Was ist neu

Fischle zählen

Team-Bossy a.D.
Seniors
Beitritt
23.02.2005
Beiträge
5.272
Zuletzt bearbeitet:

Fischle zählen

Zwei aus meiner Clique hatte ich ins Jack Daniels, unsere Lieblingskneipe, zum Billard mitgenommen. Der Wirt war selbst ein leidenschaftlicher Spieler, so war der Tisch immer in Ordnung, was uns damals äußerst wichtig schien.
Das Jacki war die erste Station unserer üblichen abendlichen Wochenendtouren. Wir verbrachten dort ein bis zwei Stunden in dem dunkelholzigen Raum mit einigen Bieren, vielen Rauchschwaden, die um unsere Häupter zogen und den klackenden Lauten aufeinanderstoßender Kugeln. Dann wurde es Zeit, weiter in die sich langsam füllenden angesagten Lokale zu ziehen; in der Hoffnung, Freunde und Bekannte zu treffen und vielleicht einige unvergessliche Stunden zu erleben.

Im Jacki wurde beim Billard immer herausgefordert; wer eine Münze unter die Bande legte, würde sich mit dem Sieger des vorherigen Spieles messen müssen. Mein Geldstück war das Erste von uns Neuankömmlingen an jenem schwülen Sommerabend.
„Hey Gerd, freut mich, dich mal wiederzusehen“, rief Jörg, einer aus meiner Clique, einem der Spieler zu, „du musst unbedingt gewinnen. Isa fordert heraus. Diese Partie will ich sehen!“

Gerd war schon Gast in meinen Phantasien gewesen. In den verschiedenen Kneipen und Bars, in denen ich ihn manchmal sah, wurde er jedesmal von mir mit Genuss gemustert. Meine Blicke blieben immer in seinem langen, wuscheligen Haar hängen und sein großer voller Mund ließ mich darüber sinnieren, ob seine Lippen wohl auf meinen so unsagbar weich wären, wie sie es versprachen.

Während meiner Herausforderung würde ich endlich mit ihm ins Gespräch kommen können. Ich schraubte mein Queue zusammen und sah ihm zu, wie er über zwei Banden die schwarze Kugel ins angesagte Loch versenkte.
“Und das mit diesem krummen Ding hier“, rief er etwas lauter als nötig, während er mit dem Stock, der für jedermann zugänglich war, bewusst in Richtung Wirt herumwedelte.
„Wir können zusammen mit meinem spielen“, bot ich ihm an, „damit es auch gerecht ist“, und forderte dann noch, „aber dafür hab’ ich einen Wunsch frei“.
„Den erfüll’ ich dir, wenn ich gewinne“, lachte er mich an.
„Nö, bin ich dagegen“, wandte Jörg ein, „dann spielt sie jetzt grottenschlecht. Es gilt, wenn die schwarze Kugel solo liegt.“
Damit waren wir einverstanden und als Geübte schafften wir es beide jeweils, all unsere farbigen Kugeln einzulochen. Die Hitze des Abends machte keinen Halt vor den Mauern des Gebäudes, der Wirt hatte sogar alle Fensterflügel aufgeklappt; so wunderte es mich auch nicht, dass ich Schweißtropfen spürte, die auf meiner Haut ihren Weg suchten, während ich den für die weiße Kugel fixierte.
Gerd gewann zwar und spielte dann gegen Jörg, der ihn schnell abzog, aber es stand noch etwas im Raum, was mich unruhig auf dem Barhocker hin und herrutschen ließ.

„So, was wünschst du dir denn?“, fragte mich Gerd neugierig, als er sich zu mir gesellte.
„Ich würde gerne irgendwo draußen mit dir allein sein“, kam es aus mir heraus. Ich hatte es tatsächlich ausgesprochen.
„Keine schlechte Idee, ist ja eigentlich schade, hier in der verqualmten Kneipe zu sitzen, wenn wir schon mal einen so lauen Abend haben“, überlegte er laut. „Und die anderen?“
„Ich bin zwar gefahren, die anderen können sich aber in Jörgs Auto quetschen“, dachte ich laut nach und zeigte ihm offen meine Freude über seine Antwort mit einem Lächeln.

„Ich hätte Lust, zum Rhein zu gehen.“ So, das war auch draußen. Gerd schaute mich kurz nachdenklich an.

Es gibt eine Zeit, in der man noch keine eigene Bleibe hat und sich so doch so erwachsen fühlt, Dinge zu unternehmen, die andere nichts angehen. Bei uns wurden keine Briefmarkensammlungen angeschaut, sondern man ging ans Rheinufer Fischle zählen.

Lächelnd erwiderte er: „Okay, lass uns an der Tanke noch was zum Trinken holen“.
Meine Hände zitterten ganz leicht, als ich die Autotüre von Opas altem Audi aufschloss.
„Super, dass du ein Auto hast“, bemerkte Gerd und machte sich am Radio zu schaffen.
„Bis morgen um sechs, dann wird es wieder gebraucht“, antwortete ich.
„Na, bis dann haben wir doch wohl auch genug Fischle gezählt“, gab er zurück, und unser Lachen übertönte kurz die Musik, wobei in meinem ein wenig Unsicherheit mitschwang.

Begibt man sich in unserer Rheintal-Region auf eine Anhöhe und betrachtet die Landschaft, entdeckt man von Westen aus gesehen vier parallel verlaufende Schlangen, denen die Vogesen den Hintergrund beisteuern: Den Kanal, den Rhein, die Auto- und die Eisenbahn. An manchen Stellen sind sie nur Meter voneinander entfernt und scheinen am Horizont ineinander zu verschmelzen.

Wir holten uns auf dem Weg ein kaltes Sixpack und diskutierten herum, welche Richtung wir fahren sollten. Um an den Rhein zu gelangen, muss man hinter die Autobahn kommen: Untendurch oder obendrüber. Wir parkten bei einem Baggersee vor einer Unterführung. So hatten wir zwar den kürzesten Fahrweg, den Rest bis zum Fluss aber mussten wir den für Autos gesperrten Feldweg zu Fuß gehen.

Auf unserem Marsch begleitete uns das Murmeln eines schmalen Baches neben unserem Weg. Kurz, bevor wir in den betonierten Durchgang direkt unter die A5 eintraten, wurde das Wasser in eine Röhre weitergeleitet. „Den sehen wir erst wieder direkt am Ufer rauskommen“, erklärte mir Gerd, „und die Röhre ist so dick mit Steinen umpflastert, dass wir bequem drauf sitzen können“. Außer diesem Satz tauschten wir die ganze Strecke über keine Worte aus, sondern nahmen uns anders wahr.
Er trug unter seinem rechten Arm das Sixpack und lief dicht neben mir. Unsere freien Arme berührten sich immer wieder leicht beim Schlenkern und ich bekam Lust darauf, mehr von ihm zu spüren.

Wir machten es uns auf den Steinen so gut wie es ging gemütlich und ich legte meinen Kopf auf seine festen Oberschenkel, während er sich hinter seinem Rücken mit den Händen abstützte. Im Norden sah ich bedrohliche dunkle Wolken aufziehen.
„Ich glaub’, im Hinterland gibt’s grade ein mächtiges Gewitter. Ist ja kein Wunder bei der Hitze“, murmelte ich vor mich hin und genoss trotz der Aussicht auf baldigen Regen seine Nähe.

Er erzählte mir von seiner Familie, die keine war und seiner Mutter, die mit drei Jungs alleine klarkommen musste. Er war der Älteste und sträubte sich gegen die Rolle, die er ohne gefragt worde zu sein zugewiesen bekam. Während ich ihm zuhörte, spielte er mit meinen Locken, streichelte über meine Wangen, zog mit seinen Fingern meine Augenbrauen nach, kitzelte meinen Hals und lächelte mich dabei immer wieder an.

Später erzählte ich von mir und meinen Gedanken und dass ich ihn schon immer gern einmal geküsst hätte. Dabei war ich hinter ihm, legte den Kopf an die Stelle zwischen den Schulterblättern und stöberte mit meiner Nase in seinem T-Shirt, das frisch und draußen getrocknet roch, während meine Unterarme seinen Bauch leicht drückten. Es wurde dämmrig und ein eindrucksvolles Wetterleuchten ließ uns staunen.

Wir ließen unsere Münder erst vorsichtig aufeinanderkommen, leicht und zart, aber später überschlugen sich die gegenseitigen Aufforderungen, den anderen zu erkunden. Unsere Zungen erzählten sich ihre eigenen Geschichten und ich wusste in dem Augenblick, dass ich nie weichere, liebkosendere Lippen erleben würde als diese hier.

Gesprochen haben wir nicht darüber, aber es war nicht an der Zeit, mit unserer Lust weiter auf Kundschaft zu gehen. Wir lebten alle wie die Schmetterlinge, von einer Blüte zur anderen flatternd, und keiner wollte sich auf einer bestimmten niederlassen. Solange die Kleider an den Leibern blieben, war es ein lustvolles Geplänkel, das man vor sich und den anderen eingestehen durfte – besonders, wenn es öfters in verschiedener Besetzung stattfand.

Ein naher Donner zog unsere Blicke gegen den Himmel.
„Wir sollten wohl“, kam es von ihm und dabei gab er mir einen fast brüderlichen Kuss auf die Wange.
Ich musste grinsen, als ich die noch vollen Flaschen Bier sah: „Die haben wir nun auch nicht gebraucht“.
„Wir können ja noch eine gemütlich im Auto trinken, wenn der Regen auf die Scheiben prasselt“, schlug er vor.

Wir näherten uns händehaltend der Unterführung. Da es schon fast dunkel war, sahen wir erst kurz vorher die Überraschung: Der Weg war nun eine Wasserfläche, die sich nach den Seiten hin ausbreitete.
„Mist, im Hinterland muss es wohl so sturzbachartig geschüttet haben, dass nicht mehr alles Wasser durch die Röhre fließen konnte.“

Schon auf mindestens fünfzehn Meter vor der Unterführung war die Dreckbrühe angestiegen.
„Wir sind hier nicht am tiefsten Punkt, ich schätze, es geht sicher noch fünfzig Zentimeter runter“, mutmaßte Gerd.
„Und? Was machen wir jetzt?“ Ich hätte gerne von ihm eine eindeutige Antwort bekommen.
„Was gibt es für Möglichkeiten: Wir können durch das Wasser...wir können über die Autobahn...wir können mindestens drei Kilometer bis zur nächsten Brücke gehen und auf der anderen Seite nochmals drei zurück – was ist dir am liebsten?“ fragte er mich und wartete neugierig auf meine Antwort.
„Also auf keinen Fall über die Autobahn. Hier ist soviel los, wir werden kaum eine Möglichkeit finden, rüberzukommen, ohne dass irgendein Auto auf der Piste ist. Und das im Dunkeln – nein.
Sechs Kilometer laufen? – Nein. Also ab durch die Suppe.“

Ganz wohl war mir bei der Entscheidung nicht. Uns war nicht klar, bis wohin uns das Wasser reichen würde, wenn wir den Weg durch die Unterführung nahmen, mal abgesehen davon, dass es darin sicher dunkel war.
Ich hatte Schiß. Pragmatisch zog Gerd seine Schuhe, Socken und auch die Jeans aus.
„Komm’, zieh dich aus und knote alles zusammen“, bat er mich.
Ich tat, was er von mir wollte, steckte meine Turnschuhe in die Jeans, verknotete die Hosenbeine und stellte mich neben ihn an das ungewohnte Ufer.

„Ich geh’ zuerst, und du bleibst direkt hinter mir“, war sein Vorschlag, den ich gerne annahm.
Langsam arbeiteten wir uns durch die kalte, stinkende Brühe, die Kleiderpäckchen sorgsam in die Höhe haltend. Aststücke, Blätter und vieles Undefinierbare berührte unsere Waden. Die werdende Nacht machte es auch nicht einfacher, die vorbeiziehenden Dinge zu erkennen.
Wir hatten die Unterführung noch nicht erreicht, als mir das Wasser schon bis zur Hüfte stand. Immer wieder stießen oder streiften Gegenstände meinen Bauch, von denen ich gar nicht genau wissen wollte, was mir entgegengetrieben worden ist.
„Gerd, meinst du nicht, das es zu hoch wird?“
„Neenee, das geht höchstens noch zehn Zentimeter höher, dann wars das auch schon“, versuchte er mich zu beruhigen.
„Wir gehen an die linke Wand rüber, da haben wir wenigstens etwas Orientierung“, rief er mir zu. „Hier in dieser Scheiße“, schrie er einige Momente später, was mich zusammenzucken ließ und womit er all seine Angst und seinen Ekel gegen die Betonwände brüllte, die mit ihrem Echo unsere missliche Lage noch unheimlicher machten.

Ich wusste in dem Augenblick nicht, was für mich schlimmer war: Diese Dunkelheit, die dauernd mich berührenden Gegenstände oder einer vor mir, der genau soviel Schiss hatte wie ich und von dem ich vermutete, dass er kurz vor einem Koller war.
„Was hier alles drin rumschwimmen kann“, überlegte er laut.
„Gerd“, zischte ich, „halt dein Maul.“ Das würde nun noch fehlen, meiner regen Phantasie mehr Futter zu geben.
Ich spürte das Wasser nun schon bis knapp unter die Brust. „Wenn es noch weiter steigt, drehe ich wieder um, das wird mir zu heikel“, warnte ich ihn.
Schritt für Schritt wateten wir danach wortlos voran.
„Gleich haben wir es“, hörte ich nach einer scheinbaren Ewigkeit die erlösende Nachricht. Mein rechter Arm, der die Kleider hielt, schmerzte.
Langsam sank der Pegel vom Bauchnabel zur Hüfte, während wir nach der Unterführung den Weg nach oben liefen, dann waren die Oberschenkel frei, kurz danach nur noch Wasser an den Waden, und endlich war es geschafft.
Wir hatten wieder trockenen Boden unter unseren Füßen, schmissen unsere Last weg und umarmten uns fest mit erleichterten Gesichtern und einem Anflug von Dankbarkeit, ohne dass ich recht wusste, an wen diese gerichtet war. Wir spürten und rochen in diesem Moment nicht einmal das Dreckwasser des anderen, das sich in die T-Shirts eingezogen hatte.
Das Gewitter hatte sich glücklicherweise verzogen.

„Weg mit allem, was noch an Stoff an uns klebt und ab in den Baggersee“, bestimmte er.
Wir schwammen uns in der Nähe des Ufers sauber. Der Himmel ließ schon wieder ein paar Sterne durchblitzen. Ich lag im Wasser auf dem Rücken und freute mich, dass die Wolken sogar einen fast vollen Mond preisgaben.

„Hast du vorhin wenigstens die Fischle gezählt?“, wollte ich von ihm wissen, als ich ihn neben mir planschen hörte. Er prustete lautstark Wasser aus seinem Mund und fragte lapidar: „Wie hätte ich die sehen sollen?“ Er verstand meine Frage nicht. Es war nicht wichtig, heute jedenfalls nicht. Wir setzten uns wie kleine Helden nackt und ganz nah beieinander ins Gras.

 

Lieber Detlev,

danke fürs Rausfischen ;).

Ich habe die Geschichte gerade erst nach langer Zeit wieder einmal durchgelesen und weiß nun, wie das sich anfühlt, eine eigene KG mit Abstand zu lesen. Beruhigend, mir dann sagen zu können: Es ist okay so, wenn auch mit:

Manche Sätze noch quer, die Adjektive gerne gesetzt und die Gewichtung der einzelnen Sequenzen ungleich

Schön, wenn ich in dir alte Erinnerungen hochlocken konnte.

Liebe Grüße
bernadette

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom