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Flieg Vogel, flieg!
Seine Blicke hafteten knapp unter dem Minirock der jungen Frau mit dem frechen Sidecut. Ihre hochhackigen Stiefeletten und diese anmutige Haltung ließen seinen Mund offen stehen. Ihre langen, gebräunten Beine weckten seine Gier und in Gedanken wanderten seine verschmutzten Hände schon an ihrem freizügigen Dekolletee hinab - als sein Kopf Bekanntschaft mit einem Zebrastreifen-Schild machte. Den dumpfen Aufprall musste die Frau gehört haben. Fluchend und sichtlich errötet, eilte er weiter und bog in die nächste Seitenstraße ab.
„Das hast du nun wieder davon, Thomas“, hörte er sich ins Gedächtnis rufen.
„Anstatt den Mut aufzubringen und sie anzusprechen, stierst du lieber quer über die Straße und machst dich zum Gespött für alle Beteiligten.“
Ob das aus den Autos kommende Gelächter und Gegröle ihm galt, konnte er nur mutmaßen. Er wusste nicht einmal, ob jene Geräusche nicht nur seiner Einbildung entsprangen.
Nachdem er sich den Schmerz aus seinem Gesicht gerieben hatte, schlenderte Thomas durch die engen Seitengassen der Stadt und sah sich die heruntergekommenen Häuser an, die die Wege säumten. In den schmutzigen Verglasungen konnte er sein Spiegelbild nur als sonderbare Silhouette erahnen. Abgase und Dreck hafteten an ihnen, so schwarz und bösartig wie der Teer in seiner Lunge. Seit er sich erinnern konnte, hatte sich hier nichts verändert. Die unebenen Pflastersteine lagen schon zu Grundschulzeiten als Stolperfallen im Boden vergraben. Der von Kratzdistel bewachsene Kaugummiautomat war vermutlich etliche Jahre nicht mehr benutzt worden und selbst das fensterlose Haus, in das er und seine Kumpels als Jugendliche immer eingestiegen sind, reihte sich gestützt an die anderen Häuser.
Er schmunzelte bei den Gedanken an die vielen Saufexzesse, die in diesem Gebilde stattfanden. Die alten, vergammelten Matratzen und der verwinkelte Keller, die maroden Innenwände und die Horden von Spinnen. Damals, als seine erste Freundin halbnackt und schreiend aus dem Haus rannte, aus Angst sie könnte von einem dieser langbeinigen Krabbeltierchen berührt werden. Als er sich dabei ertappte, wie er von außen in jenes Haus spähte und überlegte, einzusteigen, um zu sehen, wie es im inneren aussehen möge, zog er schlagartig seinen Kopf ein und stolperte rückwärts über die Pflastersteine. Hüpfend konnte er einem Sturz entgehen. Eine Amsel wurde aufgeschreckt und kam hinter dem Fenster herausgeschossen. Thomas´ Herz begann zu rasen. Er vernahm die kleine geflügelte Gestalt und erkannte sie als Vogel. Sein Körper aber sah darin eine Bedrohung. Thomas zitterte grob und seine Hände schwitzten schlagartig. Sein Körper glühte und fror zugleich und obwohl die Amsel längst sein Sichtfeld verlassen hatte, stand er paralysiert da und begann zu hyperventilieren. Plötzlich fühlte er, wie die Luft aus seinem Brustkorb gepresst wurde und der Boden unter seinen Füßen nachgab. Plötzlich wurde es dunkel, die Sonne verschwand und Thomas nahm nur noch verschwommen Bruchstücke seiner Umgebung wahr. Todesangst übermannte seinen zuckenden Körper und er kauerte sich auf dem Boden zusammen.
Es war spät abends, als Tamara und Eduard mit dunklen Augenrändern bei Thomas im Wohnzimmer saßen. Eduard hatte seinen Joint eben fertig gedreht, als ihm Tamara schon ein brennendes Feuerzeug unter die Nase hielt. Im Licht der Flammen sah Eduard blasser aus, als er ohnehin schon war. Manchmal fragte sich Thomas, ob sein ausgemergelter Kumpel überhaupt noch pumpendes Blut hinter seiner marmorierten Haut vorrätig hatte.
„Oh man, war das wieder ein Scheißtag heute. Bin ich froh, dass jetzt endlich der entspannte Teil kommt. Was ist mit dir? Lief´s bei dir heute auch so beschissen weil... naja, nimm´s mir nicht übel, aber du siehst heute echt abgefuckt aus“, sprach Tamara zwischen zwei Zügen ihres eigenen Joints.
„Nunja, das Übliche, nicht schlimmer als die restlichen Tage auch“, antwortete Thomas stirnreibend. „Vielleicht sollten wir mal wieder unter Leute gehen? Ihr wisst schon, mal ordentlich einen heben, Pillen schlucken und unser Gehirn rebooten. Einfach mal einen drauf machen.“
Über seinen heutigen Vorfall wollte er nicht sprechen, das schien ihm irgendwie peinlich. Falls die beiden ihn nicht auslachten, würden sie ihn jedenfalls mit anderen Augen sehen und darauf wollte er es nicht ankommen lassen.
Seit langem war Thomas nicht mehr freiwillig unter Menschen gewesen. Seine sozialen Kontakte ließ er mehr und mehr schleifen. Seine Wohnung verließ er nur, wenn er unbedingt musste. Arbeitsamttermine. Lebensmittelkäufe. Drogenbeschaffungen. An sein früheres Leben erinnerte er sich kaum. Die Erinnerungen spülte er mit Alkohol fort. Seine Mutter besuchte er höchstens zu Pflichtterminen und seine Freundin hatte ihn vor zwei Jahren verlassen. Dabei wollte er nie, dass es soweit kommt. Als Kind hatte er Vorstellungen, wie sein Leben einmal verlaufen sollte. Irgendwann hatte er seinen Pfad verlassen. Bei dem Gedanken an seinen letzten Therapeutentermin lächelte er müde und trank aus seinem Bier.
„Ich könnte vielleicht etwas organisieren“, faselte Eduard, während er mit offenen Augen auf die gegenüberliegende Wand starrte. Gedämpfte Rockmusik schallte aus uralten Musikboxen.
„Ach ja, du? Und was? Hoffentlich nicht wieder so ein Reinfall, wie damals mit den angeblichen Dealern, die sich plötzlich als Zivilbullen entpuppt haben“, bohrte Tamara nach.
„Nein, ich kenne da jemanden, dem ich voll vertraue und der uns bestimmt eine berauschende Nacht verschaffen kann“, setzte Eduard mit einem schelmischen Grinsen nach.
Ein lauter Donnerschlag versetzte Thomas einen Schrecken. Kurz darauf prasselte Regen gegen die Fenster. Die drei sahen sich sprachlos an und nickten einander zu. Eduard putschte sich mit einer kleinen Menge Koks, ehe er ein Treffen mit seinem Bekannten in einem abgelegenen Park am Stadtrand arrangierte. Tamara exte ihre Bierflasche und zementierte sich roten Lippenstift auf. Da sie keiner regulären Arbeit nachging, musste sie sich ihren Drogenkonsum zuweilen anderweitig verdienen. Früher hätte Thomas das äußerst abstoßend gefunden. Mittlerweile war er abgestumpft. Vielleicht verdrängte er lediglich diese Art negativer Gedanken. Er kannte Tamara nicht genug, um sie zu fragen, was sie dazu veranlasst hatte. Vielleicht, dachte er, war es ihm peinlicher als ihr, darüber zu reden? Er spülte seine Gedanken herunter und rauchte seinen Joint zu ende. Anschließend lief er zu einem Tisch in seiner Wohnung, öffnete eine verschnörkelte Schublade und steckte sich unauffällig eine kleine Dose in seine Jackentasche. Danach gingen die drei durch das Treppenhaus zur Eingangstüre. Der Wind pfiff durch ein offenes Fenster. Sie schlossen ihre Jacken, stellten ihre Kragen auf und schritten hinaus in den strömenden Regen.
Der Weg zur Bushaltestelle führte die Hauptstraße entlang, vorbei an verkümmerten Straßenbäumen und defekten Laternen. Spätestens nach Eduards wutentbrannten Fußtritten gaben die Lichter den Geist auf.
„Diese scheiß Lampen!“, brüllte Eduard, nach einem für ihn schmerzhaften Tritt. Wegen des strömenden Regens rutschte er bei einem Tritt ab, stieß sich sein Knie und wäre beinahe auf den Boden gefallen. Mit einem letzten Rest Wodka Wegzehrung, versuchte er, seinen Zorn wegzuspülen. Thomas beobachtete das aggressive Verhalten seines Kumpels schon seit längerer Zeit. Im jetzigen Rauschzustand konnte er seine Gedanken allerdings nicht klar fassen. Wenige Sekunden später wichen sie der Vorfreude der bevorstehenden Nacht. Es regnete immer intensiver, sodass die drei froh waren, als sie die überdachte Bushaltestation erreicht hatten.
„Nun seht euch mal diese Scheiße an, kein Stück meiner Kleidung ist trocken geblieben“, schimpfte Tamara.
„Welche Kleidung?“, lachte Eduard und zündete sich eine Zigarette an.
Sie würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, sondern war damit beschäftigt, sich mithilfe der spiegelnden Glaswände der Bushaltestelle, ihren Lippenstift noch wuchtiger aufzutragen. Kurz darauf zog sie ihre Bluse zurecht und Thomas bemerkte Eduards gierige Blicke. Das war einer dieser Momente, die er nicht richtig einzuschätzen wusste. Er mochte seinen Kumpel. Auch Tamara mochte er. Er hatte die beiden vor wenigen Monaten kennengelernt, als sonst niemand für ihn da war. Thomas wusste das zu schätzen, aber irgendetwas in ihm zweifelte an dieser Freundschaft. Anfangs konnte er diese Gedanken ganz leicht verdrängen, doch von Zeit zu Zeit kamen sie öfter. Stärker.
Plötzlich wurde Thomas aus seinen Gedanken gerissen. Der Linienbus, der die drei zur verabredeten Stelle bringen sollte, stand an der Haltestelle und hatte seine Türen geöffnet.
„Hey, du vollgedröhntes Etwas. Hier sind wir! Kommst du mit, oder willst du weiterhin Selbstgespräche führen?“, rief ihm Tamara zu, während sie in das hintere Abteil des Busses stieg. Aus seiner Starre gerissen, stieg Thomas langsam ein. Er fragte sich, wie lange er wohl an der Haltestelle in Erinnerungen versunken dastand. Er folgte den beiden auf einen Vierersitz und griff in seine Jackentasche. Dort steckte er die kleine Dose, die er von zu Hause mitgenommen hatte, wieder unauffällig ein. Einige Sekunden vorher schluckte er eine Pille aus dieser Dose, in der Hoffnung, sie würde seinen Abend entflammen. Schließlich blickte er aus den verschmierten Busfenstern und gab sich den vulgären Texten aus Eduards Smartphone hin.
„Wie sieht die spätere Abendplanung aus?“, wollte Tamara wissen, während sie sich an ihrem BH herumzupfte.
„Es läuft ab wie immer. Wir treffen uns mit meinen Bekannten und dann erhalten wir die Ware. Das Heroin war nicht billig. Du wirst ihnen also gewohnterweise ihre Wünsche erfüllen müssen. Alles weitere werden wir dann sehen“, antwortete Eduard.
Thomas riss seine Augen weit auf. Das hatte er nicht erwartet. Er hoffte auf einen Witz, ein polterndes Lachen oder wenigstens ein müdes Lächeln. Nichts davon folgte. Die Worte kamen so trocken aus Eduards Mund, dass diese unmöglich scherzhaft gemeint sein konnten. Auch Eduards Gestik und Mimik erinnerten Thomas an das Bild eines eiskalten Geschäftsmannes, der einen seiner Mitarbeiter skrupellos verkauft, nicht aber an das eines fürsorglichen Freundes. Erst jetzt fiel Thomas auf, dass er nicht einmal den Nachnamen seiner beiden Begleiter wusste.
„Ich dachte, ich muss das nicht mehr machen! Haben wir das nicht besprochen?“, fauchte Tamara zurück.
„Tamara!“. Eduard blickte sie mit blutunterlaufenen Augen und weit aufgerissenen Pupillen an. Seine Hände krallten sich so fest in die Sitze, dass seine Adern hervorschossen. „Du machst, was ich dir sage!“
Der Bus hielt an und öffnete seine Türen. An dieser Haltestelle mussten sie aussteigen. Eduard strafte Tamara mit einem zornigen Blick, bevor er sich aus dem Sitz schwang und zur Türe schritt. Tamara wischte sich eine Träne von ihrer Wange. Langsam mit gesenktem Kopf folgte sie Eduard, spürbar darauf bedacht, nicht in Thomas´ Gesicht zu blicken.
Thomas konnte es nicht fassen. Er fragte sich, was da in jenem Augenblick passierte. War es Einbildung? Wohl kaum, er hätte die Zeichen lediglich früher erkennen müssen. Lag es am Alkohol? Und wenn schon, dieses Gespräch zeigte deutlich die ruinöse Beziehung der beiden untereinander. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, mit diesem blassen Monstrum feiern gehen zu müssen. Trotzdem. Der Bus würde nicht ewig halten und schon gar nicht aufgrund skurriler Gedankengänge eines betrunkenen Nichtsnutzes, der sich bis eben mit Fremden treffen und sich anschließend mit Heroin abschießen wollte. Er folgte den beiden ins Freie, schaute sich um und wunderte sich über die klare Nacht. Der Regen hatte aufgehört und ist angenehmer Kühle gewichen. Die Luft roch frisch und die Sterne scheinten kraftvoll von oben auf diese runtergekommene Stadt hinab, so als wollten sie ihr Leben spenden. Eine leichte Prise Wind blies Thomas kühlend ins Gesicht.
„So, da wären wir. Da hinten im Park warten unsere Gäste“. Eduard richtete seinen knorrigen Zeigefinger auf eine kleine Bank, auf der zwei Männer in dunklen Lederjacken saßen. Eine Laterne schenkte ihnen kühles Licht. Thomas war nicht wohl bei dem Gedanken, den anderen zu den Männern zu folgen. Er blickte zu Tamara und sah, wie sie sich bibbernd über ihre Augen wischte. Er brauchte kein Psychologe zu sein, um merken, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
Eduard hob die Hand zur Begrüßung und marschierte los.
„Los, kommt mit!“, befahl er den beiden. Thomas, der noch immer nicht glauben konnte, wie ihm geschieht, wollte wiedersprechen, doch Tamara zog ihn am Ärmel mit und gab ihm zu verstehen, dass er lieber still sein sollte. Er folgte dieser Aufforderung. Tamara wirkte nun wieder etwas gefasster und machte sich zurecht. Mit erhobenem Haupt lief sie auf ihren Stöckelschuhen erst zaghaft, dann stolzierend auf die Männer zu.
„Willkommen, Eduard. Wir haben uns sehr über deinen spontanen Anruf gefreut. Ich hoffe, alles läuft so ab wie immer?“, wollte der kleinere der beiden Männer wissen. Thomas schätzte ihn auf knappe 60 Jahre alt und eine tiefe Narbe zog sich von seinem Kehlkopf bis zur Unterlippe. Thomas erschrak bei diesem Anblick. Als hätte ein Schlächter das Gesicht zur Hälfte gespalten. Er stellte sich vor, wie sich jemand mit einer stählernen Klinge in die Haut des Mannes bohrte und ihn anschließend filetierte wie einen toten Fisch. Er schüttelte seinen Gedanken ab.
„Guten Abend. Natürlich. Es läuft wie immer“, erwiderte Eduard kurz. Er war ausgesprochen ruhig, bedachte man die Wutanfälle auf dem Weg zur Bushaltestelle. Thomas musterte den zweiten Mann auf der Bank. Er war um die 50 Jahre alt und trug einen Zylinderhut. Thomas fragte sich, was es mit dieser albernen Kleidung auf sich hatte und was damit bezweckt werden sollte. Und dennoch, irgendetwas schien sonderbar. Thomas konnte sich nicht erklären, was es war, aber dieser Mann besaß eine fürchterliche Ausstrahlung.
„Dann kommen wir direkt zum Geschäfltlichen“, sagte das Narbengesicht. „Wir haben was du willst, aber erst erfüllst du deine vertraglichen Verpflichtungen“. Während dieses Ekel diesen Satz aussprach, schielte er bereits auf Tamara und musterte sie von oben bis unten. Kurz darauf leckte er sich über die Lippen. Thomas kochte innerlich. Seine Hände fingen an zu zittern.
Der andere Mann blickte auf Tamara hinab und zündete sich eine Zigarette an. Er blies weißen Rauch in die Luft und sah dann zu Eduard.
„Sie kommt mit uns in unseren Van. Wenn wir fertig sind, erhältst du, was du willst“.
„Fick dich, Bastard“, schrie Tamara. Noch ehe Eduard etwas sagen konnte, schleuderte sie ihre Handtasche in das Gesicht des Mannes. Sofort schlug die Faust des Narbengesichts auf sie ein. Eduard versuchte zu schlichten, erntete jedoch sofort ebenfalls einen Schlag des zweiten Mannes.
„Aufhören!“, brüllte Thomas so laut aus seiner Kehle, wie es ihm möglich war. Die Situation geriet völlig außer Kontrolle. Tamara lag blutüberströmt am Boden, während das Narbengesicht sie stiefelte.
„Lasst eure scheiß Pfoten von ihr!“, kreischte Thomas. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Was passierte hier? Wieso war er mit den beiden mitgegangen? Wie konnte er die Situation noch beruhigen? Seine Gedanken überschlugen sich. Plötzlich sah er nur noch einen Ausweg aus dieser Misere. Er preschte auf das Narbengesicht zu und schubste ihn von Tamara runter. Anschließend bückte er sich und half ihr wieder hoch. Sie war noch nicht aufgestanden, da sprang der Kerl zurück und trat nach Thomas. Durch die Wucht des Trittes flog Thomas ebenfalls auf den Boden. Der Mann trat sofort weiter auf ihn ein und Thomas legte schützend seine Hände über sein Gesicht. Er fühlte jeden einzelnen Tritt. Jede Sekunde wurde zu einer Ewigkeit und er glaubte zu hören, wie einer seiner Knochen knackste. Er hatte kaum genügend Zeit, zwischen den Einschlägen zu atmen.
Plötzlich stoppten die Schläge und Tritte. Ohne ersichtlichen Grund ließen die beiden Männer von Thomas und seinen Begleitern ab. Sie schienen vor irgendetwas Angst zu haben, denn sie rannten völlig panisch davon. Thomas, der nahezu ohnmächtig war, hörte ferne Schreie und ein auf abscheuliche Weise verzerrtes Krähen. Schemenhaft blickte er auf gigantische Schatten, die über sie alle herabzustürzen schienen. Beim Anblick von etwas, das nicht existieren durfte, verlor er sein Bewusstsein.
Erneuter Regen plätscherte auf Thomas´ Gesicht. Er tastete seinen Körper ab. Bis auf Prellungen, mehrere Schürfwunden und eine aufgeplatzte Lippe bliebt er verschont. Er drehte sich auf den Bauch und stützte sich schnaufend nach oben. Danach taumelte er zu Tamara, die regungslos ab Boden lag. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf ihren aufgerissenen Körper. Thomas hatte nicht bemerkt, dass einer der Männer ein Messer bei sich hatte.
„Thomas, hilf mir hoch. Ich kann nicht alleine aufstehen“, keuchte Tamara.
Erleichtert eilte er heran und zog sie behutsam nach oben. Die Wunden schienen nicht allzu tief zu sein. Sie zitterte am ganzen Leib.
„Schnell, wir müssen hier weg! Wir müssen dringend weg von hier!“, flehte sie Thomas an.
Als sie zu Eduard eilen wollten, blieben sie abrupt stehen. Eduards Körper war nicht so, wie er sein sollte. Es dauerte einige Sekunden, bis Thomas verarbeiten konnte, was er da sah. Eduards Körper war nicht mehr in einem Stück. Er war komplett zerfetzt. Gedärme hingen heraus und eine Blutlache zerfloss unter seinen Körperstücken.
Neben ihm lag der Hut des Mannes, der auf Eduard eingeschlagen hatte.
Ein derartiges Bild hatte er in seinem ganzen Leben nicht gesehen. Keine Fernsehaufnahme kam auch nur ansatzweise an die Brutalität hin, die sich ihm hier präsentierte. Der metallische Gestank von Blut war immens. Alles war verschmiert. Doch da war noch etwas anderes, etwas Sonderbares. Das war kein menschlicher Geruch, irgendetwas beißendes lag in der Luft. Raubtiergeruch.
„Thomas! Weg hier!“, schrie Tamara mit all ihrer Kraft. Ihre blutige Hand streckte sie in Richtung Himmel. Thomas folgte der Richtung, konnte jedoch nicht glauben, was er sah. Er wollte rennen, doch seine Beine bewegten sich nicht. Seine Atmung stockte. Thomas´ innersten Ängste stiegen empor und drängten in seine Realität. Dieses Etwas, das hoch über ihm kreiste und seine riesigen Flügel spannte, durfte es nicht geben. Es war ein gigantisches Wesen in bizarrer Vogelgestalt. Es kreischte auf unnatürliche Weise, während es seinen Kopf gen Boden neigte und Thomas mit festem Blick fixierte. Glühend rote Augen starrten ihn an, den Kopf dabei überdehnt, dass Thomas jetzt erst gewahr wurde, was er da eigentlich sah. Eine raubvogelartige Monstrosität.
„Thomas!“, brüllte ihm Tamara ins Gesicht. Ruckartig sah er zu ihr. Sein Blick blieb auf ihrem Dekolleté haften. Unter ihrem Schlüsselbein klaffte eine daumengroße Wunde, aus der Blut floss. Ihre zerrissenen Kleidungsreste waren blutgetränkt. Ehe er seine Gedanken ordnen konnte, rannten die beiden los durch den Park. Sie hetzten auf die Bushaltestelle zu, von der sie gekommen waren. Ohne sich umzudrehen eilten sie über die Straße, auf eine kleine Häuserfront zu. Zwischen zwei Häusern führte ein kleiner Weg hindurch, den sie ansteuerten. Das Hupen der Autofahrer nahmen sie nicht wahr. In der Ferne hörte Thomas das Fauchen dieses grotesken Raubvogels. Obwohl er bereits außer Atem war, stürmte er panisch weiter und hätte fast seine Begleiterin vergessen.
„Warte, ich kann nicht mehr.“, keuchte Tamara, während sie sich am Boden mit einem Knie am Boden stützte. Thomas stoppte den Sprint und keuchte sich selbst seine verteerte Lunge aus dem Hals. Er drehte sich zu Tamara und und riss seine Augen auf. Noch bevor sie fragen konnte, weshalb er sie so angsterfüllt anstarrte, stieß das geflügelte Tier von oben herab und griff sich mit seinen Krallen Tamara. Er bohrte sie tief in ihr Fleisch, riss sie ruckartig vom Boden und schleuderte sie durch die Luft. Blut sprühte am Himmel und vermischte sich mit dem Regen, der weiterhin unaufhörlich strömte. Thomas` Herz hörte auf zu schlagen. Er sah den dämonischen Raubvogel, wie er Tamara in Richtung Asphalt schleuderte und wutentbrannt krähte. Er riss seinen Kopf nach unten und blickte Thomas an. Dieser sah dem Vogel in seine lodernden Augen. Das Wesen hatte seine Krallen aufgestellt und schrie wie besessen am Himmel. Die gesamte Spannweite des pechschwarzen Vogels betrug locker die Höhe eines mehrstöckigen Familienhauses. Thomas konnte nicht fliehen. Seine Beine vermochten ihn nicht mehr zu tragen, seine Atmung schlug in ein Hecheln um. Dieser Höllenvogel stürzte nach unten, direkt auf Thomas zu. Kurz vor dem Aufprall fiel Thomas bewusstlos zu Boden.
„Guten Morgen, junger Mann. Sie müssen aufstehen, hier ist Endstation“. Ein Busfahrer, es war ein anderer als am Vorabend, stand neben dem Viererabteil und wartete geduldig auf eine Regung der beiden.
„Was? Wo bin ich? Wie?“, erwiderte Thomas. Plötzlich schossen die Gedanken an den Vogel in den Kopf und er raffte sich in Sekundenbruchteilen auf. Sofort bemerkte er Tamara, die neben ihm eingeschlafen war. Ihr Kopf war leicht gegen seine Schulter gelehnt. Sie hatte eine Schürfwunde an der Stirn. Von Eduard fehlte jede Spur.
„Nun, ich stehe schon seit einigen Minuten hier und versuche euch beiden aufzuwecken, aber bisher wenig erfolgreich“, sprach der Fahrer mit amüsierter Miene.
„Keine Angst, auch wenn man es mir nicht ansieht“ – der Busfahrer machte eine absichtlich lange Pause – „ich war auch einmal jung“. Er zeigte auf die kleine Dose, die Thomas von zuhause mitgenommen hatte. Der Deckel war offen und mehrere Pillen lagen am Boden. „Aber jetzt nehmt das bitte alles mit und dann raus aus dem Bus. Ich muss den hier abstellen und abschließen. Die Frühschicht, die später kommt, wäre vermutlich wenig begeistert, euch hier noch so vorzufinden. Ich glaube, die Polizei möchtet ihr genauso wenig hier haben, wie ich jetzt um diese Uhrzeit, ich habe nämlich jetzt Feierabend“. Mit einer gezielten Geste und einem zugezwinkerten Auge bat er die beiden nach draußen. Thomas sammelte alles ein, was er ungern im Bus hinterlassen wollte, weckte Tamara auf und sie verließen den Bus.
Thomas und Tamara schlürften eine Weile nebeneinander einher, bis sich ihre Wege trennten. Aufgrund ihres desolaten Zustandes sprachen sie nicht viel miteinander. Wie sich herausstellte, nahm auch Tamara eine Pille aus der kleinen Dose und schlief kurz darauf ein. Wo ihr Begleiter Eduard geblieben ist, wussten sie nicht.
Als Thomas etwas später seine Wohnungstüre aufsperrte, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Im Suff und Cannabisrausch hatten sie wohl alle vergessen, das große Flügelfenster im Wohnzimmer zu schließen. Es stand komplett offen. Es musste die komplette Nacht über hereingeregnet haben, denn der Laminatboden schlug bereits Wellen. Zettel wurden durch den Wind aufgewirbelt und lagen in der Wohnung verteilt. Seine alte Stehlampe lag am Boden, die Glühbirne zersprungen. Während Thomas sich daran machte, seine Wohnung noch vor dem Schlafengehen ein wenig aufzuräumen, lief er zu seinem Schreibtisch und öffnete die verschnörkelte Schublade. Seine Hand erstarrte. Die kleine Dose, die er in der Schublade verstauen wollte, fiel ihm aus der Hand. In der Schublade fand er eine große, schwarze Vogelfeder. Blut klebte daran.