Fließband
I.
Heute war es wieder so weit, heute war einer dieser Tage, an denen er schon im Moment des Augenaufschlagens merkte, dass dieser Tag nichts Gutes bringen würde.
Mühsam stand er aus seinem warmen Bett auf, mühsam drehte er die Heizung auf und schleppte sich ins Bad. Beim Entkleiden vermied er es in den Spiegel zu schauen so wie er es überhaupt vermied, aufzublicken und irgendetwas anzuschauen – das helle Licht tat ihm noch in den Augen weh. Er duschte heiß und ausgiebig, ergötzte sich an der Wärme und feuchten Atmosphäre im Bad.
Vorsichtig stieg er aus der Dusche, trocknete sich ab und schlich auf sein Zimmer zurück, das ihn jetzt nicht mehr so kalt empfing, wie er es verlassen hatte. Während er sich ankleidete, ging er die Stationen des heutigen Tages durch – nicht ohne das Grauen davor unterdrücken zu können, denn es war ein normaler, ein gewöhnlicher, ein sogenannter WERKTAG.
Das hieß nichts anderes, als sich zum Bus zu schleppen, hoffend, dass er wenigstens heute pünktlich käme. Hinzu kommen - davor fürchtete er sich am meisten – die Menschenmassen, denen er dabei begegnen würde. Viel schlimmer noch würde es später in der S-Bahn sein; zuerst das endlose Warten am Bahnsteig, der sich kontinuierlich mit Menschen füllen würde, die alle ihrem Arbeitsplatz, der Schule, der Universität entgegentrieben, so wie jeden Tag.
Es gab Gesichter, die er bereits von anderen Tagen kannte, die wie er am Bahnsteig auf die Bahn warteten. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er die Menschen länger anschaute, als es gesellschaftlich schicklich war, so als würde sein durchdringender Blick ihm verraten, wer diese Person sei, oder wohin sie wolle.
Insgeheim schloss er Freundschaften, erklärte sich diesen oder jenen zum Feind, ein Wink, eine kleine Bewegung, ein Blick konnte reichen, um sich ihm zum Freund oder Feind zu machen. Doch an Tagen wie diesem schaute er niemanden an, hielt den Blick gesenkt, kämpfte um keinen Sitzplatz, nahm was er bekam, notfalls auch einen Stehplatz.
Er fühlte sich fremd, ein Abstraktum inmitten einer riesigen, unüberschaubaren Meute von Menschen, die an solchen Tagen wie ferngesteuert auf ihn wirkte, ein Großes Ganzes, in dem das Individuelle der einzelnen Menschen zurückgewichen war, ersetzt durch den maschinenhaften Trieb ans Ziel zu gelangen, um was auch immer zu tun. Dieser Trieb war all-durchdringend, allgegenwärtig, materialisierte sich in den Gesichtern der Menschen, die sich auf engstem Raum zusammen- gepfercht zu ihrer Arbeit, ihrem Studium, ihrer Schule karren ließen, Schlachtvieh gleich, willenlos.
Ihr Schlachthof war die Stadt, die Schlächter waren Manager, leitende Angestellte, Professoren, Direktoren, Geschäftsmenschen aller Art, Exekutoren der großen Maschine, diejenigen, die die Fernsteuerung in Händen hielten, jeden Einzelnen an seinen Ort lenkend; ihre Gesichter zeigten nicht die leiseste Regung, nicht den Hauch von Anwesenheit in diesem Raum – so nah beieinander und doch nicht anwesend, unsichtbar, gefangen in ihrer Realität, abgesondert durch Mauern der Entfremdung. Wie absurd das alles doch war. Noch nie in der Menschheitsgeschichte hatte es größere Menschenansammlungen gegeben als in der großen, modernen Stadt, aber gleichzeitig hatte noch nie ein lauteres Schweigen, eine größere Isolation und Gleichgültigkeit geherrscht, als in der modernen, metropolitanen Stadt.
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er seinem Ziel, seiner Schlachtbank, entgegenfuhr. Dabei vergällten sie ihm die Stimmung noch viel mehr, aber an solchen Tagen war dies gewissermaßen einkalkuliert.
Nun kam die letzte Etappe – er musste zur U-Bahn. Es war die kürzeste Etappe und doch hasste er sie am meisten, brachte sie ihn doch endgültig ans Ziel, führte sie ihm doch unmissverständlich vor Augen den erbärmlichen Zustand der Massen, stand an ihrem Ende doch das Fließband, das das Schlachtvieh zu Hunderten in einem Rhythmus der Präzision und Unbarmherzigkeit aus den unterirdischen Tunneln auf die Oberfläche schaufelte! Nirgendwo sonst denn hier wurde ihm die Trostlosigkeit, die unendliche Monotonie und die absolute Ausweglosigkeit so klar, wie im Anblick des stummen Fließbands, das das willenlose, entseelte Menschenmaterial zuverlässig und präzise an die Oberfläche schaufelte, der Schlachtbank entgegen.
II.
Bei all dieser Not des Geistes fiel es ihm schwer, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren, für die er doch diesen mühsamen Weg tagtäglich auf sich nahm. An der Universität fiel es ihm schwer, dem Geschehen zu folgen, zu weit weg fühlte er sich dabei, abgelenkt von Gedanken, die immerzu an einen anderen Ort streben, drängen, insistieren, manchmal unterbrochen durch den tausendfach wiedergekäuten Brei seiner Umgebung. Auch er war darauf hereingefallen, hatte dies für eine sinnvolle und notwendige Übung gehalten; es hatte ihn gefangengenommen, beschäftigt, seinem Geist Nahrung gegeben, bis er sich selbst eingestehen musste, das auch das eine fruchtlose Beschäftigung war, ein sich-im-Kreise-drehen, Betrug!
III.
Die Zeit war um, er hatte es überstanden, er konnte sich nun erholen. Erleichtert ging er zum nächsten Fließband – Mittagessen. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, bewaffnet mit Tablett und Besteck, um eine der tausendfachen Portionen in Empfang zu nehmen. Während des Wartens hatte er Gelegenheit, sich eingehender mit dem Schlachtvieh zu beschäftigen, wie es in Gespräche mit austauschbaren Worten verstrickt war, wie es auf vorhersehbare Witze mit einem seelenlosen Lachen reagierte, wie es ängstlich darauf bedacht war, gut anzukommen.
Er kam an die Reihe. Er schob sein Tablett vor, bekam seine Portion auf den Teller geklatscht, übrigens ohne ein Lächeln der Angestellten auf den Lippen, wofür er ihr dankbar war, bezahlte, und entfernte sich in eine entfernte Ecke des Speisesaals. Während er aß betrachtete er die Werbezettel, neudeutsch „Flyer“, die auf dem Tisch lagen und verschiedene Produkte anpriesen. Unwillkürlich musste er bei der Betrachtung eines Flyers, der Sprach- und Rhetorikkurse anbot an das Schlachtvieh denken.
Nachdem es also durch Domestikation und Indoktrination, durch das Leben in der modernen Stadt jegliche Fähigkeit zu Kommunikation und freiem, unreglementiertem Gedankenaustausch eingebüßt hatte, sich daran gewöhnt hatte, nur dann etwas zu sagen, wenn es gefragt wurde, oder um irgendeinen warenförmig vermittelten Tausch zu vollziehen, lockte man es in Kurse, um die gedankenlose, dabei niemals stumme Wortlosigkeit überwinden zu lernen. Aber auch darum ging es ja nicht, man sollte ja nicht frei denken und sprechen, sondern nur das denken und sagen, was von einem verlangt wurde – es waren Kurse zur kommunikativen Selbstentmündigung des Schlachtviehs, das sich bereitwillig dafür hergab.
IV.
Angewidert stand er auf, nahm das Tablett und stellte es auf das nächste Fließband. Er beschloss, diesen Tag abzubrechen, den restlichen Unterricht in geistiger Selbstverstümmelung sausen zu lassen, nach Hause zu fahren, sich einzusperren, um dann auf den Anbruch eines Neuen Heute zu warten, das nichts substantiell Neues bringen würde, doch so hatte er wenigstens einen weiteren dieser überflüssigen Tage überstanden, an denen er schon im Moment des Augenaufschlagens merkte, dass dieser Tag nicht Gutes bringen würde.