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Fleisch und Traum
Prolog:
Ich schlief schlecht in den seltsamen, einsamen Tagen, während denen ich am Sinn des Lebens zu zweifeln begann. Die ernüchternden Ereignisse des Lebens liessen mich nicht mehr an meinen Träumen und Hoffnungen glauben, doch vergessen konnte ich sie natürlich auch nicht, auch wenn ich es gern getan hätte. Gerade in meinem Schlaf waren sie immer da, doch keine schönen Traumbilder, die man schmerzhaft vermisst, wenn man mit Enttäuschung feststellt, dass man nur geträumt hatte, sondern verdrehte, kranke Karikaturen ihrer einstigen Gestalt. Ob sie im Grunde schon immer dies gewesen waren und ich nur ihre Verlogenheit und Maskierung aufgedeckt hatte, oder ob sie erst durch meine Zweifel verstümmelt worden waren, könnte ich nicht sagen.
Doch ich weiss, dass sie mich jede Nacht durch meine Träume jagten. Sie rissen mich selten aus meinem Schlaf heraus, was eine Erlösung gewesen wäre, sondern fesselten mich an die Albträume und Schrecken, die aus ihnen geworden waren, bis ich irgendwann vollkommen orientierungslos erwachte, nicht wissend, was oben und was unten, was Wachen und was Traum war. Jedesmal würde ich zittern, der Angstschweiss würde mir in den Augen brennen, und meine Kleidung würde feucht und beengend an meinem Körper kleben, so dass sie von meiner Haut fast nicht mehr zu unterscheiden war. Vielleicht können Albträume ja tatsächlich heilsam sein und einen irgendwelche tiefen Ängste zu verarbeiten helfen...
Doch meine Albträume waren ganz sicher nicht von der Art, nach deren Ende man erleichtert aufatmet in der Erkenntnis, nur geträumt zu haben. Das Ende des Schlafes war nicht das Ende der Angst, und nach jedem Erwachen hatte ich das unerklärliche, doch unmissverständliche Gefühl, etwas von meinen kranken Traumbildern in diese Welt mitgebracht zu haben. Jedes Mal ein kleines, hässliches Souvenir, einen Fetzen faulenden Fleisches meiner sterbenden Hoffnungen mehr. Und irgendwo mussten sich diese Fetzen und Brocken ansammeln, an irgendeinem dunklen, verborgenen Ort, langsam verwesend, verfallend zu einem form- und substanzlosen Brei, der keine und jede Gestalt hatte - welches von Beiden mir gerade mehr Furcht einflösste. Und mehr als einmal glaubte ich, diesen Verwesungsgestank riechen zu können; mit allen fünf Sinnen. Allgegenwärtig, als würde er mich umgeben und durchfliessen, als ertränke ich in einem Meer aus dieser form- und substanzlosen Masse, sterbende Hoffnung durch Mund und Nase dringend, meine Lungen füllend. Manchmal fühlte ich mich, als müsste ich keuchend nach Luft ringen. Ich wusste, ich war krank. Und es wurde immer schlimmer.
Teil 1: Geburt
I
Ich stand in einem kleinen Raum, den ich nicht kannte, und starrte auf die leere, weisse Wand vor mir. Da war ein Fenster, doch es war zu schmutzig, oder draussen war es zu dunkel, um etwas jenseits des Glases erkennen zu können. Ich fürchtete mich, doch ich kannte den Ursprung meiner Angst nicht. Plötzlich hörte ich ein Keuchen und Wimmern ganz in meiner Nähe. Meine Mutter lag da, auf dem Rücken, die Beine angezogen, so dass ihre Füsse den Boden berührten. Ich wusste, dass es meine Mutter war, obwohl eine Decke über ihren gesamten Oberkörper gelegt worden war, wie ein Leichentuch, wohl um ihre Blösse zu bedecken, denn darunter hatte sie wohl keine Kleidung an. Doch weshalb auch ihr Kopf unter der Decke verborgen lag, war mir nicht klar. Immer wieder stiess sie ein krampfhaftes Keuchen aus und weinte leise. Ihr Bauch war angeschwollen, sie war schwanger. Und das Kind war unterwegs, hatte die Reise in eine neue Welt angetreten. So stand ich da, furchtsam und verunsichert, meine gebärende, weinende Mutter anstarrend, wissend, dass dies nicht sein konnte, denn meine Mutter war vor einem Tag noch nicht schwanger gewesen, und die Geburt meiner Schwester konnte es ebenfalls nicht sein, denn erstens lag dieses Ereignis lange Jahre zurück, und damals war ich zu jung gewesen, etwas von der Geburt mitzubekommen, und zweitens war ich ja sicherlich nicht im Spital gewesen, als es geschah, also konnte dies unmöglich eine Erinnerung sein. Der seltsame Gedanke kam mir, es könne meine eigene Geburt sein, doch das verwarf ich schnell wieder. Niemand konnte seine eigene Geburt beobachten. Doch was wäre, wenn ich in diesem Augenblick nicht derjenige war, den ich sonst zu sein pflegte? Konnte es so sein, dass ich die Geburt meines alten Ichs beobachtete?
Bald erschien das Köpfchen des Kindes, und eine zweite weinende Stimme gesellte sich zur ersten. Und da, als ich dieses zweistimmige Weinen hörte, erkannte ich, dass ich nicht Angst hatte, weil meine Mutter bei der Geburt hätte sterben können. Auch hatte sie ihren Ursprung nicht in der Sorge um das Neugeborene. Etwas war nicht, wie es sein sollte. Das Weinen der Mutter klang etwas schief in meinen Ohren, besonders nun, da ich das Wimmern ihres Kindes hörte. Nicht mehr, nur ein seltsames Gefühl, dass etwas nicht richtig war. Die Furcht war umso schlimmer, als ich nicht wusste, wovor genau ich mich denn zu fürchten hatte.
Dann, plötzlich, öffnete sich das Fenster lautlos, vom Wind aufgerissen, und er wehte durch das Zimmer und zerrte das Leichentuch vom Gesicht meiner Mutter. Sie weinte nicht. Sie kicherte. Als ich ihr ins Gesicht sah, wäre ich gerne geflohen, doch das Grauen war eisig kalt und liess mich an den Boden gefrieren. Ihre Miene war von einem wilden Grinsen verzerrt, das breiter als ihr Gesicht zu sein schien. Sie bat mich um ein Messer, und im Glauben, sie wolle die Nabelschnur durchtrennen, reichte ich es ihr mit zitternden Händen. Zu schnell für meine Augen stach sie den kalten Stahl in das Neugeborene und zerteilte es mit hastigen, doch geschickten und kräftigen Schnitten. Das Weinen des Kindes erstarb, das Kichern der Mutter hielt an. Zum ersten Mal sah mich meine Mutter nun an, das schreckliche, irre Grinsen im Gesicht, und erklärte, sie habe einen leeren Bauch. Mit gierigen Fingern griff sie nach den blutigen Stückchen und schob sie sich in den breiten, grinsenden Mund und verschluckte sie ohne zu kauen. Am Fenster sah ich nun das leere Gesicht meines Vaters. Oder war es mein eigenes Gesicht, das sich im Glas spiegelte?
Verwirrt sah ich mich um, doch in der vollkommenen Schwärze sah ich nur seltsame, wirre Bilder, die ich wohl geträumt hatte: einige hässliche Souvenire mehr. Ich lag in meinem Bett, meine Augen brannten, und meine Kleider klebten dicht an meiner Haut. Wie immer, wenn ich aus einem Albtraum erwachte, waren alle meine Sinne hellwach - wenn es mein Verstand auch nicht war. Ich starrte und horchte in die Nacht hinein. Natürlich sah ich nichts, nichts als Schwärze, doch wo ich sonst nicht mehr als mein eigenes, schweres Atmen hörte, war da nun etwas anderes: das Weinen eines kleinen Kindes. Regungslos, doch von Kopf bis Fuss jeden Muskel angespannt und mit rasendem Herzen, lag ich da und versuchte mir einzureden, dass dieses Geräusch nichts weiter als ein Nachhall aus meinem Albtraum war, oder dass ich vielleicht sogar noch schlief. Ich wollte nicht aufstehen und aus meinem Zimmer fliehen, denn durch diese Flucht hätte ich mir meine eigene Angst bewiesen und sie so nur noch weiter verstärkt. Also tat ich, als hörte ich das sanfte Weinen nicht, schloss wieder die Augen, und stellte mich schlafend, und das so lange, bis sogar ich selbst es zu glauben begann und tatsächlich wieder einschlief.
II
Meine Mutter grinste mich mit blutverschmierten Zähnen und Lippen an, während ihr Bauch anschwoll. Ein gedämpftes Weinen drang daraus hervor.
Als ich diese Nacht zum zweiten Mal erwachte, war es bereits Zeit aufzustehen. Ich blieb liegen, ein leeres, dumpfes Gefühl in mir. Ich stellte mir vor, wie ich nun aufstehen und zur Schule gehen würde, doch ich tat es nicht. Nicht, dass ich die Schule besonders gehasst hätte. Doch war jedwede Motivation in mir verschwunden. Ich blieb nicht deswegen liegen, weil ich nicht in die Schule wollte, sondern weil ich nichts wollte. Ein weiterer Eintrag im Absenzenheft: Krankheit.
Und es war doch noch nicht einmal gelogen. Es war eine Krankheit, die schlimmste überhaupt. Eine, die nicht mit Pillen und Tabletten zu bekämpfen war. Es war nicht so, dass Absenzen im letzten Jahr des Gymnasiums von den Lehrern besonders streng verfolgt worden wären. Mit 18 Jahren sollte man genügend Eigenverantwortung besitzen, um erkennen zu können, was angemessen war, meinten die Lehrer. Ja, ich hatte Eigenverantwortung. Ich war krank und brauchte Ruhe und Erholung.
Dennoch, und obwohl ich im Bett liegen blieb, und ausserdem noch müde war, zwang ich mich, wach zu bleiben. Ich hatte Angst, wieder zu träumen, was ich zweifellos getan hätte, wäre ich eingeschlafen. So lag ich da, weder glücklich noch traurig, einfach leer und motivationslos, mit einem unangenehmen Gefühl der Unruhe, das mir beim Wachbleiben gute Dienste tat. Beim Gedanken an meine Träume in dieser Nacht, und besonders an das schauderliche Weinen, das ich zu hören glaubte, schienen meine Adern Eiswasser durch meinen Körper fliessen zu lassen. Die Unruhe wuchs, ich konnte meine Gedanken nicht von dieser unangenehmen Erinnerung losreissen, als wäre ich in ein Erdloch getreten, aus dem ich meinen Fuss nicht befreien konnte. Es wurde so schlimm, dass ich das Weinen wieder zu hören glaubte, gedämpft und leise, so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob es meiner Erinnerung oder dem Augenblick entstammte. Trotz, oder gerade wegen der Furcht, fiel es mir schwer, aus dem Bett aufzustehen, doch es gelang mir nach einiger Zeit. Mit unsicheren Schritten schlurfte ich zu den Vorhängen und öffnete sie weit. Das Licht blendete mich schmerzhaft, doch ich schloss sie nicht wieder. Es gab eine Möglichkeit, die meiner Motivationslosigkeit gerecht wurde und die mir dennoch helfen würde, mich von den nächtlichen Schrecken abzulenken. Ich setzte mich hin, schaltete den Fernseher ein, und mein Hirn ab.
III
Erst am späten Nachmittag trieb der Hunger mich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter und schliesslich in die Küche. Ja, ich war hungrig, doch die Lust, etwas zu essen, fehlte mir trotzdem völlig. Ich betrat die Küche. Meine Mutter war anscheinend gerade heimgekommen. Sie sass am Küchentisch mit einem kleinen Teller und einem Glas Wasser vor sich. Müde lächelte sie mich an. Sie lächelte, grinste nicht. Dennoch fühlte ich mich ein wenig unbehaglich, musste immer wieder an diesen Traum denken. Ich setzte mich zu ihr, ass etwas, das mich möglichst lange satt halten würde, ohne Rücksicht auf den Geschmack. Doch der nicht gerade aussergewöhnliche Anblick meiner Mutter, wie sie ein Brot mit ihrem Buttermesser zerteilte, machte mich derart unruhig, dass ich nicht länger an die Nahrungsaufnahme denken konnte. Stattdessen sass ich einfach da, versuchte meine Mutter nicht direkt anzusehen. Ob ich krank sei, fragte sie mich, und meine Antwort war von derart überzeugender, krankheits-typischer Trägheit und Motivationslosigkeit, dass sie keine Zweifel äusserte.
"Haben wir irgendwelche Babys in der Nachbarschaft?", fragte ich irgendwann plötzlich. Meine Mutter sah mich verwundert an.
"Nein, ich glaube nicht. Wieso fragst du?"
"Muss aber so sein...", sagte ich, etwas trotzig. Mein Herz schlug etwas schneller als zuvor. "Heute Nacht hat mich das Weinen eines Babys aufgeweckt." Das war so nicht ganz richtig, doch ich hatte ganz bestimmt keine Lust, meiner Mutter diesen Traum zu schildern, einerseits, weil sie darin eine schaurige Hauptrolle gespielt hatte, andererseits, weil ich mich möglichst nicht wieder daran erinnern wollte. Ich stand auf und verliess die Küche, ging zurück nach oben, fernsehen.
Ich verliess mein Zimmer nicht, als meine Mutter, und einige Minuten später auch mein verärgerter Vater, zum Abendessen rief. Bald gaben sie es auf und liessen mich sein. Ich verspürte nicht den geringsten Hunger, schliesslich hatte ich auch nicht gerad eine schwere körperliche Leistung erbracht an diesem Tag. Ich lag und sass in meinem Zimmer herum, schlug irgendwie die Zeit tot bis der Abend gekommen war, den ich gleichermassen fürchtete wie herbeisehnte. Er würde meiner schrecklichen Langweile ein Ende bereiten, doch als teuren Preis dafür würde er mir Albträume auf einem schwarzen Tablett servieren, die mich bis weit in den nächsten Tag verfolgen würden, wie jede Nacht. Ich fragte mich, ob es vielleicht gerade dies war, das mich aller Lebenslust beraubte, doch das war eine schwere Frage, die meine Gedanken im Kreis wirbeln liess und mir Kopfschmerzen bereitete. Also dachte ich nicht weiter nach und versuchte einzuschlafen, in der Hoffnung, mich am nächsten Morgen nicht mehr an die Träume erinnern zu können, die mich sicherlich heimsuchen würden.
IV
Ich sass am Küchentisch, mir gegenüber war meine Schwester. Wir assen nicht, der Tisch war vollkommen leer. Wir sprachen nicht, es war Totenstill. Wir sahen uns nicht an, sondern durch uns hindurch, mit leerem Starren. Es war dämmerig, die Sonne schien gerade unterzugehen, und keine Lampe, keine Kerze brannte im Haus. Die Gesichtszüge meiner Schwester verschwammen im Dämmerlicht, verformten sich, setzten sich neu zusammen, immer wieder. Plötzlich war ich mir nicht länger sicher, dass dies meine Schwester war, dieses Wesen, dass seine Züge derart verändern konnte, als wären sie aus heissem Wachs.
Ich fragte sie, wer sie sei, doch ich hörte meine eigene Stimme nicht, und sie gab keine Antwort, weder sprachlich noch durch irgendwelche Gesten. Sie blieb vollkommen starr, nur ihre Miene änderte sich fortlaufend. Ich fragte mich, ob sie nicht bloss auf die gegenüberliegende Wand aufgemalt war, mit nassen Farben, die ineinander laufen und langsam und träge die Wand hinabfliessen, so dass es wirkte, als wären ihre Gesichtszüge unstetig. Ein Geräusch lenkte mich von meinen Gedanken ab. Ich benötigte einen Moment, um herauszufinden, woher es kam. Ein Kichern und Lachen. Unter dem Tisch.
Erschrocken zog ich meine ausgestreckten Beine zurück, meine Vorstellungskraft malte sich die wahnsinnigsten Dinge mit grellen Farben an die Innenseite meines Schädels. Ich wollte nachsehen, was da unter dem Tisch verborgen lag, doch ich fürchtete mich schrecklich. Dennoch streckte ich meinen Kopf unter die Tischplatte - und fand helles Licht, das mich blendete. Ich hatte eine andere Welt betreten, das Dämmerlicht über dem Tisch wich einem grellen, stechenden Weiss, das alle Einzelheiten erkennen liess, auch diejenigen, die ich gerne im Dunkeln hätte ruhen lassen wollen. Da lag meine Mutter, doch ich hatte mich geirrt. Sie lachte nicht, sie weinte und keuchte gequält. Ihr Gesicht war zu einer Maske des Schmerzens verzerrt, von den Augen war nur das Weisse zu sehen, die Zähne waren gefletscht wie die eines tollwütigen Hundes. Ihr Bauch bewegte sich, die Haut kräuselte sich wie die Meeresoberfläche, immer weiter blähte er sich auf, zu ungeheuren Massen, als würde etwas in ihr wachsen und wachsen. Etwas, das sich aus seiner Gefangenschaft befreien wollte.
Am Bauchnabel erschienen die ersten Risse, die sich langsam über den gesamten Bauch ausbreiteten. Blut floss in kleinen Rinnsaalen über ihren Körper und färbte ihn rot, bis endlich, mit einem hässlichen Reissen und Knacken der Bauch platzte. Obwohl sie hätte tot sein müssen, lebte meine Mutter noch, doch weinte und keuchte sie nicht länger, sondern starrte, wie ich auch, auf das Ding, das aus der dunklen Tiefe ihres Inneren hervorstieg, mit Fetzten blutiger Haut bedeckt, und mit dem feucht glitzernden Darm seiner - meiner! - Mutter, wie ein Weihnachtsbaum mit Lametta, behangen. Es war von der Grösse eines Kindes, doch nicht von solcher Gestalt. Seine Haut war zerfressen, als hätte es lange in Magensäure gelegen, und einige tiefe, blutige Schnitte überzogen seine Haut, so als wäre es wie Frankensteins Monster aus verschiedensten Fleischteilen zusammengesetzt worden. Doch das Grauenerregenste war sein Kopf. Seine Züge schienen unfertig, die Nase war kaum vorhanden, sowenig wie Lippen, das Gesicht war flach wie ein Teller, und die Augen waren wie zwei Eier, die auf diesem Teller ausgelaufen waren. Und schrecklich ausdruckslos war es, dieses Gesicht, als wären keine Muskeln da, um es zu bewegen, als wäre es tot. Meine Mutter streckte ihre Hände aus, in Richtung ihres Neugeborenen, um es zu streicheln und im Arm zu halten. Doch nun war ich mir nicht mehr sicher, ob dies wirklich meine Mutter war, denn das Licht war erloschen, und ihre Züge waren zu flüchtig und unruhig, um sie mit den Augen festhalten zu können. Und für einige Augenblicke war ich mir sicher, dass es nicht meine Mutter, sondern meine Schwester war, die da vor mir lag.
Das platte Gesicht des Neugeborenen wandte sich mir zu und starrte mich mit leeren Augen an, als die Hand meiner Mutter, oder Schwester, es zärtlich berührte. Und da, mit grösster Anstrengung, wie es schien, zwang das Kind sein Gesicht zu einer Fratze, die ein Lächeln hätte sein können. Eiskalter Schrecken durchfuhr meinen ganzen Körper, liess mich hochschnellen. Obwohl ich mir den Kopf hätte am Tisch stossen sollen, geschah nichts. Die Tischplatte war nicht mehr hier, oder besser gesagt, in gewaltiger, unerreichbarer Höhe, wie der Himmel über der Welt. Ich lief und lief und lief, während hinter mir jemand kicherte. Doch ich kam nicht voran, und das unheimliche Geräusch wurde nicht leiser.
Es dauerte ein Weilchen, bis ich begriff, dass ich erwacht war, denn dasselbe Phänomen wie in der Nacht zuvor hielt mich im Glauben, ich träume noch. Ich hörte das Kichern, das Kichern eines kleinen Kindes, das gerade ein unterhaltsames Spiel spielt. Im Augenblick, da ich erkannte, dass ich nicht länger schlief, brach ich in Angstschweiss aus, obwohl ich doch schon vollkommen durchnässt und aufgeweicht war.
Ich fühlte mich an letzte Nacht erinnert, als ich das Weinen zu hören glaubte. Wieder erstarrte ich, wieder versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass dies nicht geschah. Doch anders als beim ersten Mal gelang es mir nicht im Geringsten, auch der Versuch, es zu ignorieren, schlug fehl. Woher kam das Geräusch?, fragte ich mich. Ich versuchte es zu orten, doch mit dem gestressten, rasenden Hämmern meines Herzens im Hintergrund war dies nicht einfach. Ich hatte das Gefühl, es käme von unten. Unter dem Bett? Beinahe hätte ich nervös, oder eher hysterisch, aufgelacht. Das klassische Monster unterm Bett. Es wäre zum Lachen gewesen, wäre es nicht zum Fürchten.
Ich wagte nicht, meinen Kopf einfach so hinabzustrecken, um unters Bett zu sehen, aus Angst, irgendetwas würde mich packen und zu sich ziehen, um mich zu fressen. Und in dieser schwarzen Stunde der Nacht schämte ich mich nicht für diese Furcht, denn nun schien dies nicht Wahn, sondern nackte, wirkliche Gefahr zu sein. Ich stand in meinem Bett auf und hüpfte, um möglichst weit von der Bettkante entfernt zu landen. Halbwegs leise landete ich auf dem Teppich, legte mich mit unruhigem Herzen darauf und spähte ins Dunkel unter meinem Bett. Nichts. Nur das Hügelchen aus unzähligen Stofftieren, die ich vor Jahren dort unten versteckt hatte, weil ich mich gleichzeitig für sie schämte, doch zuviele alte Erinnerungen an sie gebunden waren. Nichts rührte sich.
Hätte das Geräusch auch vom unteren Stock kommen können, so dass ich deswegen geglaubt hatte, es habe seinen Ursprung unter meinem Bett? Hellwach, und nun sowieso unfähig, wieder einzuschlafen, öffnete ich leise die Tür neben meinem Bett, nicht ohne ein unangenehmes Gefühl zu verspüren, als ich meine nackten Füsse gleich neben den Schatten am Fussende meines Bettes sah, obwohl ich nachgesehen hatte und da nichts war.
Schleichend, und mit flachem Atem, stieg ich die Treppe hinunter, kaltes Gestein unter mir, kühle Luft um mich herum. Als ich im Wohnzimmer stand, schlug mein Herz schneller, doch ich sah nichts. Ich horchte in die Dunkelheit, doch da war nichts, abgesehen vom Ticken der alten Pendeluhr - und vom sägenden Schnarchen meines Vaters. Alles lag in vollkommener Reglosigkeit unter einem Schleier aus grauem Zwielicht, das jedes Geräusch zu verschlucken schien, als wäre es eine schlechte Photographie, auf der man keine Einzelheiten erkennen konnte.
Obwohl mir hier unwohl war, traute ich mich nicht in mein Zimmer zurück, wohl aus Angst, dass das Geräusch dort bereits auf mich warten würde. Also legte ich mich auf das Sofa und schaute noch ein einige Minuten Fernsehen, um der toten Umgebung seltsames Leben einzuhauchen. Dann schlief ich wieder ein.
Teil 2: Leben
V
Am nächsten Tag musste ich die Schule nicht schwänzen, schliesslich war Samstag. Ungefähr um 12 Uhr erwachte ich auf dem Sofa und wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war. Alles drehte und wand sich in meinem Kopf, ich fühlte mich kraft- und leblos. Ich blieb liegen und tat so, als schliefe ich, wenn Vater, Mutter, oder Schwester an mir vorbei gingen. Doch bald erinnerte ich mich wieder, weshalb ich hier und nicht in meinem Zimmer erwacht war. Der Traum. Die Geräusche.
Obwohl das Sonnenlicht blendend hell ins Wohnzimmer fiel, das Haus erfüllt war von den nervtötenden Geräuschen, die eine Familie eben verursacht, und ich nicht alleine war, jagte mir die Erinnerung einen Schauer über die Haut und liess mein Herz ein wenig schneller schlagen. Ich stand auf und ging auf mein Zimmer, um nach dem letzten Grashalm zu greifen. Doch das Fenster war fest verschlossen. Die seltsamen Laute, die ich gehört zu haben glaubte, konnten also nicht von draussen gekommen sein. Ich begann zu schwitzen. Wurde ich verrückt? Bildete ich mir Dinge ein, die andere nicht hörten?
Ratlos sah ich mich in meinem Zimmer um und fand natürlich nichts Aussergewöhnliches. Alles war, wie es immer gewesen war. Was sollte sich denn auch verändert haben? Ich verliess das Zimmer und traf auf meine Mutter, die gerade aus dem Badezimmer trat.
"Hast du mein Fenster geschlossen?", fragte ich möglichst beiläufig, doch ein wenig vorwurfsvoll. "Jetzt ist es so stickig im Zimmer!" Meine Mutter sah mich nachdenklich an.
"Nein, ich war heute noch gar nicht in deinem Zimmer.", antwortete sie dann und ging ins Schlafzimmer meiner Eltern. Da wünschte ich mir, ich hätte nicht gefragt.
Die restlichen Stunden des Nachmittags sass ich vor dem Fernseher herum, zappte rastlos und unzufrieden durch die Kanäle und Sendungen. Die anderen Mitglieder der Familie waren alle aus dem Haus, es interessierte mich nicht, wohin und weshalb. Einmal klingelte das Telefon, doch ich nahm es nicht ab. Wahrscheinlich war es einer meiner Freunde, der etwas unternehmen wollte, doch ich hatte keine Lust. Nicht, dass ich Lust gehabt hätte, fernzusehen.
Doch immerhin einer Sendung, einer Dokumentation über den Schlaf auf einem halbwegs seriösen Sender, gelang es, mein Interesse zumindest ein wenig zu wecken. Auch über Albträume wurde da gesprochen, und über den Alb, der der Legende nach auf der Brust des Schlafenden hockte und diese verursachte. Doch schlussendlich wurde nichts erzählt, das mir irgendwie hätte weiterhelfen können.
VI
Es dämmerte, die Nacht brach herein. Ich versuchte zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Schon immer hatte ich mich vor diesen Albträumen gefürchtet, doch nun wurde es endgültig zu viel. Ich ging ins Wohnzimmer und schaltete, wie so oft, den Fernseher an. Es lief ein Horrorfilm, glücklicherweise unzensiert. Ich hatte ihn bereits unzählige Male gesehen, doch das war mir gleichgültig. Die Szene, in der das Ding mit all diesem spritzenden Blut aus seinem zuckenden Körper hervorbricht, berührte mich unangenehm, doch vorallem war der Film ein Trost. Es tröstete mich, dass ich nicht der einzige auf dieser Welt mit solchen seltsamen Phantasien war.
Ich versuchte noch einen zweiten Horrorfilm zu schauen, einer, den ich nicht kannte, doch er langweilte mich. Langeweile und Müdigkeit verbündeten sich gegen mich, und so schlief ich ein, erneut auf dem Sofa.
Mein Vater weckte mich am früheren Morgen auf, seine Miene halb ungehalten, halb verschlafen. Er war wohl aufgestanden, weil seine Blase es ihm befohlen hatte.
"Was ist falsch mit deinem Bett?", fragte er mich, lallend ob seiner Schlaftrunkenheit. "Wenn dus nicht mehr brauchst, können wir es ja gleich verkaufen, nicht?"
"Sorry.", murmelte ich undeutlich. "Ist eine Ausnahme..."
Lange lag ich noch auf dem Sofa, die Stille tat mir gut, munterte mich ein wenig auf. Ich beobachtete, wie das Licht, das zwischen den Vorhängen ins unerleuchtete Haus fiel, langsam greller wurde, bis dann meine Hausgenossen ebenfalls erwachten, in die Küche schlurften wie die lebenden Toten, die ich diese Nacht im zweiten Film gesehen hatte, und Brötchen mit Butter zu bestreichen begannen. Totmüde setzte ich mich kurz zu ihnen, versuchte etwas zu essen, doch ich brachte nichts runter. Also schlürfte ich nur ein halbes Glas Orangensaft und ging dann wieder. Ich ertrug den Anblick meiner Schwester nicht länger. Ich glich ihr diesen Morgen wahrscheinlich wie an keinem anderen; sie sah aus, als könnte sie jeden Augenblick einschlafen, oder vielleicht eher ohnmächtig werden. Bestimmt war sie wieder den grössten Teil der Nacht weggewesen und hatte kaum eine Stunde geschlafen.
Ich ging auf mein Zimmer, weil ich allein sein wollte. Das gelang mir auch lange, bis das Telefon wieder klingelte. Ich blieb im Bett liegen und nahm es nicht ab, doch meine Mutter tat es.
"Geh ran! Es ist für dich!", rief sie, und ich gehorchte widerwillig, legte den Clive Barker-Roman The Hellbound Heart zur Seite und nahm den Hörer ab.
"Hey!", begann der Freund. "Wie geht's dir? Lange nichts mehr von dir gehört!"
"Gut, gut!", antwortete ich, bemüht, möglichst fröhlich und locker zu klingen. Und ich glaube, es gelang mir auch. Schliesslich fühlte ich mich wirklich ein wenig besser, wenn ich mit einem guten Freund sprach. "Und dir?"
"Alles super! Wo warst du eigentlich am Freitag, und was hast du gestern alles angestellt? Hast du heute Zeit für was?"
"Ich war - bin - krank.", sagte ich, und hustete gleich demonstrativ. "Heute geht nichts." Sicher, das Gespräch munterte mich ein wenig auf, doch etwas zu unternehmen war dann doch zu viel. Ich hatte keine Lust. Zu anstrengend.
"Ach so... So schlimm? Heute gar keine Zeit?"
"Sorry, wirklich nicht. Ich hoffe, ich kann morgen in die Schule kommen..."
"Tauschen wir doch! Ich wäre nächste Woche gerne krank! Drei Prüfungen, ach, scheisst mich das an!"
"Lieber drei Prüfungen als so eine verdammte Krankheit, kannst du mir glauben..."
"Phu, klingt ja hart... Naja, gute Besserung! Bis morgen, vielleicht..."
"Ciao.", sagte ich, und legte den Hörer auf, bevor es sich mein Gesprächspartner anders überlegen konnte und womöglich weiterspechen würde. Ich legte mich hin und las weiter, bis der Abend graute und mich der Schlaf irgendwann bezwang und mich auf mein Buch niedersinken liess.
VII
Ich lag in meinem Bett, auf dem Rücken, starrte zur Decke. Ich wusste nicht, weshalb ich nicht schlief, doch ich unternahm nichts dagegen. Ich lag einfach da, Löcher in die dunkle Luft starrend, die Decke eng um mich geschlungen, den Kopf tief ins Kopfkissen versenkt.
Dann geschah etwas Seltsames. Ebendiese Decke, und dann das Kissen, begannen sich sanft zu bewegen, zitterten und raschelten leise. Plötzlich fiel mir auf, dass diese Nacht die Decke sonderbar schwer, und das Kissen seltsam hart und unbequem war. Mir wurde etwas unheimlich, doch ich wagte nicht aufzustehen. Da fühlte ich Finger, die mich durch den Stoff hindurch berührten, Finger, wo eigentlich Gänsefedern hätten sein sollen. Unzählige Finger, tausende Finger, überall, in der Decke und in dem Kissen, die meinen gesamten Körper abtasteten. Die Matratze wölbte sich unter mir, als würde sich jemand von unten mit den Füssen dagegenstemmen, während ich durch den Kissenbezug hindurch feuchten Atem und flüsternde Lippen an meinem Nacken spürte. Ich schrie, doch kein Ton war zu hören, kopflos warf ich mich aus dem Bett auf den harten, kalten Boden meines Zimmers, wo mein Vater meine Mutter verschlang. Er hatte seinen Kiefer ausgerenkt wie eine Schlange, ihr gesamtes Bein im Mund, das sich Stückchen für Stückchen weiter in seinen Rachen bewegte, bis nur noch ihr Arm aus seinem Schlund ragte.
Nicht lange, da war er fertig, doch sein Hunger hielt an. Er schlug seinen ausgerenkten Kiefer in die eigene Stirn und begann, seinen Kopf zu fressen.
Ich lag in meinem Bett, schweissnass und schwer atmend - nicht auf dem Fussboden, zu meiner Erleichterung. Ich hörte keine Geräusche, doch der Traum hatte noch immer Macht über mich Mit Hast und zitternden Händen warf ich Decke und Kissen vom Bett und, als ich mich der gewölbten Matratze erinnerte, mich selbst ebenfalls auf den Fussboden, wobei ich jedoch, anders als im Traum, auf den Füssen landete. Doch in jenem Augenblick berührte nicht nur der kühle Boden meine Füsse. Etwas, das noch kälter und härter als der steinerne Boden war, streifte sanft, fast zärtlich, meinen rechten Fuss. Aller Zärtlichkeit zum Trotz kreischte ich hysterisch auf, warf mich nach vorne, strauchelte, und schlug auf dem Teppich auf. Mit einem Herzen, das hämmerte wie ein Death Metal-Riff drehte ich mich mit weit aufgerissenen Augen auf den Rücken und starrte unter mein Bett. Ein Arm, mit ausgestreckten, weit gespreizten dünnen Fingern, die zitterten wie Äste im Windhauch. Er ragte aus dem Haufen aus Kinderspielzeug unter meinem Bett, wo ich nun das hässlichste Stofftier erspähte, das ich jemals gesehen hatte, eine missgestaltete Eule mit grossen, leeren Augen wie ausgelaufene Eier und einem plattgedrückten Schnabel mit zwei grossen, unförmigen Nasenlöchern, während sie in ihrer Mitte von einem tiefen Schnitt fast in zwei Hälften geteilt wurde. Erst als sich das Ding bewegte, dieser Schnitt sich öffnete und zwei Reihen grauer, unregelmässiger Zähne erscheinen liess, erkannte ich, dass dies kein Stofftier, sondern ein Gesicht war. Ein Gesicht, das ich bereits einmal gesehen hatte. Ein Gesicht, das ich aus meinen Träumen mitgebracht hatte. Für einen Augenblick überstieg meine Verwirrung selbst noch mein Grauen und liess mich ungläubig und mit offenem Mund auf das Ding unter meinem Bett starren. Das Wesen öffnete seinen Mund, wie um zu sprechen, doch in jenem Augenblick hörte ich, wie jemand draussen auf dem Gang das Licht einschaltete. Ich vernahm Schritte, und jemand öffnete die Tür auf so eine Art, dass man erkannte, dass dieser jemand aufgebracht war.
Meine Mutter stand im Türrahmen, blendendes Licht fiel ins Zimmer, ihr verstörter Blick auf mich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie das Ding unterm Bett seinen Arm zurückzog und unter den Stofftieren verschwinden liess. Noch immer raste mein Herz so schnell, dass ich befürchtete, es würde bald seinen Dienst aufgeben.
"Hast du geschrien?", fragte meine Mutter, halb verärgert, halb besorgt. Ein wenig mehr besorgt, vielleicht.
"Ja...", antwortete ich, immer wieder unters Bett schielend, doch da rührte sich nichts mehr. "Ich hatte einen Albtraum und bin vom Bett gefallen." Ich brachte die Worte nur stammelnd hervor, doch offenbar verstand sie mich trotzdem.
"Schon wieder Albträume?! Das ist sicher die Schuld dieser verdammten, blutrünstigen Horrorfilme, die du dir andauernd anschaust! Du solltest endlich erwachsen werden und damit aufhören!" Wäre ich nicht vollkommen gelähmt vor Angst und Schrecken gewesen, wäre ich sicherlich wieder wütend geworden und hätte ihr gesagt, dass meine Albträume wohl eher ihre Schuld und diejenige meines Vaters waren, doch was hätte es genützt?
VIII
Ich schwänzte wieder die Schule. Ich weiss nicht, weshalb ich es tat, schliesslich hätte ich froh sein müssen, diesem Haus, meinem Zimmer, und insbesondere meinem Bett für längere Zeit zu entfliehen, doch das war ich nicht. Was auch immer dies unter meinem Bett war, ob Albtraum, Wahnsinn, Wirklichkeit oder alles zusammen; noch nie in meinem Leben hatte ich einen solchen Schrecken verspürt wie in jenem Augenblick, da ich dieses Gesicht unter meinem Bett sah, das mich aus meinen Träumen hierher verfolgt hatte. Doch so überwältigend mein Grauen auch war, so gross war auch die seltsame Faszination, oder Neugierde, die mich drängte, hier im Haus zu bleiben. Diese beiden scheinbar unvereinbaren Gefühle waren nicht getrennt, sondern in Wirklichkeit eins. Doch für dieses Gefühl gibt es keinen Namen.
Ich war alleine und hatte mich seit dem Morgen im Keller eingeschlossen, wo auch der Computer stand. Wie gerne hätte ich jetzt einen anderen Menschen im Haus gewusst, doch vielleicht war es besser so. Auf jeden Fall würde ich die Türe erst wieder öffnen, wenn ich nicht mehr alleine im Haus wäre. Ich erinnerte mich gut daran, wie sich das Ding unter meinem Bett zurückgezogen hatte, als meine Mutter eintrat. Es würde mir fernbleiben, so lange ich nicht alleine wäre.
Ich verbrachte lange Stunden vor dem Computer, besser gesagt im Internet, noch genauer auf den Foren irgendwelcher Spinner, die über übernatürliche Erscheinungen, Geister und Dämonen sprachen. Zuerst zögerte ich, doch dann schilderte ich mein Problem auf mehreren Seiten. Nicht lange, da bekam ich die ersten Antworten und ich musste erkennen, dass sich in einigen dieser Foren wohl vorallem gelangweilte Teenager herumtrieben, die sich hier nur zur Unterhaltung aufhielten und vor der Ernsthaftigkeit meines Berichts zurückschraken. Andere "aufgeklärtere" Okkultisten machten sich über mich lustig und sagten mir, Dämonen hätten keine körperliche Form und seien ein unsichtbarer Teil jeden menschlichen Wesens. Doch einige versuchten mir mit viel Eifer zu helfen, wollten eine genauere Beschreibung dieses Wesens, stritten sich darüber, worum es sich hätte handeln können und wie man es wohl würde beseitigen können. Jemand meinte, es könne eine Art von Vampir sein, da es anscheinend von meinen Lebenskräften zehrte und schlugen mir vor, ich solle mich mit Weihwasser besprühen und im Zimmer Knoblauch und Kruzifixe aufhängen. Einer widersprach und meinte, Knoblauch würde überhaupt nichts nützen, es sei ein Irrglaube, der entstanden sei, als im Mittelalter Dämonenjäger über Berge verwesender Leichen wandern mussten und sich vor dem Gestank mit Knoblauch schützten. Viele rieten zu einem Exorzismus, doch gerieten darüber in Streit, weil sich ein Satanist darüber beschwerte und behauptete, dass dies christlicher Irrglaube sei und die anderen fragte, was sie überhaupt als Christen in diesem Forum suchten. Diese Aussage warf Proteste auf, denn Exorzismen gäbe es auch ausserhalb des Christentums und würden häufig angewandt. Sofort gaben sie mir einige Internet-Seiten an, wo Exorzismen ausführlich beschrieben würden. Einige schlugen mir ernüchternd vor, einen Psychiater aufzusuchen.
Zwischendurch, während ich auf die Antworten wartete, besuchte ich auch noch ein Forum über Traumdeutung und schilderte einige meiner nächtlichen Visionen, doch auch nach zwei Stunden hatte sich dort niemand gemeldet. Unschlüssig sass ich vor meiner Tastatur und dachte nach. So hart es klingt, ich fand den Ratschlag, zum Psychiater zu gehen, den einleuchtensten. Doch so weit war ich noch nicht. Der Gedanke, als Irrer abgestempelt zu werden, der Monster unter seinem Bett zu sehen meint, war mir unerträglich. Die Sache mit Weihwasser, Knoblauch und Kruzifixen fand ich lächerlich, das konnte ich nicht ernst nehmen. Ja, ich hatte Dracula von Bram Stoker gelesen und kannte die Vampirregeln. Wenn diese drei Waffen tatsächlich gegen Vampire helfen würden, müssten wohl auch die anderen Regeln im Buch der Wahrheit entsprechen, und ich kann mich nicht erinnern, dieses Ding in mein Zimmer gebeten zu haben. Ausserdem schliefen Vampire in ihren Särgen, nicht in Betten, nicht unter Betten, und schon gar nicht unter meinem Bett!
Doch was war mit Exorzismen? Irgendetwas musste ich doch unternehmen, und auch wenn ich noch vor wenigen Tagen jeden herzhaft ausgelacht hätte, der einen Dämonen exorzieren wollte, so fiel mir nun einfach nichts Besseres ein. Ich dachte an den Film, in dem das besessene Mädchen auf allen Vieren, den Rücken nach unten, die Treppe hinabkrabbelte, mit ekelhaft verrenkten Gliedern. Ich erschauderte. Brauchte ich wirklich einen Exorzismus?
Während ich noch in Gedanken versunken war, hörte ich leise Schritte ausserhalb des Raumes. Ich erstarrte, mein Herz nicht. Ich wusste, niemand war hier, ausser mir. Niemand sollte hier sein, ausser mir. Flach atmend wandte ich mich um - und sah ein Auge am Schlüsselloch. Ein Auge, das ich kannte. Ich keuchte erschrocken auf und wünschte mir, ich hätte den Schlüssel im Schloss gelassen, um dem Ding den Blick zu versperren. Doch jetzt traute ich mich nicht, mich zu rühren, oder mich gar der Türe zu nähern. Das Wesen, der Dämon, was auch immer es war, versuchte nicht in den Raum zu gelangen, doch beobachtete mich noch einige Augenblicke, bis das Klingeln der Haustür erscholl. Das Auge war verschwunden, doch trotzdem wagte ich nicht, das Zimmer zu öffnen. Vielleicht lauerte das Ding draussen im Keller auf mich. Vielleicht war es eine Falle. Zum zweiten Mal läutete es, zum dritten Mal, zum vierten...
Irgendwann konnte ich meine Furcht überwinden, öffnete die Türe zum Keller, spähte nach draussen. Nichts. Mit allen Sinnen und Muskeln zum äussersten angespannt lief ich die Treppe hinauf, eilte zur Haustür, wo es noch immer ungeduldig klingelte und schloss auf. Meine Schwester stand da, schaute verärgert.
"Weshalb dauerte das so lange, verdammt nochmals?!", schimpfte sie und drängte sich an mir vorbei ins Haus.
"Sorry, war aufm Klo.", antwortete ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, doch es gelang mir wohl nicht ganz, denn sie musterte mich verwirrt für einige Sekunden, bevor sie zum Sofa schlich und sich müde seufzend darauf niederliess. Sie fragte mich etwas, doch ich hörte nicht zu, meine Gedanken waren weit weg. Ich hatte Recht gehabt. Das Ding war geflohen, als meine Mutter ins Zimmer gekommen war, und es war nun verschwunden, da meine Schwester aufgetaucht war. Dieses Ding war die Manifestation meiner Albträume, und allein für meine Augen bestimmt.
IX
Auch wenn ich es vor meinen Eltern würde rechtfertigen müssen: ich schlief diese Nacht nicht in meinem Zimmer. Nicht nur das. Da ich nun wusste, dass das Ding mein Zimmer verliess, um mich zu suchen, übernachtete ich im Keller, wo ich die Tür abschliessen konnte. Der Sessel neben dem Bücherregal war nicht gerade weich, und meine Furcht hinderte mich lange am Einschlafen, denn ich wusste, dass, wenn das Ding schon in Wirklichkeit nicht an mich herankäme, so würde es zu meinen Träumen sicherlich Zugang haben.
Ich erwachte erschöpft, unruhig und mit schlechter Laune, doch - anders als sonst - konnte ich mich nicht an irgendwelche Albträume erinnern. Jemand klopfte an die Türe. Es war meine Mutter.
"Bist du da drinnen?", fragte sie mit besorgter Stimme. "Bist du wach?"
"Ja...", antwortete ich etwas zu leise, so dass ich es wiederholen musste.
"Mach bitte die Tür auf! Was machst du denn nur hier?" Ich stand auf, stöhnte unter Rückenschmerzen, und öffnete die Tür. Meine Mutter starrte mich verständnislos an.
"Wieso schläfst du denn hier unten? Und wieso schliesst du die Tür hinter dir ab?" Innerlich nervös, äusserlich - so hoffte ich - ruhig, versuchte ich mir etwas Glaubwürdiges einfallen zu lassen.
"Ich wollte was in Ruhe lesen, ohne dass mein Schwesterchen die ganze Zeit reinplatzt und mich stört. Und dann bin ich eingeschlafen.", sagte ich so überzeugend ich konnte. "Lesen macht müde!", fügte ich etwas nervös hinzu. Sie schien es nicht ganz zu verstehen, doch sie liess das Thema beruhen.
"Wie gehts dir eigentlich?", fragte sie. "Gehst du wieder in die Schule?"
"Nein, mir gehts noch nicht gut...", antwortete ich und hielt meine Hand an die Stirn, als wollte ich nachsehen, ob ich Fieber hätte.
"Ich sollte langsam einen Arzt kommen lassen, das geht jetzt schon fast vier Tage..."
"Nein! Schon gut, es geht mir ja wieder besser. Morgen kann ich sicher wieder in die Schule..."
Ich war unruhig während des Tages, doch Angst hatte ich nicht wirklich. Es ist erstaunlich, wie Licht etwas auf eine andere Art und Weise erscheinen lässt, und so endete meine Furcht fast ganz. Nicht etwa, weil ich mir sicher gewesen wäre, dass dieses Ding bei Tag mein Zimmer nicht verlassen würde, sondern weil ich an seiner blossen Existenz zu zweifeln begann. Im Licht des Tages wurden die Erinnerungen plötzlich undeutlich und erschienen mir trügerisch, gleichgültig, wie sicher ich mir in der Nacht gewesen war. So wie ein Albtraum einen in der Nacht Todesängste durchstehen lässt, und man diesen selben Traum am Tag danach lachend seinen Freunden erzählt, weil er unter Menschen und Sonnenschein jegliche Bedrohung verloren hat.
Hatte ich tatsächlich ein Wesen unter meinem Bett gesehen? Ich hatte eine lebhafte Phantasie, und unmittelbar nach einem Albtraum war es doch nicht unmöglich, sich etwas einzubilden, ohne gleich verrückt zu sein müssen. Und das Auge am Schlüsselloch? Die Schritte im Keller? Noch um ein Vielfaches weniger überzeugend. Wie einfach war es, wenn man alleine und in Totenstille ist, irgendwelche Geräusche falsch zu deuten? Das Geräusch einer Waschmaschine, das Hämmern eines entfernten Presslufthammers, ein Klopfen an einer Tür des Nachbarnhauses? Und wenn man sich dann erst noch in einem Zustand der Angst befindet, brauchte es dann wirklich so viel, sich ein Auge vor der Türe einzubilden? Es war kaum drei Sekunden dort zu sehen gewesen, ich hatte keine Gelegenheit gehabt, genauer hinzusehen.
X
Doch mit dem Abend kam die Furcht, und ich war mir meiner Sache nicht mehr so sicher. Konnte an diesen Augenblicken, in denen ich bei meinem Leben hätte schwören können, etwas gesehen zu haben, das sich unter meinem Bett zwischen Stofftieren verborgen hielt, gezweifelt werden? War dies nicht einfach nur eine natürliche Abwehrreaktion auf ein Ereignis, welches das eigene Weltbild grundlegend zu erschüttern oder gar zu zerstören drohte, doch deshalb nicht minder real war? Konnte diese ganze Suche nach vernünftigen Argumenten gegen ein Monster unter meinem Bett das Grauen schmälern, das ich in jenem Augenblick gefühlt hatte?
Ja, sicher konnte man sich Dinge einbilden, doch was ist eine solche Einbildung gewöhnlich mehr als eine huschende Bewegung, die man im Augenwinkel gesehen zu haben glaubte, oder ein kurzes, kaum hörbares Geräusch, das sofort wieder verschwand, wenn man sich darauf konzentrieren wollte? Alles, was mehr ist als dies, kann doch nur eine Geisteskrankheit sein. Oder Realität. Wahrscheinlich war es nicht nur Selbsttäuschung, zu leugnen, was ich gesehen hatte, sondern auch eine Gefahr. Wenn es dieses Monster wirklich geben und mich verfolgen sollte, so musste ich aufpassen, oder es würde mich bald erwischen.
Ich musste wissen, ob es das Ding wirklich gab, ich musste Gewissheit haben. Doch nun, da die Nacht hereinbrach, wagte ich es nicht. Mein Herz schlug heftiger, wenn ich nur daran dachte, mein Zimmer in dieser Dunkelheit zu betreten. Morgen. Ich würde morgen ein letztes Mal in der Schule fehlen, und wenn die gesamte Familie weg war und das Sonnenlicht durch die Fenster schien, würde ich in mein Zimmer gehen, vorsichtig und leise, und herausfinden, was Wirklichkeit war, und was Lüge und Trugbild.
Ich schlief wieder im Keller bei geschlossener Türe, doch dieses Mal nahm ich einen Wecker mit (natürlich nicht derjenige aus meinem Zimmer, denn ich wagte es ja nicht zu betreten) und gab Acht, dass ich einige Zeit vor allen geweckt werden würde. Ich erwachte in aller Frühe, ohne Erinnerungen an Träume, ob gut oder schlecht. Schnell machte ich die Türe auf, ging die Treppe hinauf, schaute Fernsehen - ohne Ton, um niemanden aufzuwecken - bis ich den Wecker meiner Eltern hörte, in den oberen Stock vor die Türe ihres Schlafzimmers eilte und tat, als wäre ich gerade aus meinem Zimmer gekommen.
Nacheinander gingen sie, und als die Tür zum letzten Mal donnernd ins Schloss fiel, wurde mir ganz kalt, und mein Herz schlug sofort schneller. Stille legte sich um mich, nur gedämpft und leise drangen Motorgeräusch an mein Ohr. Es war früh, die Welt schlief noch, und ich war allein. Lange stand ich einfach da, überlegte mir, ob ich den Plan nicht doch einfach fallenlassen sollte. Doch was dann? Ich konnte mein Zimmer nicht ewig meiden und immer im Keller bei abgeschlossener Türe schlafen. Ich konnte meine Eltern nicht zum Umziehen bewegen, und selbst wenn, bezweifelte ich, dass dies etwas nützen würde. Dieses Ding würde nicht verschwinden. Es würde bei mir bleiben, weil es aus meinem Innern stammte. Falls es dieses Wesen denn überhaupt geben sollte. Und dies musste ich nun herausfinden. Es würde nichts nützen, sich jetzt davor zu drücken, so versuchte ich mir Mut zu spenden. Irgendwann würde ich es so oder so tun müssen. Also tat ich es.
Mit einem Brotmesser und einer metallenen Stange bewaffnet, die zu irgendeinem Haushaltsgegenstand gehörte, machte ich mich auf den Weg nach oben. Vor meiner Zimmertüre hielt ich inne, horchte, doch hörte nichts. Ich spähte durchs Schlüsselloch, erwartete beinahe, auf der anderen Seite ein Auge zu sehen, wie es in so vielen Horrorfilmen der Fall gewesen wäre. Doch da war nichts. Der kleine Ausschnitt, den ich von meinem Zimmer sah, hatte sich nicht verändert. Kein Blut, keine Schrecken, keine Verwüstungen. Nichts Ungewöhnliches. Langsam öffnete ich die Türe, lautlos glitt sie auf, ich schlich ins Zimmer. Noch immer kein Geräusch. Nichts rührte sich.
Nun war der Augenblick gekommen. Ich atmete tief ein, mit bebendem Atem, und versuchte das Zittern zu unterdrücken, dass meinen ganzen Körper, doch vorallem meine Hände schüttelte. Kurz bücken, mit der Stange in den Stofftieren herumstochern, und dann wäre es vorbei, sagte ich mir, während ich mit weit aufgerissenen Augen auf mein Bett starrte, als hätte ich es mit Blicken durchbohren können. Ich hielt das Messer und die Stange fester, damit sie nicht meinen schweissnassen Händen entgleiten konnten, liess mich auf meine Knie fallen und stiess die Stange wie einen Speer in das Durcheinander aus uraltem Spielzeug unter meinem Bett. Ich stiess, verwirrt durch Furcht und Unruhe, stärker zu, als ich es eigentlich wollte, doch die Stange fuhr nicht durch das Spielzeug hindurch. Ein dumpfes Geräusch. Was hatte ich getroffen? Die Wand dahinter konnte es doch nicht sein? War dies mein Atem, den ich da hörte?
Ich versuchte die Stange wieder unter meinem Bett hervorzuziehen, doch es ging nicht. Es war nicht mein Atem, den ich hörte. Etwas hielt die Stange umklammert. Ich erstarrte, konnte meinen Blick nicht von den bebenden, zitternden Stofftieren abwenden. Etwas Feuchtes berührte meine Hand, welche die Stange umklammert hielt. Langsam senkte ich meinen Kopf und sah Blut, das träge die Stange entlangfloss und von ihr heruntertropfte. Keuchend liess ich sie los und wischte meine feuchte Hand angeekelt an meinem T-Shirt ab. Zwei lange Arme traten aus den Schatten des Bettes ans helle, warme Tageslicht. Dann dieser Kopf, mit diesem flachen Gesicht, den Augen, die aussahen wie zwei ausgelaufene Eier, und einer gequälten Miene.
"Wieso hast du das getan, Vater?!", brachte es keuchend hervor. "Wieso verletzt du mich?" Schleichend kroch es aus den Schatten hervor, auf allen Vieren, liess sich vom Sonnenlicht bestrahlen, das ohne Gnade jede Einzelheit offenbarte. Eine Verletzung klaffte an seiner Brust, aus der dickflüssiges Blut hervorquoll.
Was entfachte ein solches Grauen in mir? Die Erkenntnis, dass dieses Ding real war? Dass ich im Sonnenlicht jedes Detail erkennen konnte? Dass es sprechen konnte? Dass ich es verletzt hatte? Oder dass es mich Vater genannt hatte? Ich schrie, dass es in meinen Ohren schmerzte und lief, bis ich in die nächste Wand krachte.
"Wieso fliehst du vor mir, Vater?", keuchte das Ding, das sich, träge wie das Blut, auf mich zu bewegte. Tränen verschleierten meinen Blick, wofür ich unendlich dankbar war.
"Ich bin nicht dein Vater!", heulte ich.
"Wieso hast du mich erschaffen, wenn du nicht mein Vater sein willst?", würgte es hervor und streckte eine Hand nach mir aus. Ich schrie ein zweites Mal und stach blind mit meinem Messer zu, traf etwas, hörte einen weiteren Schrei, von dem ich nicht wusste, ob er von mir oder dem Ding stammte, und floh aus dem Zimmer. Schnell drehte ich den Schlüssel im Schloss um, lief die Treppe hinab und verkroch mich im Keller. Lange wartete ich dort, von Angst geschüttelt, vollkommen verwirrt. Ich wusste nur, dass es aufhören musste. Mein Blick fiel auf das Gartenwerkzeug im Keller, und die Axt, die rein und unangetastet im Regal stand.
Teil 3: Tod
XI
Lange bevor meine Eltern oder meine Schwester zurückkamen, machte ich mich zum zweiten Mal auf den Weg zu meinem Zimmer, dieses Mal nur einen Gegenstand in den Händen: die Axt. Wieder zögerte ich vor der Tür, doch dieses Mal gab ich mir keine Mühe, sie leise zu öffnen. Im Gegenteil. Hastig und ungeschickt drehte ich den Schlüssel im Schloss herum, presste die Klinke nieder und warf die Tür mit solcher Kraft auf, dass sie heftig gegen die Wand schlug und der Verputz herabrieselte. Da war das Ding, dieses missgestaltete Monster, auf dem Teppich kauernd, die Hände gegen seine Wunde gepresst. Es sah auf, als ich hineingestürmt kam, in meine Augen, doch ich konnte seinen Blick nicht deuten. Ich hob die Axt, doch ich weiss nicht, ob ich wirklich zugeschlagen hätte, hätte das Ding nicht folgendes Wort ausgesprochen:
"Vater?" Meine Axt kam herab, fuhr zunächst durch Luft, dann durch Haut, Fleisch, Knochen. Ich hatte schlecht gezielt. Den halben Arm hatte ich ihm abgeschlagen, den er zu seiner Verteidigung ausgestreckt hatte. Wieder holte ich aus und schlug zu, doch das Ding bewegte sich und ich spaltete nur sein Becken, und nicht die Brust. Kleine Bluttröpfchen flogen durch die Luft, als ich die Axt zum dritten Mal mit Schwung hochhob und erneut niederfahren liess. Und noch einmal. Und noch einmal, noch einmal, noch einmal, bis ich den Hals traf und ihn fast ganz durchtrennte. Noch drei Schläge mehr, und der Kopf war ab, das Wesen tot. Doch seine Augen starrten mich noch immer anklagend und schmerzerfüllt an. Von Ekel und Furcht getrieben trampelte ich auf dem Gesicht herum, bis alle Züge verschwunden waren. Dann beruhigte ich mich ein wenig. Erschöpft wollte ich mich auf den Boden setzen, doch meine Hose sog sich voll mit Blut, also stand ich wieder auf.
Was wird wohl meine Mutter sagen, wenn sie das hier sieht?, fragte ich mich, etwas ängstlich.
Ich sah nur einen Weg: wieder benutzte ich die Axt, dieses Mal, um den Körper zu zerkleinern, der da vor mir lag. Dabei passte ich immer auf, dass ich den Fussboden nicht beschädigte. Ich legte die Stückchen in den blutdurchtränkten Teppich und schleppte ihn nach unten. Hastig machte ich ein Feuerchen im Ofen und warf von Zeit zu Zeit wieder ein Stückchen Fleisch aus dem Teppich in die verzehrenden Flammen. Es begann zu stinken, und ich öffnete schnell die Fenster. Nach einigen Stunden war nichts mehr übrig ausser Asche. Viel Asche. Ich leerte sie in den Abfluss, säuberte die Axt, wischte in meinem Zimmer das Blut vom Fussboden und dankte Gott, dass dieser aus Stein und nicht aus Holz war. Und schlussendlich versuchte ich den Teppich zu säubern. Ewigkeiten schrubbte ich daran herum, doch noch immer war das Blut zu sehen. Also versteckte ich ihn unter meinem Bett. Unter einem Berg von Stofftieren. Was würde ich meinen Eltern wohl antworten, wenn sie fragten, wo der Teppich abgeblieben sei?
Als meine Mutter heimkam runzelte sie die Stirn, schnupperte ein wenig und fragte verwundert, ob ich mir die Bratwürste aus dem Kühlschrank zubereitet hätte.
Epilog
Ich hatte erwartet, dass meine Albträume nun enden würden, schliesslich hatte ich doch die Manifestation, die Verfleischlichung meiner Ängste getötet. Dies glaubte ich, doch ich lag falsch. In der Nacht, die diesem grässlichen Tag folgte, kamen die schwarzen Visionen wieder, schlimmer als zuvor.
Ich erwachte in aller Frühe, eingeschüchtert, verängstigt und verstört in einem Masse, das ich bisher noch nie erlebt hatte. Doch viel schlimmer als die Angst war die vollkommene Verwirrung. Ich war mir keiner Sache mehr sicher, vollkommen orientierungslos, nicht wissend, was oben und was unten, was Wachen und was Traum, was Leben und was Tod war; nicht nur gleich nach dem Erwachen, sondern alle Tage hindurch. Nach dieser Nacht erinnerte ich mich häufig dieses Traumes, in dem ich das Ding zum ersten Mal gesehen hatte, und es mich kichernd verfolgte. Und immer wieder fragte ich mich: konnte dieses Kichern nicht auch ein Weinen gewesen sein?
Ende