dazu hatte er einen Freund aus Australien im Chat. Dem schrieb er: "Ich mache jetzt Schluss, Bob. Die Feuer sind so hell, dass man nicht viel sieht."
Es war die Nacht der Sommersonnenwende. Vor seinem Fenster erhoben sich Berge wie eine schwarze Wand. Heute sahen sie aus wie mit Lichtern behängte Christbäume. das Teleskop ähnelte von Größe und Aussehen her einer Panzerfaust. Der Mann hätte über diese Feststellung erstaunt gelächelt. Er war klein aber stark, die Stirn fliehend, mit beginnender Stirnglatze, der Kiefer kräftig. Er liebte Blumen und klassische Musik. In dieser Nacht trug er Jeans und ein T-Shirt seiner Universität, darüber ein Flanellhemd.
Von Beruf war er Archäologe mit dem Fachgebiet Urgeschichte: "Sie müssen sich vorstellen, jemand legt einen Gegenstand irgendwohin, und vierzigtausend Jahre später ist er immer noch da. Das hat mich immer fasziniert."
Mit Spezialgebiet Neandertaler: Steinmesser und Lanzenspitzen, hergestellt vor Urzeiten mit Lavallois-Technik und eine Wand voller Bücher im Arbeitszimmer zeigten das: "Wir wissen nicht, warum die Neandertaler ausstarben. Es ist fraglich, ob sie zu unseren Vorfahren gehören," sagte er, ahnte aber trotzdem, dass ihr Erbe in ihm lebte.
Es waren die Feuer, die ihn unruhig machten. Er ging auf die Terrasse, zündete sich eine Zigarette an, schaute auf die Lichter im weiten Halbkreis um ihn. Rauchen half manchmal gegen die Unruhe. Die Zigarette knisterte leise, wenn er an ihr zog.
Tief in seinem Schädel erfand ein Limbisches System plausible Gründe für das, was er gleich tun wollte. Wir könnten ihm den Drang eingeben, sich die Kleider vom Leib zu reißen und nackt ums Haus zu laufen. Die Stimme der Vernunft würde mit Überzeugung behaupten: Ich wollte einfach mal etwas Verrücktes, Spontanes und Kreatives tun ...
Er setzte sich ins Auto und fuhr immer auf die Lichter zu. Irgendwo auf einer Wiese standen Autos kreuz und quer. Er stellte seines dazu. Als er die Tür zuschlug, fühlte er etwas wie Beklemmung im Schließmuskel.
Einfach über die Wiese zu den Feuern gehen und herausfinden, was es damit auf sich hat! Vorsichtig sein, weil man die eigenen Füße nicht sieht. Wenn du nicht aufpasst und in ein Loch am Boden stolperst, bekommt deine Wirbelsäule einen Dämpfer. Weiter unten fühlt es sich an, als würde dir jemand mit einem Brett auf die Fußsohlen schlagen.
Er war ein Eindringling in fremdem Territorium, jetzt ganz nah bei den Feuern, zwischen denen sich Menschen sehr langsam bewegten, viele mit Flaschen in der Hand.
Es war erregend, einfach hinzugehen, ohne wirklich zu wissen, was er tat. Dann sah er diese beiden Frauen, die in Wolldecken gehüllt vor einem großen Zelt saßen. Neben ihnen stand eine Kühlbox. Das bewegte Licht der Lagerfeuer fuhr in Wellen über ihre Gesichter.
"Ich bin Paul," sagte er, "Hättet ihr wohl ein Bier für mich?"
Die eine deutete auf die Kühlbox, rümpfte die Nase. Er sah die andere an. Ihm stockte der Atem beim plötzlichen Gefühl des Wiedererkennens. Dann sah sie ihn an und ihre Augen stellten ihn wie Scheinwerfer: Ihr ovales Gesicht, ihr Haar, ihre Hände und die Ahnung ihres Körpers versetzten ihn an einen lange vergessenen Ort.
"Es ist eine schöne Nacht. So ähnlich muss es vor langer Zeit gewesen sein, bei den Steinzeitmenschen, wenn sie am Lagerfeuer saßen."
Das Feuer flackerte kurz auf, als wollte es ihm Recht geben.
"Es hat hier lange Zeit Neandertaler in den Kalksteinhöhlen gegeben. Ich leite dort eine Ausgrabung," sagte er und wollte schon fragen: Und was machst du so?
Ihr Gesicht erhellte sich: "Das ist ja interessant! Erika und ich, wir haben einmal eine Woche lang Überlebenstechniken ausprobiert."
Sie fing an zu reden wie ein voll aufgedrehter Wasserhahn, entließ eine Folge von Wirten in die rauchige Luft, dass ihm Hören und Sehen verging, erzählte von Büchern und kam auf all die Dinge zu sprechen, die sie in ihrem Zelt hatten. "Willst du sie sehen?"
Er nickte verdattert, folgte ihr. Er hatte eine starke Erektion, die ihn beim Gehen behinderte.
Dann kam aus dem Nichts eine halbvolle Bierdose geflogen, traf ihn hart an der Schulter und blieb vor dem Feuer liegen. Sofort drehte er sich um. Es Besoffener schrie ihm eine hysterische Tirade entgegen. Er verstand ihn zuerst nicht.
"Hassu... Hast du... gehört... was ich gesagt hab, du Scheiß Ne-a...Neandertaler? Ich schlag dir die Fresse ein!"
Der Drang durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag: Hinrennen und den Kerl schlagen! Bei ihm waren andere, die aussahen wie Mensch gewordene Felsbrocken. Einatmen. Ausatmen.
Die Stimme der Vernunft ergriff ausnahmsweise zur richtigen Zeit das Wort: Souverän bleiben! Er zitterte, fletschte die Zähne, beherrschte sich aber. Er rief dem Mann entgegen, der auf ihn zuwankte: "Wenn du ein Problem hast, klären wir das, wenn du wieder nüchtern bist! Ich führe hier nämlich gerade eine sehr interessante Unterhaltung."
Der Besoffene glotzte ihn an. Nickte nur. Torkelte vorüber. Die Riesen folgten ihm still. Bei irgendeinem Busch blieb er stehen und erbrach sich. Das hörte sich an wie ein verstopfter Abfluss, der plötzlich überging.
Auf einmal erfasste Paul eine unerklärliche Euphorie: Konnte es sein, dass das Universum in seinem zähen Eigensinn über riesige Zeiträume hinweg ungelöste Probleme immer wieder vorlegte und einen mit Glück überschüttete, wenn man einmal etwas richtig machte? Du hast etwas geschafft Paul, auch wenn du nicht weißt, was.
Mit einer zweiten Wolldecke unter dem Arm kam die Frau aus dem Zelt. Er sah ihr Gesicht jetzt deutlich, mit allen Lachfältchen. Er hüllte sich in diese Decke und spürte den Schweißfilm auf seiner Haut und dass ihm kalt war.
Sie sagte: "Ich bin Melanie."
Als diese Formalität erledigt war, setzten sie sich ans Feuer. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Ganz so, als würden sie eine Unterhaltung fortsetzen, die vor Ewigkeiten begonnen hatte, sprachen sie über dieses und jenes: Sie melodisch und sehr schnell, wie ein kleiner Vogel, er getragen und bedeutungsvoll wie ein Bär. Ihre Stimmen bildeten ein seltsames Duett unter dem endlosen Meer der Sterne.
Noch später, als der Alkohol und die Wärme wohlig in allen Gliedern kribbelten und Melanie ruhig an seiner Seite atmete, legte Paul den Kopf in den Nacken und sah den Sternenhimmel wie zum ersten Mal: Ob dort oben wohl jemand um unser großes Feuer schlich?
Ob es sein kann, dass all das einen Sinn ergibt, der lose Enden und getrennte Seelen zusammenführt, über Meere von Zeit hinweg?
Sehr wahrscheinlich war es nicht.
Aber was wissen wir schon?
Er machte die Augen zu. Vor dem Einschlafen nahm er sich noch vor, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, damit nicht weitere vierzigtausend Jahre vergingen, bis sie sich wiedersahen ...