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Flaschenpost
Hallo Sie!
Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber trotzdem. Ich versuche es. Vielleicht verstehen Sie mich ja.
Ich glaube, ich werde verrückt. Lange mache ich das jedenfalls nicht mehr mit.
Gestern noch hatte ich versucht, hier heraus zu kommen. War einfach in den Bus gestiegen und setzte mich auf einen freien Fensterplatz. Voller Nervosität sah ich hinaus auf die vorbeiflitzenden Häuser, die geparkten Autos. Endlich machte der Fahrer die Ansage „Friedrichstraße“.
Das war der letzte Halt innerhalb der Stadt. Danach ging es über Land weiter.
In diesem Moment platzte die Seifenblase, die meine Hoffnungen symbolisierte.
Szenenwechsel.
Mein Autor ist geschickt in solchen Dingen. Die Leser akzeptieren, dass der Handlungsstrang unterbrochen wird, um einem neuen Gedankengang zu folgen. Ich war wieder in meiner Wohnung, der Bus fuhr ohne mich weiter.
Sehr oft kann ich die Überlegungen meines Autors erkennen. Ich glaube, er ahnt nicht, dass ich Bescheid weiß. Er flucht, wenn seine Geschichte aus dem Ruder läuft, löscht ein paar Absätze und denkt, er sei unaufmerksam bei der Arbeit.
Er hat überhaupt nicht begriffen, dass ich mein eigenes Leben führen will und seine Gängelei hasse. Ich wehre mich, mache, was ich will. Aber er pfeift mich immer wieder zurück. Er hat die Macht dazu.
Außerdem hat er mich verflucht. Er hat mich erschaffen und allerlei Fähigkeiten und Charaktereigenschaften angedichtet. Ich habe zwei Doktortitel, Sportmedizin und Kardiologie.
Beneidenswert? Sie haben das nicht geschafft im Leben?
Ich auch nicht. Mein Autor schrieb es, somit hexte er mir Intelligenz an. Dabei habe ich nie eine Uni von innen gesehen.
Genau das ist der Fluch: mein Verstand. Ich begreife, wo ich hier bin.
Anfangs war ich zufrieden, denn ich hatte nicht so einen Job wie „Doktor Schneider, Notfallstation“ oder „Notarztwagen 3, Doktor Paul. Was liegt an?“. Es war kein Groschenroman.
Und dann? Mein Autor will mich umbringen. Ich weiß es, ich habe seine Gedanken gelesen. Ich will aus dem verfluchten Buch raus, bevor er mich erwischt!
Ernsthafter Arztroman, dass ich nicht lache! Gleich die zweite Patientin wollte der mir andrehen. Hals über Kopf sollte ich mich verlieben, Panik haben, dass ich sie verliere, trotzdem operieren.
Sophia sah so potthässlich aus! Ekelhaft, die Tussi hätte ich nie im Leben angefasst, geschweige denn, geküsst! Madeleine ist da von anderem Kaliber. Aber die hat mein Autor einfach links liegen lassen. Er denkt nicht mehr an sie, schreibt nicht über sie.
Soll ich etwa warten, bis meine Flamme einen Herzinfarkt bekommt und eingeliefert wird? Wenn sie siebzig ist? Verdammte Scheiße! Bin ich ein Mann oder was?
Entschuldigung, ich rege mich auf. Moment, ich hol mir einen Whisky, dann berichte ich weiter, wenn ich wieder ruhig denken kann.
So, jetzt geht es wieder.
Bei der Tussi ist es mir geglückt. Da habe ich meinen Willen durchgesetzt. Ich war so fix mit dem Skalpell, dass mein Autor mit Schreiben nicht nachkam. Ehrlich, ich hab ihn überholt. Ein kleiner Schnitt hier, noch einer da, dann floss Blut, Exitus.
Mein Autor ist Schriftsteller der harmlosen Sorte. Er schreibt nur von Herzschmerz. Von Krimis hat er keinen blassen Schimmer. Ich glaube sogar, er hält den Mord für einen medizinischen Fehlschlag.
Nun, Sie wundern sich, dass ich ein Verbrechen so einfach zugebe? Nicht doch, was wollen Sie unternehmen?
Die Polizei wird Sie für wahnsinnig halten, wenn Sie einen Protagonisten anzeigen. Falls Sie es trotzdem versuchen wollen, Stephan Gerhaus ist mein Name. Chefarzt Abteilung Kardiologie der hiesigen Uniklinik.
Sagte ich schon, dass ich verrückt werde? Jetzt greife ich Sie schon an, dabei sollen Sie mir doch helfen. Zumindest sollen Sie meinen Autor zur Rechenschaft ziehen, wenn ich es nicht schaffe. Extra aus dem Grund wollte ich doch völlig emotionslos die Fakten schildern.
Er will mich töten. Ich befürchte, mit Sophias Ableben hat mein Schreiber Blut geleckt. Was harmlos als Ärztealltag begann, wurde zum Horror. Eines Tages stand am Stadtrand eine Villa, keiner weiß, wie die dahin gekommen ist.
Besitzer ist ein Ehrenfried Menger, seines Zeichens Chirurg. Auf dunkle Mächte soll er sich eingelassen haben. Er soll an Leichen herumfummeln.
Dabei ist Fred ein angenehmer Zeitgenosse. So manches Bier habe ich mit ihm getrunken, wenn mein Autor grad nicht schrieb. Dann, wenn ich Herr meines Lebens war.
Taucht der Schreiberling auf, ändert sich alles. Unheimliche Kreaturen verlassen die Villa, überschwemmen die Stadt. Tagsüber habe ich kaum Zeit für einen Kaffee, da ich all die Opfer behandeln muss. Nachts werde ich gejagt. Dabei finde ich immer Hinweise, wie man Fred stoppen kann.
So eng meine Freundschaft mit Fred auch sein mag, zwingt mich mein Autor, ihm aufzulauern. Fred hat er gesagt, dass ich derjenige bin, der ihn zur Strecke zu bringen versucht. Mittlerweile überschattet dieser Konflikt sogar das abendliche Bier.
Ehrlich, mein Autor hat den Verlauf der Geschichte verändert. Aus dem Arztroman ist purer Schrecken geworden. Diesen Keller hier haben die Kreaturen noch nicht entdeckt, ich habe also noch ein wenig Zeit, meinen Bericht zu beenden. Wie ich ihn an die Öffentlichkeit bringe, weiß ich schon.
Auf Seite siebenundzwanzig erwähnte mein Autor ein Abflussrohr. Er schrieb nie, wohin es führt. Er schuf tatsächlich ein loses Ende, ohne das zu bemerken. Ich werde den Bericht in eine Flasche stecken und diese in den Abfluss werfen. Irgendwann wird irgendjemand ihn lesen, hoffe ich. Leider ist das Rohr zu dünn, als dass ich selbst durchkriechen könnte.
Heute Morgen wurde mir alles klar. Mein Autor denkt, eine Zombiegeschichte wäre dann erst besonders reizvoll, wenn die Zombies gewinnen. Er gibt Fred immer wieder Hinweise, wo ich mich gerade aufhalte. Ich habe begriffen, dass nicht ich der Held der Geschichte bin. Jetzt nicht mehr.
Aber die Schröders werden überleben. Sie werden erst gar nichts einpacken, werden nur vom Haus aus zum Auto rennen und ab. Sie werden aus der Stadt rauskommen, hat mein Autor sich überlegt.
Aber auch ich kann Pläne machen. Bin gar nicht erst in die Klinik heute. Es war ein harter Kampf, aber ich habe mich widersetzt. Es ist mir gelungen, zu flüchten. Seitdem verstecke ich mich. Vor meinem Autor, vor Fred und vor den Kreaturen.
Ich muss mich beeilen. Ich glaube, ich höre schon das Knurren und Winseln, das die Biester immer von sich geben, wenn sie jagen. Der Wagen der Familie Schröder müsste jetzt schon vor dem Haus stehen, wenn mein Autor sich an den neuen Handlungsablauf hält.
Ich mache mich jetzt auf den Weg. Einen halben Kilometer die Straße runter zum Abflussrohr, um den Bericht einzuwerfen, dann zum Auto. Ich verstecke mich im Kofferraum.
Dann taucht ein Steve Griffin in Australien auf. Dort fährt er, fahre ich einen blauen Truck. Zwei Anhänger mindestens. Oder ich finde einen anderen Roman. Vielleicht werde ich Piratenkapitän, Spion, egal. Alles, nur nicht Mediziner.
Hoffentlich schreibt mein Autor heute nichts über den OP, in dem er mich vermutet, er würde mein Fehlen bemerken, nach mir suchen, Fred informieren …
Bitte, wünschen Sie mir Glück.