Fieberschauer
Fieberschauer
Tom erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen. Sofort hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Dabei wusste er genau, dass außer ihm niemand in der schäbigen kleinen Mietwohnung sein konnte.
Das unangenehme Gefühl wurde er nicht los. Er hörte leise Geräusche. Dann war ihm, als sähe er einen Schatten vorbeihuschen. Ab und zu glaubte er, den Klang ihrer Stimme zu hören.
Tom konnte keinen Bissen hinunterbekommen. Er trank nur eine Tasse Tee, bevor er das Haus verließ. Als er ein paar Schritte gegangen war, schlug die Haustür ein zweites Mal zu. Er fuhr herum. Aber da war niemand.
Ein Auto raste die Straße entlang. Wieder schrak er zusammen. Auf dem Beifahrersitz hatte sie gesessen. Oder vielmehr, da hatte eine Frau gesessen, die von hinten genauso aussah wie sie: die gleichen kurzgeschnittenen, braunen Haare, der schmale Rücken. Die Frau trug etwas Grünes. Grün war Tante Ediths Lieblingsfarbe gewesen.
Ein Schauer lief Tom über den Rücken und er war froh, als er in seinem Auto saß. Aber als er gerade den Kopf über sich selbst schütteln wollte, sah er am Fenster eines vorbeifahrenden Busses Tante Ediths Gesicht. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Nass geschwitzt erreichte er das Rathaus, wo er im Bürgerbüro Meldebescheinigungen entgegennehmen und Personalausweise verlängern musste.
Sein erster Kunde benötigte Beglaubigungen einer Sterbeurkunde. Toms Blick fiel auf den Namen der Verstorbenen. Er lautete Edith. Genau in diesem Augenblick hörte er ein Lachen. Ihr Lachen. Es kam von der anderen Seite des Großraumbüros. Tom sprang auf, doch das Bild verschwamm vor seinen Augen.
Das Telefon schrillte überlaut. „Guten Morgen“, sagte eine Stimme, und er hätte schwören können, dass es Tante Ediths war. „Ich habe einige Zeit außer Landes verbracht und benötige einen neuen Personalausweis. Aber mein Familienstammbuch ist mir abhanden gekommen.“
„Dein Familienstammbuch habe ich“, hätte Tom beinahe geantwortet. Stattdessen blieb er stumm.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
„Am – am besten, Sie kommen vorbei“, stotterte er.
„Gut. Vielen Dank. Auf Wiederhören!“ Wenn sie ärgerlich war, hatte Tante Edith immer so abgehackt gesprochen. Am Schluss hatte sie nur noch auf diese Weise mit ihm geredet.
Tom zitterte. War es vor Kälte oder vor Schreck? Er brauchte jetzt unbedingt eine kleine Pause.
Obwohl er fror, glühte seine Stirn. Im Toilettenraum spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann ging er in eine Kabine und schloss ab. Die Stille tat gut. Er klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich. Dann griff er in seine Hosentasche und zog die Brieftasche heraus. Aus irgendeinem Grund trug er das Foto von Tante Edith immer noch bei sich. Es musste vor vielen Jahren entstanden sein, vielleicht zu der Zeit, als seine Eltern verunglückt waren und sie ihn zu sich genommen hatte. Damals war er zwölf Jahre alt gewesen.
Auf dem Bild lächelte Tante Edith. Sie konnte richtig nett und spitzbübisch aussehen. Lange war alles in Ordnung gewesen zwischen ihnen. Sogar ihr Geheimnis hatte sie ihm anvertraut. Später wurde es immer schwieriger. Es gab oft Streit. Eine steile Falte bildete sich zwischen Tante Ediths wässrigen hellblauen Augen, wenn sie zornig war, und ihre Stimme wurde hart. „Versager“, hatte sie ihn genannt, „Taugenichts“ und „Nichtsnutz“. Ständig hatte sie ihn bedrängt. Einerseits hatte sie Recht gehabt, andererseits auch wieder nicht. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass er machtlos war.
Und nun war sie tot. Tot und begraben. Tom seufzte und steckte die Brieftasche wieder ein. Sie war gestorben vor – ja, auf den Tag genau vor drei Monaten.
Wenn nur sein Kopf nicht so stark schmerzen würde! Bevor er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, nahm er eine Tablette. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder verwirrten sich seine Gedanken und gingen zurück in die Vergangenheit. Er dachte an Tante Edith, wie sie ihm ein feuchtes Tuch auf seine fieberheiße Stirn legte, ihm ein Eis kaufte, mit ihm Karten spielte, Tante Edith, die einen Lottoschein ausfüllte oder mit ihm wettete, wer beim Fußballspiel gewinnen würde – genau genommen war es eigentlich sie, die Schuld hatte an seinem Unglück.
„Ich bekomme noch Geld zurück“, sagte eine harte Stimme.
Tom zuckte zusammen. „Oh ja, natürlich. Entschuldigen Sie!“ Die wasserblauen Augen der Frau, die ihm gegenüber saß, sahen ihn vorwurfsvoll an. Seine Hand zitterte, als er ihr einen 20-Euro-Schein hinüberreichte.
Am Anfang lieh Tante Edith ihm noch Geld, wenn er keins mehr hatte. Zuerst nahm sie seine Leidenschaft nicht wirklich ernst. Aber als sie dann merkte, dass er sein ganzes Geld in der Spielhalle ließ, ging der Ärger los.
„Sie hören mir ja gar nicht zu!“, sagte der Mann empört, dessen Personalausweis er in den Händen hielt.
„Doch, doch“, murmelte Tom. „Sprechen Sie nur weiter.“ Wenn ihm nur nicht so schwindelig wäre!
Tante Edith hatte unaufhörlich auf ihn eingeredet. „Bleib hier“, sagte sie, „gib nicht dein ganzes Geld für Glücksspiele aus!“ Doch zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät. Seit er einmal eine größere Summe gewonnen hatte, träumte er davon, wieder das Geräusch zu hören, wenn ein Spielautomat Geld ausspuckt, und je länger seine Pechsträhne dauerte, desto größer wurde seine Hoffnung auf einen Gewinn. Er war süchtig: nach den blinkenden bunten Lichtern, dem Klingeln und Klacken der Spielautomaten und der elektrisierenden Atmosphäre im Spielsalon.
Tom machte Schulden. Niemand durfte etwas davon erfahren, denn die Spielsucht hätte ihn sofort seine Stellung bei der Stadt gekostet. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das Geld je zurückzahlen sollte. Seine Gläubiger wurden unangenehm, vor allem die zwielichtigen Gestalten, die sich häufig bei den Spielautomaten herumtrieben.
Wie in einem Taumel verging der Morgen. Tom schwirrte der Kopf, als er mittags die Kantine betrat. Seine Glieder schmerzten und der Gedanke an Essen verursachte ihm Übelkeit. Er holte sich ein Glas Orangensaft und setzte sich allein an einen Tisch. Als sein Blick zufällig zur Kasse wanderte, verschluckte er sich fast. Dort, am Ende der Warteschlange, stand sie. Frisur und Kleidung, die Art, wie sie sich die glatten braunen Haare zurückstrich und ihre Tasche öffnete – das war Tante Edith, wie sie leibte und lebte. Er wollte hingehen, dem Spuk endlich ein Ende machen, aber er konnte sich nicht rühren. Sie sah ihn an. Sein Herz schlug schneller. Gleich würde sie zu ihm herüberkommen! Was sollte er sagen? Wie ihr erklären ...
Alles drehte sich um ihn. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Als er wieder zur Kasse schaute, war sie verschwunden. Erschöpft lehnte er sich zurück. Wieso begegnete ihm Tante Edith plötzlich auf Schritt und Tritt? Er wusste doch genau, dass sie tot war.
Tom starrte in sein halbleeres Glas. „Mahlzeit“, sagte eine Stimme. Ihre Stimme. Entsetzt blickte er hoch. Vor ihm stand wie in einem Nebel Frau Bauer, die ihren Schreibtisch neben seinem hatte. Aber es war nicht nur seine Kollegin, es war auch Tante Edith. Sie schaute aus Frau Bauers Augen und ihr spitzbübisches Lächeln lag auf Frau Bauers Gesicht. Nie zuvor hatte er bemerkt, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen.
„Mahlzeit“, stammelte er.
Frau Bauer ging nicht weiter. Anscheinend erwartete sie, dass er ihr einen Platz anbot. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. Wie er diese Falte in Tante Ediths Gesicht gefürchtet hatte! Er senkte den Blick.
„Na dann bis gleich!“, zischte sie und ging.
Die Nachmittagsstunden zogen sich in die Länge. Das Sausen in seinen Ohren und das Klopfen hinter seiner Stirn wurden immer schlimmer. Tante Edith erschien ihm am laufenden Band. Sie war am Telefon, lachte irgendwo im Raum, blickte ihn aus vielen Gesichtern an und gleichzeitig hallte ihre Stimme durch seine Gedanken.
„Das hättest du nicht tun dürfen“, sagte sie. „Du hättest einen anderen Ausweg finden müssen.“
‚Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte’, dachte Tom, ‚mir blieb doch keine andere Wahl.’
Als er bei Dienstschluss das Rathaus verließ, waren seine Beine so schwer, dass er Mühe hatte zu laufen. Doch er wollte nicht in seine Wohnung zurückkehren. Voll Furcht Tante Edith wieder zu begegnen ging er in den Stadtpark und setzte sich auf eine Bank.
Ein Betrunkener torkelte auf ihn zu. Er lallte etwas Unverständliches und ließ sich neben ihn fallen. Tom wurde übel, als er den süßlich scharfen Alkoholdunst wahrnahm. Der Kopf des Mannes sackte immer weiter nach vorn. Schließlich begann er laut zu schnarchen.
Tom musste an den Sommerabend denken, als er mit Tante Edith auf dem Balkon saß. Es war sein achtzehnter Geburtstag. Er hatte sich gerade ein Bier geholt.
„Willst du auch eins?“
„Nein, danke. Du weißt doch, dass ich nicht trinke.“
Nur leise nächtliche Geräusche waren in den umliegenden Gärten zu hören. Die laue Dunkelheit hüllte sie ein wie eine weiche Decke.
„Ich möchte dir etwas sagen.“ Tante Edith sprach sehr leise. „Es hat einen Grund, warum ich keinen Tropfen Alkohol trinke.“
Sie holte tief Luft. „Mein Leben vorher – bevor du zu mir kamst – war einsam. Ich sah keinen Sinn darin. Und so ist es passiert.“
Tom ahnte, was sie ihm sagen wollte.
„Ich habe angefangen zu trinken. Erst wenig und dann immer mehr. Bald dachte ich an nichts anderes mehr. Erst als ich meine Arbeit verlor, begriff ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich machte eine Entziehungskur und schloss mich den Anonymen Alkoholikern an. Als ich dich zu mir nahm, war mein Leben wieder in Ordnung. Und dass ich es immer noch im Griff habe, verdanke ich auch dir.“ Sie lächelte ihn an.
Oh, warum hatte es nicht so bleiben können zwischen ihnen? Sie, gerade sie, hätte doch Verständnis haben müssen für seine Sucht! Warum nur hatte sie ihm ihre Hilfe verweigert?
„Bitte“, flehte er sie an, „die verfolgen mich. Tag und Nacht sind sie hinter mir her.“
„Ich kann dir nicht helfen. So viel Geld habe ich nicht.“
„Aber du hast doch ein Sparbuch.“
„Das reicht bei weitem nicht.“
„Wenn ich ihnen diese Summe gebe, halten sie vielleicht für eine Weile still.“
„Das Geld habe ich jahrelang zusammengespart. Ich will nicht, dass du es vergeudest und irgendwelchen Verbrechern in den Rachen wirfst.“
„Diese Verbrecher bringen mich um! Ist dir mein Leben denn gar nichts wert?“
„Du musst zur Polizei gehen. Oder dich an eine Schuldnerberatungsstelle wenden.“
Tante Edith gab nicht nach. Als die Gläubiger ihm schließlich ein Ultimatum setzten, sah er keinen anderen Weg.
Der Betrunkene neben ihm wachte auf. Vor sich hin murmelnd schlurfte er davon. Tom blickte ihm nach. Er hatte ein Gefühl, als würde der Boden unter ihm schwanken. Wieder hörte er ihr Lachen. Sie stand vor den Büschen am Wegrand, eine schmale Gestalt in einem grünen Kleid, die ihm zuwinkte.
Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Wusste sie, was er getan hatte? Und falls sie es wusste, verzieh sie ihm? Wenn er ihre Vergebung hätte, vielleicht könnte er sich dann eines Tages auch selbst verzeihen.
Immer wieder war er in Gedanken ihren letzten Lebensabend durchgegangen: sowohl vorher als auch hinterher. In das Glas Cola, das sie immer zum Mittagessen trank, hatte er einen kräftigen Schluck Rum gemischt. Sie merkte es nicht sofort, und als sie es merkte, war es zu bereits spät. Der eine Schluck hatte genügt, um ihre Alkoholsucht wieder aufflammen zu lassen. Sie trank Whisky, Wodka, alles, was er ihr anbot. Sie trank bis zum Abend und dann legte er ihr den Brief vor.
„Tante Edith“, sagte er, „beinahe hätte ich es vergessen. Du musst noch diese Bescheinigung unterschreiben.“
„Waff iff daff?“ lallte sie.
„Eine Bescheinigung für die Schuldnerberatung, dass ich bei dir wohne.“
Tante Edith setzte eine kaum leserliche Unterschrift darunter. Sie hatte soeben ihren eigenen Abschiedsbrief unterschrieben. „Ich will sterben“, stand dort mit ihrer altmodischen Schreibmaschine geschrieben. „Ich habe wieder angefangen zu trinken und bin tablettensüchtig. Mein Leben ist zerstört.“
Tom legte den Brief auf Tante Ediths Schreibtisch. Danach löste er Schlaftabletten in ihrem Glas auf. Er zog sich schnell einen Schlafanzug an, und als er ins Wohnzimmer zurückkam, schlief sie. Wenn sie nicht so laut geschnarcht hätte – fast hätte man meinen können, sie wäre schon tot. Ihre Augen standen einen Spalt offen, das Gesicht war bleich, und aus ihrem Mund rann Speichel.
Er schleifte sie zum Balkon. Wer hätte gedacht, dass die zierliche Tante Edith so schwer war! Er keuchte, als er die bewusstlose Frau auf die Brüstung hievte. Sie wachte auch nicht auf, als er sie vom fünften Stock in die Tiefe stürzte.
Noch ehe ihr Körper auf den Steinplatten aufschlug, rannte Tom vom Balkon. Er zerwühlte sich die Haare, und als es kurze Zeit später läutete und er die Haustür öffnete, blinzelte er verschlafen ins Licht.
Er spielte seine Rolle gut. Niemand schöpfte Verdacht. Tante Ediths Vorgeschichte, ihr Abschiedsbrief, der Alkohol und die Barbiturate in ihrem Blut sowie die Tatsache, dass keine Kampfspuren zu finden waren – alle diese Indizien führten die Polizei zu dem Schluss, dass es sich um Selbstmord handelte.
Tom merkte, wie ihm die Augen feucht wurden. Ja, er vermisste seine Tante Edith. Trotz allem, er vermisste sie. Er litt, jeden Tag. Seit drei Monaten schon. Es tat ihm so bitter, bitter Leid! Auch, dass er ihre Eigentumswohnung verkaufen musste. Tante Edith hatte so sehr daran gehangen. „Wenn du sie eines Tages erbst“, sagte sie oft, „darfst du sie auf keinen Fall verkaufen. Das musst du mir versprechen!“ Er hatte ihr das Versprechen gegeben, aber er konnte es nicht halten. Dazu brauchte er das Geld viel zu dringend.
Ein kleiner Wind war aufgekommen. Tom fröstelte. Aber er hatte nicht die Kraft von der Bank aufzustehen und nach Hause zu gehen.
Nach Tante Ediths Tod war er in die kleine Mietwohnung am Stadtrand gezogen, weit weg von der Spielhalle, wo das Unglück seinen Anfang nahm. Es war ihm nicht leicht gefallen, nicht mehr dorthin zu gehen. Jeden Abend raunte ihm eine Stimme unablässig zu: „Heute hast du bestimmt Glück!“ Und eine andere Stimme sagte: „Geh nicht, sonst bist du verloren.“ Tom wusste genau: Ein Spiel würde genügen, und er wäre wieder da, wo er vorher gewesen war. So wie ein Schluck Alkohol genügt hatte, um Tante Edith ins Verderben zu stürzen.
Der Kampf gegen den Spielteufel war hart und er hatte ihn noch nicht gewonnen. Doch es war zu gefährlich, Hilfe zu suchen. Niemand durfte ahnen, wie dringend er Tante Ediths Erbe gebraucht hatte.
Beinahe wäre Tom auf der Bank eingeschlafen, so matt fühlte er sich. Aber da war der Schüttelfrost. Seine Zähne schlugen aufeinander. Mit unsicheren Beinen stand er schließlich auf und schleppte sich zum Ausgang. Es war einsam um ihn. Er versuchte, schneller zu gehen. Erst als er die belebte Straße erreicht hatte, atmete er auf. Hier, unter all den Menschen, fühlte er sich einigermaßen sicher – vor ihr. Aber wenn er an den langen Abend in seiner Wohnung dachte, kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Als er sich dem Parkplatz näherte, wo er sein Auto abgestellt hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Die Abendsonne schien ihm in die Augen, sodass er die Gestalt erst nicht genau erkennen konnte, die neben seinem Wagen stand. Doch dann sah er sie ganz deutlich. Der Wind spielte in ihrem glatten braunen Haar. Die Frau hatte ihre Hand auf den Kühler gelegt und blickte ihm entgegen. Tante Edith wartete auf ihn.
„Geh weg!“, schrie er. „Lass mich in Ruhe!“
Sie schüttelte ganz langsam den Kopf.
Ein Mann blieb neben ihm stehen. „Was ist los?“, fragte er. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Die Frau, die Frau da“, stammelte Tom, „sie verfolgt mich.“
„Welche Frau? Ich sehe niemanden.“
Tom blinzelte gegen die Sonne. Tante Edith war weg.
Danke, ich habe mich geirrt“, murmelte er und stolperte weiter.
Schwer atmend ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und verriegelte die Tür. Seine Augen brannten. Er verschränkte die Arme, legte sie auf das Lenkrad und ließ seinen schweren Kopf darauf sinken. Was war nur los mit ihm? Er fürchtete sich, vor Tante Edith, vor einer Toten. Oder war sie am Ende gar nicht tot? Aber er hatte doch selbst ihre Leiche identifiziert, war auf ihrer Beerdigung gewesen, hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Sarg in die Erde gesenkt wurde. Hatte er den Verstand verloren?
„Du wirst Tante Edith niemals los“, hörte er eine Stimme. War es ihre oder seine eigene?
Er versuchte gleichmäßig durchzuatmen. Bis auf wenige Autos war der Parkplatz leer. Er streckte seine müden Arme und startete den Wagen. Als er sich in den Verkehr einfädelte, hörte er hinter sich quietschende Bremsen und wildes Hupen. Im Rückspiegel sah er, wie der Fahrer des nachfolgenden Wagens schimpfte und mit den Armen fuchtelte.
Tom fuhr in eine Nebenstraße und hielt am Straßenrand. Das war knapp. Er zitterte am ganzen Körper. So ging es nicht weiter. Er war nur noch ein Nervenbündel, ein Wrack. Erschöpft sank er in sich zusammen und massierte seine schmerzend heiße Stirn.
Plötzlich setzte er sich kerzengerade auf. Ja, das war die Erklärung! Es konnte nicht anders sein! Er war schlicht und einfach krank! Deshalb fühlte er sich so schlecht. Sicher hatte er sehr hohes Fieber! Und diese Alpträume, die Begegnungen mit Tante Edith, das waren nur Fieberträume, nichts weiter!
Dieser Gedanke machte ihm Mut und er fasste einen Entschluss. Falls Tante Edith noch einmal auftauchte, würde er einfach so tun, als wäre sie nicht da. Wenn er sie nicht mehr beachtete, würde sie ihn sicher in Ruhe lassen.
Und jetzt musste er dringend ins Bett. Entschlossen drehte er den Zündschlüssel und fuhr los. Als er sich dem Stadtviertel näherte, wo er früher gewohnt hatte, fühlte er sich schon besser. Er wagte sogar, langsam an dem Haus vorbeizufahren, in dem er früher gewohnt hatte, und zum fünften Stock hinaufzusehen. Fremde Gardinen hingen an den Fenstern. Auf der Fensterbank standen Grünpflanzen. Es war nicht mehr ihre Wohnung. Andere Leute lebten darin.
Doch als Tom gerade darüber nachdachte, ob er noch schnell zum Friedhof fahren sollte, um einen Blick auf ihr Grab zu werfen, bemerkte im Rückspiegel eine kleine Bewegung. Nein, er hatte sich schon wieder geirrt.
Inzwischen war es dämmrig geworden. Als er in die Hauptstraße einbog, schaltete er die Scheinwerfer ein. Da hörte er ein leises Räuspern hinter sich. Eine Stimme fragte: „Glaubst du, dass du jemals Ruhe finden wirst?“
Gegen seinen Willen schaute er in den Rückspiegel. Die vielen Scheinwerfer blendeten ihn. Das Wageninnere lag dagegen im Dunkeln. Doch die schmale Gestalt erkannte er sofort. Das Gesicht schwebte wie ein bleicher Lampion über dem Rücksitz. Die Augen waren dunkle Höhlen. Tante Edith bleckte ihre großen Zähne.
„Ich bleibe bei dir“, sagte sie wie damals, als sie ihn nach dem Tod seiner Eltern im Arm hielt. Ihre Hände krallten sich in seine Schulter.
Tom schrie. Er wollte anhalten, aber da war kein Parkplatz. Er musste fahren, immer weiter, und er schrie und schrie, während ihr kalter Atem seinen Nacken streifte.
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine Parklücke am Straßenrand auf. Er lenkte nach rechts, fast blind, stellte den Motor ab und floh. Schweißüberströmt wankte er auf das Gebäude zu. Tränen liefen ihm über das Gesicht. An der Tür blickte er sich noch einmal um. In seinem Wagen saß niemand – oder doch?
Hastig trat Tom ein. Hier gab es keine Geister. Hier war kein Raum für Gespenster. Die Automaten klingelten, klackten und rasselten, bunte Lichter blinkten. Tom tat einen Seufzer der Erleichterung. Die elektrisierende Atmosphäre aberwitziger Hoffnungen wirkte augenblicklich Wunder.